Die politischen BürgerInnen im Persönlichkeitstest

Morgen erscheint das neue Grundlagenwerk zur politischen Psychologie in der Schweiz. Verfasst hat es Markus Freitag, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern. Editiert hat es NZZ-Libro. Hier mein Rezension.

9783038102762

Markus F. ist zweifelsfrei ein gewissenhafter Mensch. Und er ist offen für Neues. Neurotische Störungen zeigt er keine, extrovertiert ist er nicht. Am ehesten noch könnte man ihn einen meist verträglichen Kollegen nennen. So würde ich Forscher Markus Freitag, Professor für politische Soziologie an der Universität Bern beschreiben. Sich selber sieht er ausgesprochen ähnlich. Das spricht für ihn, und für seinen neuen Persönlichkeitstest!

Persönlichkeitsmerkmale der Schweizer und Schweizerinnen
Aus der langen Reihe von Untersuchungen zum menschlichen Charakter im 20. Jahrhundert übernimmt der Berner Politikwissenschafter ein kurzes Erhebungsinstrument mit 15 Eigenschaften, die zu 5 Faktoren der humanen Persönlichkeitsstruktur gebündelt werden. Den Test wandte er während 5 Jahren bei 14000 SchweizerInnen an, um nun zu folgern: Die „BigFive“, wie die internationale Forschung die standardisierten Persönlichkeitsprofile nennt, gibt es auch in der Schweiz. Allerdings kommen sie unterschiedlich stark vor. Und nicht alle Individuen haben nur einen hauptsächlichen Charakterzug. Die Schweizer und Schweizerinnen sind
• erstens gewissenhaft (46-56%),
• zweitens verträglich (28-39%),
• drittens offen für Neues (16-27%),
• viertens extrovertiert (14-19%) und
• fünftens emotional instabil (2-4%).
Am wenigsten überrascht Letzteres. Denn das Konstrukt im Frageraster enthält mehr als die anderen Faktoren negative Aussagen. Das erschwert die Zustimmung und führt zum klar tiefsten Messwert. Mit Neurotizismus, wie die Big-Five-Forschung das Phänomen nennt, assoziiert man zudem zu schnell Neurosen als seelische Erkrankung. “Emotional instabil ist da deutlich neutraler.
Abgesehen von diesem Label-Problem, die Forschungsergebnisse im neuen Buch des Berner Professors sind solide und haben es in sich. Die Theorieaufarbeitung ist nahe der internationalen Literatur und für die Schweiz weitgehend neu. Die Datenlage ist ausgesprochen beeindruckend. Deren Auswertungen sind sophistiziert, wenn auch für Nicht-Eingeweihte anspruchsvoll. Das Buch aus dem NZZ-Libro-Verlag ist zudem grafisch schlicht aufgemacht, die Texte sind verständlich und die Buchanlage zeugt von grosser Überlegenheit mit dem Stoff.

Der politologische Mehrwert
Der politologische Mehrwert des Buches leitet sich aus der für die Schweiz erstmaligen Analyse von Persönlichkeitsmerkmalen auf politische Einstellungen und Verhaltensweisen ab. Nicht ganz überraschend, sind die Daten namentlich bei der Analyse der Parteibindungen interessant. Die Psychologie hat hier seit 60 Jahren stets Brauchbares entwickelt. Mit der jetzigen Innovation wird diese auf eine neue Basis gestellt. Denn Freitag zeigt, wie Persönlichkeitsmerkmale weltanschauliche Positionen, Werthaltungen, ideologisierte Themen und Präferenz für eine bestimmte Mediengattung bestimmen.
Politikwissenschafter Freitag trifft da den Nerv der gängigen Forschung. Denn nach Jahren soziologischer und ökonomischer Untersuchungen von Wählenden beschleicht einen das Gefühl, weder rein rationalistische noch vorwiegend kontextuelle Analysen seien hinreichend. Die Zugehörigkeit zu Grossgruppen hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv gelockert, und die so befreiten BürgerInnen sind nicht einfach eiskalte Rechner geworden. Freitags These lautet: Mit der Säkularisierung und Individualisierung der Gesellschaft einerseits und der Medialisierung, Personalisierung und Emotionalisierung der politischen Kommunikation anderseits, werden Persönlichkeitsmerkmale für die politischen Orientierungen und die Parteienwahl wichtiger. Um Missverständnissen vorzubeugen:
Der Forscher macht zwei wichtige Einschränkungen: Erstens ist sein Vorgehen eine Ergänzung, nicht ein Ersatz zu bisherigen Erklärungen namentlich der politischen Soziologie, und zweitens, die aufgezeigten Zusammenhänge gelten nicht als absolute, sondern sind durchwegs statistisch signifikante Wahrscheinlichkeitsaussagen.
Und das sind Freitags parteipolitischen Prognosen:
• Gewissenhaftigkeit verweist auf eine Nähe zur SVP.
• Verträglichkeit macht eine Bindung an SP oder CVP wahrscheinlicher, nicht aber an die SVP.
• Offenheit für neue Erfahrungen begünstigt Sympathien zu SP oder Grünen, nicht aber zur FDP.
• Extraversion ist dagegen sowohl für die Identifikation mit FDP als auch GPS und SP von Bedeutung. Bei den Letzteren allerdings mit negativem Vorzeichen.
• Gering, aber vorhanden sind die Effekte der emotionalen Instabilität, namentlich bei CVP und SP-AnhängerInnen. FDPler erscheinen da belastbarer.
Das alles interpretiert Freitag als Vorboten der Parteientscheidungen, die er bei den Nationalratswahlen 2015 zusätzlich mit den Persönlichkeitsprofilen untersucht hat. Sein Fazit:
SVP-Wählende waren wenig offen, dafür beharrlich, wenig kompromissbereit, dafür durchsetzungsfähig. Am meisten wirkte die Gewissenhaftigkeit, gegenläufig die Verträglichkeit.
FDP-Wählende vereinen ihrerseits hohe Werte für Extraversion und Gewissenhaftigkeit, nicht aber Offenheit und Ängstlichkeit. Sahen sie eine Möglichkeit, auch SVP zu wählen, sticht diese die FDP namentlich bei den Gewissenhaften aus.
Die SP wiederum erhielt ihre Stimmen vermehrt von Menschen mit offener Persönlichkeit. Hinzu kamen verträgliche Personen, mit Hand zu Introversion.
Von der Offenheit der Menschen profitierten auch die Grünen. Dagegen nützten ihnen Gewissenshaftigkeit und Extraversion wenig. Anders als bei der SP war Verträglichkeit hier kein besonderer Wahlgrund.
Es bleiben die Parteien der Mitte. Da hält sich Freitag augenscheinlich zurück. Einmal weil es bei Parteien wie der BDP und der GLP schwierig sei, aufgrund von Umfragen eindeutige Persönlichkeitsmerkmale festzumachen. Sodann auch wegen des Parteiauftritts, wobei Freitag namentlich an die CVP denkt. „Fallen die sozialen Katalysatoren aus der Umgebung weg, kommt einem sichtbaren programmatischen Profil, das die eine oder andere Persönlichkeit anspricht und ein entsprechendes politisches Verhalten herauskitzelt, eine immer grössere Bedeutung zu“, so der Fachmann. Es mag sein, dass man hier weitersuchen muss. Spannend wäre sicher die Verbindung zu Jonathan Haiths Aufteilung der moralischen Kategorien Progressiver in Freiheit, Fairness und Fürsorge, während Konservative Reinheit, Autorität und Loyalität als Prinzipien bevorzugen.

Das neue Standardwerk
Markus Freitag legt zweifelsfrei das bisherige Schweizer Standardwerk zum neuen Forschungsfeld der Politikwissenschaft vor. Der Platz auf der obligatorischen Vorlesungslektüre in der politischen Einstellungsforschung ist gesetzt. Das Buch dürfte sich im akademischen Bereich dann auch rasch etablieren. Für mich ist klar: Ich werde neu eine Doppelstunden “Politische Psychologie” in meine Vorlesung zur Wahlforschung einbauen. Thematisch birgt es Potential, auch ausserhalb der Universität, namentlich bei Werbenden, Medienplanenden und PolitcampaignerInnen, Verwendung zu finden.
Der Autor betont, in den vergangenen 5 Jahren aus wissenschaftlicher Neugier geforscht zu haben. Offen für neue Erfahrungen eben, gepaart mit der Gewissenhaftigkeit eines Professors. Als sich der Lehrstuhlinhaber dem neuen Thema annahm, ahnte er selbstredend nicht, in welche Fahrwasser er damit geraten könnte. Denn auch CambridgeAnalytica, im Winter 2016/17 vom „Magazin“ der Tamedia-Gruppe medienwirksam verdächtigt, Wesentliches zum Sieg von Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen geleistet zu haben, arbeitet mit dem OCEAN-Modell. Das ist nichts anderes als der englische Name für das von Freitag verwendete BigFive-Instrumentarium.
Anders als die Marketingleute der Republikaner, die mit BigData aus dem Internet gearbeitet haben, ist Freitag bei der Datenbeschaffung konventionell vorgegangen. Er hat repräsentative Bevölkerungsbefragungen eingesetzt, und die Ergebnisse auf der individuellen Ebene anonymisiert. Das macht die direkte Nutzung für Microtargeting unbrauchbar. Dennoch, seine Resultate dürften die hiesige Wahlkampfkommunikation 2019 beeinflussen. Denn sie sind geeignet, die in der Schweiz unterentwickelte psychografische Segmentierung der Wählerschaften besser als bisher vornehmen zu können.

Ein kleiner Ausblick
Ob mit dem neuen Buch die Schweizer “Psyche des Politischen” bereits freigelegt wurde, glaube ich nicht. Dem Werk hätte ich den Titel gegeben: „Die politischen BürgerInnen im Persönlichkeitstest. Was die Politik daraus für Schlüsse ziehen kann“. Das bekommt man mit dem neuen Buch einwandfrei geliefert, wenn man den Band kauft. Wer ihn auch liesst, merkt schnell, dass die Lektüre das Bewusstsein für Persönlichkeitsmerkmale politisch denkender und handelnder Menschen schärft. Freitag tönt denn auch an, seinen Bürgertest zum Politikertest ausarbeiten zu wollen. Das wäre meines Erachtens sinnvoll, um zu verstehen, ob offene oder gewissenhafte BürgerInnen PolitikerInnen bevorzugen, wie sie sind, oder doch den Hang haben Extraversion als Charaktereingenschaft vieler PolitikerInnen wählen.

Claude Longchamp
(gewissenhaft, offen für Neues, emotional leicht instabil, immer weniger extravertiert und beschränkt verträglich)

Markus Freitag: Die Psyche des Politischen. NZZ Libro, Zürich 2017.