Wo SVP und SP dank Polarisierung gewinnen – und wo sie verlieren

Wo auf der Links/Rechts-Achse haben die grössten Parteien in den letzten Monaten gewonnen, wo haben sie verloren.

Einige Ueberlegungen
Polarisierung ist das grosse Stichwort der Wahlanalyse in der Schweiz der letzten 20 Jahre. Begonnen hat alles mit den Folgen der EWR-Entscheidung 1992. Von 1995 bis 2003 formierten sich sowohl der linke wie auch der rechte Pol in der Parteienlandschaft und legten SVP, SP und GPS bei Nationalratswahlen zu, 2007 war dies noch bei der SVP und der GPS der Fall.
Erst 2011 kam die Gewinne für Polparteien gar nicht vor, denn die “neue Mitte”, bestehend aus BDP und GLP, traten neu auf und wurden sie stärker.
Unabhängig von den Wirkungen der Polarisierung auf die Parteistärke ist die Polarisierung zum festen Bestandteil des medialen Diskurses über Parteien geworden. Schwarz/Weiss-Schematisierungen haben in der Berichterstattung haben zugenommen. Typisch hierfür ist, dass sich in zentralen Frage meist schroff unterschiedliche Positionen gegenüber stehen: Pro oder Kontra Asylsuchende aus Eritrea, für oder gegen den Ausstieg in der Atomenergie, Ja oder Nein zu Eveline Widmer-Schlumpf.
Parteipolitische Protagonisten sind in aller Regel die SVP und die SP, bisweilen auch die GPS. Zwar vermeiden sie heuer die direkte Interaktion vielfach, doch sind ihre Vorschläge häufig so formuliert, dass sie von der Gegenseite nicht unterstützt werden können. Neu ist 2015, dass sich vor allem FDP und SP duellieren, um im klassischen Konflikt zwischen Staat und Markt an Profil zu gewinnen.

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Einige Befunde

Die nebenstehende Grafik zeigt exemplarisch, was die Folgen der Polarisierung im Wahlkampf sind. Stellvertretend für andere haben wir die SVP und SP als die grössten Polparteien ausgesucht. Dargestellt werden die Wählerschaften beider Parteien auf der Links/Rechts-Achse. Dabei handelt es sich um eine Selbsteinschätzung der eigenen Position auf dem zentralen Konstrukt für die politische Einteilung.
Die fette rote und grüne Linie zeigt die Verteilung im Wahlbarometer vom Juni 2015, der jüngsten Erhebung hierzu. Hinzu kommt der Mittelwert für die Eigenpositionierungen. Die schmale grüne resp. rote Linie deutet die Verteilung im September 2014 an, der letzten Erhebung bevor Aktivitäten zu Wahlkampf einsetzten. Auch hier gibt es einen Mittelwert.

• Die erste Aussage lautet: Die Polarisierung der Wählerschaften von SVP und SP hat im Verlaufe des letzten Jahres zugenommen. Der Mittelwert hat sich jeweils um rund einen halben Punkt weg von der Mitte verschoben.
• Die zweite Bemerkung ist: Stark gewandelt haben sich die Parteistärken dabei nicht. Die SVP ist von 25 auf 26 Prozent gestiegen; die SP von 20 auf 19 Prozent gesunken.
• Schliesslich der dritte Befund: Verändert hat sich das denkbare Elektorat beider Parteien. Denn die SVP ist bei Wählenden mit einer Position von 8-9 stärker geworden, bei Werten darunter indessen schwächer. Bei der SP gilt ersteres für Werte von 1-3, nicht aber darüber.

Einige Folgerungen
Was folgt daraus? Die Polarisierung der Wählerschaften auf individuellem Niveau findet auch 2015 statt. Ob auch das Parteiensystem an den Polen gestärkt wird, bleibt allerdings unsicher. Die grossen Polparteien kennen einen vergleichbaren Effekt: Sie legen bei klar positionierten Wählenden zu, verlieren aber gegen die Mitte. Die Bilanz ist bei der SVP möglicherweise positiv, bei der SP vielleicht negativ. Hauptgrund ist, dass die SP nicht in die Mitte reicht, die SVP jedoch hier einen minimalen Sukkurs behält.
Von einer weiteren Polarisierung im Wahlkampf 2015 kann sich die rechte Polpartei Vorteile versprechen, denn sie nähert sich im Wahlbarometer den Werten früherer Wahlen. Allerdings, auch sie überlässt gemässigtere WählerInnen den Parteien, die stärker im Zentrum angesiedelt sind. Diesmal sind es die FDP, CVP und BDP. Schwieriger noch ist es für die SP, aus der Polarisierung Gewinne zu erzielen. Nicht nur ist die Bilanz eher negativ, links hat sie keine hegemoniale Stellung, denn die GPS ist hier in vielen Kantonen die Konkurrenz. Die SP könnte letztlich nur Punkten, wenn sie ihre Bindungsfähigkeit im Mitte/Links-Lager Aufrecht erhält, dort, wo sie von GLP und CVP konkurrenziert wird.

Claude Longchamp

Meinungsverstärkung, Meinungsaufbau, Meinungswandel – neue Einsichten zu Wahlkampagnen

Parteiidentifikation ist das entscheidende Konzept in der Wahlforschung. Als theoretisch relevante Ansatzpunkt werden die Bindung an die Partei als Ganzes, aufgrund ihres Personals oder ihrer programmatischen Aussagen gesehen. Im Beitrag zum neuen Sammelband “Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz” sind Cloe Jans und ich der Frage nachgegangen, wie sich Wahlkämpfen auf die Meinung zur Parteien auswirken.

Eine Neuinterpretation der Daten zu den Nationalratswahlen 2011 führte uns zu drei Indikatoren:

. die Meinungsverstärkung,
. der Meinungsaufbau und
. die Verhinderung von Meinungswandel.

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Meinungsverstärkung baut auf einer mehr oder weniger gefestigten Parteibindung bei Wählenden auf. Sie muss frühzeitig vor einer Wahl reaktiviert und gestärkt werden. Meist braucht es hier keine programmatische Ueberzeugungsarbeit mehr, doch muss der Kitt an die Partei emotional erneuert werden. Die Stimmung im Wahlkampf zählt dazu, Spitzenkandidatinnen im Kanton können massgeblich sein, aber auch der direkte Kontakt zwischen Partei und Wählenden können die Prädisposition, eine bestimmte Partei bevorzugt zu wählen, stärken.
Meinungsaufbau meint, dass punktuelle Beziehungen zwischen Wählenden und Parteien entwickelt werden können, im Idealfall bis zu einer neuen Parteibindung. Die lockersten Meinungen zu Parteien haben wir in der Schweiz zu Personen, insbesondere wenn wir bereit sind, Kandidatinnen verschiedenster Partei zu wählen. Hinzu kommt, dass man für Parteien auch in einer Sachfrage eine Präferenz haben kann, ohne gleich die ganze Partei zu unterstützen.
Schliesslich geht es in einem Wahlkampf darum, bisherige Wählenden von einer Aenderung der früheren Wahlentscheidung abzuhalten. Das kann bezüglich des bisherigen Parteientscheides der Fall sein, aber indem man die bisherige Teilnahme ernsthaft in Frage stellt.
Man kann alles drei Indikatoren zu einem übergeordneten Konzept zusammenfassen, und diese Mobilisierungsfähigkeit nennen.

Die Re-Analyse der Nationalratswahlen 2011 legt nahe, dass die SVP alle drei Aufgaben am besten gelöst hat. Ihre Art der Kampagnenführung ist am ehesten geeignet, vorhandene Meinung zu stärken, zu entwickeln und eine Aenderung von Meinungen zu verhindern. Letzteres können alle Parteien, unabhängig von ihrer Stimmenstärke ähnlich gut. Bei der Meinungsverstärkung und dem Meinungsaufbau gibt es aber erhebliche Unterschiede. So ist die Mobilisierung bestehender Parteibindungen namentlich bei GLP, BDP und GPS weiter unterdurchschnittlich, während dies bei CVP, FDP und SP im Mittel erfolgt, aber deutlich schwächer ist als bei der SVP. Der Meinungsaufbau gelingt nach der SVP der SP noch einigermassen, während dies bei allen anderen Parteien zurückbleibt.
Auf einem Index, bei dem jede Partei bei jedem Indikator 100 Punkte holen konnte, kam die SVP im Schnitt auf sensationelle 82. Die SP erreichte 57, die FDP 56 und die CVP 55 Punkte. Deutlich geringer lag das Mittel bei GPS (41), BDP (38) und GLP (31).
Mit anderen Worten: Die SVP löst die Mobilisierungsaufgaben sensationell gut, die grösseren Parteien im Mittel, und die kleineren verschenken, trotz gelegentlichen Wahlerfolgen viel.

Nun fiel uns auf, dass der Mobilisierungserfolg in erheblichem Masse vom finanziellen Mitteleinsatz abhängt. Denn zwischen Mitteleinsatz, Mobilisierungsleistungen und Wahlerfolg gibt es einen Zusammenhang. Erklärt werden können sie kaum Veränderungen im Stimmanteil, aber die Stärke der Partei unter den Wählenden insgesamt. Es lassen sich drei Hypothesen vermuten:
. Je höher der finanzielle Mitteleinsatz ist, umso eher kann sich eine Partei eine ausgedehnte Vorkampagne leisten, mit Folgen insbesondere für die Meinungsverstärkung.
. Je höher der Mitteleinsatz bei rechten Partei ist, umso eher gelingt, bestehende Meinungen zu verstärken.
. Je höher der Mitteleinsatz bei einer Polpartei ist, umso eher gelingt der Meinungsaufbau an den Polen.

Wir interpretieren die Abhängigkeiten nicht streng kausal, vermuten aber temporale Zusammenhänge. Politische Kommunikation ist in der Schweiz einem starken Wandel unterworfen, indem Finanzierung, Medialisierung und Professionalierung der Partei-Wählenden-Beziehung zunehmen. Der Trend kommt von rechts, hat die entsprechenden Parteien früher und stärker erfasst, dehnt sich aber immer weiter aus.

Claude Longchamp

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Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz

Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz – Buchbesprechung der Neuerscheinung

Gerade rechtzeitig vor den nächsten Parlamentswahlen erscheint im NZZ-Verlag das Buch „Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz“. Editiert wurde der Sammelband von Markus Freitag und Adrian Vatter, Direktoren des Berner Instituts für Politikwissenschaft. Präsentiert wird der state-of-the-art in der Schweizer Wahlforschung.

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In der Einleitung schreiben die Herausgeber, die Parteienlandschaft der Schweiz habe sich in den letzten 20 Jahren grundlegend verändert. Sichtbarstes Zeichen sei der Aufstieg der SVP. Damit verbunden hätten sich die prägenden Konfliktlinien des Parteiensystems erweitert; namentlich sei der Gegensatz zwischen einer offenen und verschlossenen Schweiz hinzugekommen. Relativiert worden seien damit die Grundlagen der Parteien aus der Industrialisierung.
In der Tat, das Parteiensystem wirkt heute einerseits postindustriell, anderseits mediendemokratisch. 13 Beiträge, die Freitag und Vatter aufgrund einer Institutstagung zu Beginn des Wahljahres versammelt haben, geben hierzu in unterschiedlich tiefem Masse Auskunft.
Die Herausgeber, vor allem an der Entwicklung der Wahl-Forschung interessiert, haben sie in zwei Gruppen gegliedert: neue Fragestellungen für die Schweiz und neue Befunde zu bestehenden Themen.

Innovationen
Zur ersten Gruppe zählt zweifelsfrei der gelungene Beitrag von Isabelle Stadelmann-Steffen und Karin Ingold zur Entstehung der GLP. Aufgrund eines breiten Materials aus dem Parteiprogramm und Wählerbefragungen suchten sie das Alleinstellungsmerkmal der jungen Partei. Ähnlich wie die bürgerlichen Parteien stünde die GLP sozialen Umverteilungen skeptisch gegenüber; befürwortet würden nur ökologische Steuern, schreiben die Autorinnen. Soziale Investitionen befürworte die Partei ebenso wie die Linke, betone aber die Nachhaltigkeit von Investitionen stärker. In Ökologiefragen stimme die GLP anders als bürgerliche Parteien dem Ausstieg aus der Atomenergie zu, setze dabei, anders als linke Parteien, auf marktorientierte Lösungen. Schliesslich nähme die Partei eine kulturell-liberale Haltung ein; vor allem die Basis werde dadurch geprägt, während die Parteikader mehr Zurückhaltung zeigten. Grundsätzlich fülle die GLP eine Lücke, und dies nicht nur im Umweltbereich. „Negativ ausgedrückt ist die GLP weder richtig grün noch richtig liberal. Positiv ausgedrückt ist sie beides ein bisschen.” Originell ist der Beitrag, weil dieser die Partei mehrdimensional verortet, die Abgrenzung als Definitionskriterium verwendet und dennoch differenziert urteilt. Das drückt sich auch in der Warnung der Autorinnen aus, denn das bewusste Anders-sein-wollen der GLP berge auch die Gefahr in sich, alle denkbaren Allianzpartner aufs Mal zu verärgern, womit die Rolle der Mehrheitsbeschafferin bald einmal infrage gestellt werden könnte.
Die wahlbezogenen Möglichkeiten und Grenzen kleiner Parteien untersucht vertieft Adrian Vatter. Erstmals wird eine Gesamtübersicht über die institutionellen Voraussetzungen der Parteien unternommen. Die massgeblichen Stichworte sind die Wahlkreisgrösse und die Listenverbindungen. Ersteres nütze den grösseren Parteien und schade mit vergleichsweise hohen Eintrittsschwellen der Entstehung kleinerer Parteien. Parteien wie die GPS oder die EVP gehörten zu den Verlierern des föderalen Wahlrechts. Zweiteres, ursprünglich als Ausgleich gedacht, hänge stark von der taktischen Nutzung ab, die Mitte-Links adäquater gehandhabt werde, sodass insbesondere die SVP und FDP regelmässig Sitze verlieren würden. Am meisten überbewertet sei im Nationalrat die SP. Abhilfe ortet der Autor in erster Linie anhand einer Wahlrechtsreform, welche die Disproportionalität verringern würde.
Einen ganz anderen Weg der Wahlforschung beschreiten zwei Beiträge zur Psychologie der Wählerschaft. Gemäss Anja Heidelberger und Rolf Wirz beeinflussen prosoziale Einstellungen die heutige Wahlbeteiligung negativ, Extraversion jedoch positiv. Der Zusammenhang sei zwar nicht direkt; indirekt wirke er sich aber vor allem via ein verstärktes politisches Interesse, gepaart mit Netzwerken, Wissen und Pflichtbewusstsein der Extravertierten aus. Kathrin Ackermann und Markus Freitag wenden die dahinter steckende Typologie der Persönlichkeitsmerkmale auf die Wählerschaften der Parteien an. Verträglichkeit sehen sie vor allem bei der CVP-Basis vertreten, Offenheit für neue Erfahrungen finde sich bei den grünen Wählerschaften, Gewissenhaftigkeit bei der SVP und emotionale Belastbarkeit bei der SP. Die FDP-Wählenden schliesslich sehen sie durch fehlende Prosozialität gekennzeichnet. Die Autorinnen betonen, die psychologischen Eigenschaften der Wählerschaften seien klarer unterschiedlich als die demografischen.
Angefügt sei hier auch der profunde Beitrag von Mathias Fatke und Markus Freitag zur Nicht-Wählerschaft in der Schweiz. Aufgrund übergeordneter Überlegungen identifizieren die Forscher sechs Typen von BürgerInnen, die ihre Stimme bei Wahlen nicht abgeben. Desinteresse, Überforderung und Politikverdruss sind die hauptsächlichen. Ein Drittel der Wahlberechtigten lässt sich so charakterisieren. Weniger häufig, aber erwähnenswert ist zudem die soziale Isolierung als Abstinenzgrund sowie die Präferenz für Volksabstimmungen resp. andere Formen der politischen Partizipation. Namentlich die Mobilisierung der Unzufriedenheit mit der Schweizer Politik vor Wahlen stellt für gewisse Parteien ein Potenzial dar, ihre Stärke zu beeinflussen.

Weiterführungen
Wenn damit im Sammelband programmatische Eigenschaften von Parteien, institutionelle Rahmenbedingungen und Persönlichkeitsmerkmale der Wählenden exemplarisch neu beleuchtet werden, kreist die Mehrzahl der Beiträge rund um die Frage, was die Wahlerfolge der SVP ausmache. Anita Manatschal und Carolin Rapp untersuchen hierfür deren Wählerschaft im Zeitvergleich. Ihr Schluss: Die Partei habe ihre Basis im 21. Jahrhundert auf dem Land, in den unteren Schichten und jüngeren Generationen erweitern können, ohne Verlust der Kernwählerschaft im reformiert-konservativen Milieu. Entscheidend sei die thematische Erneuerung, namentlich die konsequente Anti-EU-Haltung und die Bevorzugung der einheimischen vor der zugewanderten Bevölkerung. Personifiziert worden sei diese Akzentsetzung mit der Figur Christoph Blocher, was den Aufbau neuer Parteibindungen erst ermöglich habe. Unsicher sind die Autorinnen bezüglich der Zukunft, denn die vorhandenen rechten Potenziale seien weitgehend ausgeschöpft, und gegen die Mitte sei mit der FDP eine Konkurrenz erwachsen.
Klaus Armingeon und Sarah Engler nehmen sich im internationalen Vergleich den programmatischen Präferenzen der SVP an. Auch sie stellen fest, die Selektion neuer WählerInnen gelinge der Partei mittels Polarisierung zwischen einer verschlossenen und offenen Schweiz am besten. Die Wählerschaft der Schweiz sei jedoch nicht fremdenfeindlicher als diejenige vergleichbarer Staaten. Die Stärke der SVP basiere darauf, früher als anderswo eine bewusste Strategie der Neupositionierung von oben vorgenommen zu haben, um entstehende Unzufriedenheit gezielt anzusprechen.
Dazu passt, was Daniel Schwarz und Jan Fivaz zum Vergleich von Gewählten und Wählenden schreiben. Gemäss ihrem Elite/Basis-Vergleich legen sie nahe, dass die Parteirepräsentanten heute polarisierte Positionen vertreten als die Wählerschaften. Begründet sehen sie dies im Wissen der Wählenden, dass in der Schweiz keine Partei alleine regieren kann, weshalb man weniger bestimmte Positionen wähle, vielmehr am Ende des Wahlkampfes die gewünschte Richtung akzentuiert unterstütze. Gemeinsam mit Cloe Jans ist der Schreibende den kommunikativen Gründen hierfür nachgegangen. Demnach mobilisiere die SVP wie keine andere Partei ihre Potenziale, weil sie Meinungen der bestehenden Wählerschaften systematischer als andere verstärke und denkbare Wählerschaften besser aufbaue als dies andere Parteien machen würden. Schliesslich sei es der SVP gelungen, mögliche Abwanderungen geeigneter zu verhindern. Hauptgrund seien die lang gezogenen Kampagnen der Partei; auffällig sei der dafür nötige finanzielle Aufwand für Werbung.

Systematisierungen
Erwähnt seien hier noch zwei Beiträge, die einen Beitrag zur Systematik der Ergebnisse aus der Wahlforschung leisten. Maya Ackermann und Sara Kijewski stützen sich dabei auf das gängige, sozialpsychologische Modell der Wahlforschung. Die empirische Anwendung bestätigt die vorrangige Bedeutung mentaler Parteibindungen für den Wahlentscheid. Hinzu kommt die Identifikation via Themenorientierung, die namentlich an den Polen massgeblich ist, und jene über Personenbindungen, die Mitte-Rechts von erhöhter Bedeutung ist. Marc Bühlmann, gemeinsam mit Marlene Gerber, ordnet die Gründe der Parteientscheidungen bei Wahlen in die sozialen Voraussetzungen ein. Betont wird, dass nebst der SVP auch die SP ihre Basis verändert habe. Gelungen sei der Vorstoss in die neuen Mittelschichten, allerdings zum Preis, den Kontakt zur Arbeiterschaft verloren zu haben. Die weiteren Veränderungen sehen die AutorInnen weniger im gesellschaftlichen Wandel begründet, sondern mehr im thematischen Wandel der Schweizer Politik: Hervorgehoben werden dabei die Zuwanderungsfrage und der Ausstieg aus der Kernenergie als Kennzeichen des Wertewandels. Ersteres habe die Parteibindungen rechts der Mitte ausgerichtet, zweiteres links der Mitte.

Bilanz
Der neue Sammelband dokumentiert vor allem die Entwicklungen der Schweizer Wahlforschung. Theoretisch hat sie in den letzten zwanzig Jahren den Anschluss an die internationale Forschung gefunden. Konzeptionell ist sie dabei, die allgemeinen Erkenntnisse auf die schweizerischen Voraussetzungen runter zu brechen. Empirisch wächst die Datenbasis von Wahl zu Wahl auf beeindruckende Art und Weise. Verbreitert hat sich auch die personelle Basis der Wahlforschung, verbunden mit einer thematischen Ausweitung. Das alles sind Verbesserungen. In den Hintergrund gerückt sind aber übergeordnete Fragestellungen der Politik: Was bedeuten Parteien und Wahlen heute? Was leisten sie für das Land, wo versagen sie?
Sicher, der neue Sammelband reflektiert vor allem die Wahlforschung in Bern. Deren Schwerpunkte sind institutionelle Themen, die politische Soziologie und neuerdings auch Psychologie. Politökonomische Fragen genauso wie Medienanalysen, fehlen dagegen weitgehend.
Typisch bleibt auch mit diesem Buch, dass Wahlforschung in der Schweiz die Erforschung von Nationalratswahlen meint, mit ihrem Schwerpunkt bei der Parteienbildung und den Ursachen für den Parteienwandel. Der Erkenntnisgewinn für die ebenso bedeutsamen Ständeratswahlen bleibt dabei zurück. Last but not least, Wahlforschung, wie sie mit dem aktuellen Sammelband dokumentiert wird, ist rückwärtsgewandt. Symptomatisch dafür ist, dass Prognosen für 2015 und darüber hinaus letztlich ganz ausbleiben.
Einige der Beiträge sind in verwandter Form bereits in Tages- und Wochenzeitungen besprochen worden. Nicht immer gelang dabei eine unverkürzte Darstellung resp. Rezeption. Der ausführliche Sammelband bietet Interessierten an der Empirie zu Schweizer Wahlen, ab morgen die Möglichkeit, sich direkt zu informieren.
Der hier besprochene Wälzer ist mit Anhang und Literaturverzeichnissen fast 500 Seiten dick. Wenn diese inhaltlich gelungen erscheinen, kann man das nicht von jeder grafischen Umsetzung sagen; das bleibt denn auch die einzige Schwäche. Dass sich das Buch dennoch schnell verarbeiten lässt, hat mit den strikten Vorgaben für den Aufbau der Beiträge zu tun. Diese erleichtert es Interessierten aus Wissenschaft und politischer Praxis, systematisch die Ergebnis- und Erkenntnisgewinne zu identifizieren. Der strenge Fahrplan für das ambitiöse Projekt hat es zudem ermöglicht, den Forschungsstand just eineinhalb Monate vor den nächsten Wahlen greifbar zu bekommen. Mit Sicherheit ein erster Wahlgewinn(er)!

Claude Longchamp

Twitter-Potenziale für den Wahlkampf der Parteien

Wie sind die Kandidatinnen für den National- oder Ständerat auf Twitter präsent? Wer hat grossen Potenzial, bei einer Parteibewerbungen zu punkten? Eine Netzwerk-Analyse.

Ein Forschungsteam von gfs.bern hat mit dem Programm R eine systematische Twitter-Recherche nach KandidatInnen für die anstehenden Wahlen erstellt. Kombiniert mit bestehenden Listen für Twitter-Accounts nach Parteien und Kantonen legt dies gut 650 eindeutig identifizierbare Konten von BewerberInnen offen; gut 600 gehören einer Bewerbung für den Nationalrat, rund 50 einer für den Ständerat. Stichtag war der 1. August 2015.

Die neue Datenbank lässt erste Schätzungen zur Verbreitung der BewerberInnen in diesem sozialen Netzwerk zu. Demnach gehören 22 Prozent der Konten einer SP-Kandidatur. Die FDP.DieLiberalen bringen es auf 16, die GPS auf 14 Prozent. Es folgen die CVP mit 12 und SVP mit 11 Prozent. GLP und BDP kommen auf je 9, die EVP auf 4 Prozent.


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Im soziale, ökologischen und liberalen Umfeld vermehrt Kandidaturen

Die Zahlen für Kandidaten-Accounts decken sich nur bedingt mit den bisherigen Parteistärken resp. KandidatInnen-Anteilen. Das hat namentlich mit der Twitter-verbreitung zu tun, die im urbanen Umfeld verstärkt ist. Deshalb sind soziale, liberale und ökologische Twitterer tendenziell über-, konservative eher untervertreten. Kleinparteien, die oft Mühe haben, in Massenmedien gebührend berücksichtigt zu werden, kompensieren dies mit vermehrter Twitter-Aktivität. Uebrigens: Die SVP würde viel besser abschneiden, wenn man Facebook analysieren würde.
Der Mangel an Abbild von Stärkeverhältnisse schwindet, wenn man sich die Frage stellt, welches die KandidatInnen mit dem grössten Potenzial sind, ihre politischen Standpunkte innerhalb der Partei zum Ausdruck zu bringen. Darstellen lassen sich die Ergebnisse hier als Netzwerke der Kandidierenden einer Partei. Die nebenstehenden Grafiken leisten das. Wer im Zentrum ist, hat viel Potenzial, wer peripher erscheint wenig. Um in den nachstehenden Grafiken die Übersicht zu wahren, beinhalten sie je Partei maximal 50 Konten – die mit den meisten Follower.


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Sprache als zentrale Barriere – mit BrückenbauerInnen
Zunächst fällt auf, dass der Aufbau einer parteispezifischen nationalen Twittersphäre fast überall durch die Sprache begrenzt wird. Vor allem zwischen den deutsch- und französischsprechenden KandidatInnen ist die Spaltung auffällig. Typischerweise kennen die meisten Parteien Brückenbauer, die über die Sprachregionen hinaus zahlreiche Follower haben: Bei der SP sind diese J.-Ch. Schwaab, M. Reynard und M. Carobbio. Bei der GPS ist dies Pierre-Alain Jaquet, gefolgt von Co-Präsidentin A. Thorens. Bei der CVP seien die Nationalräte Y. Buttet und D. de Bumann erwähnt. Zudem twittert Generalsekretärin B. Wertli als eine der wenigen KandidatInnen recht systematisch zweisprachig. Keine speziell herauszuhebende Figur gibt es bei der FDP.DieLiberalen. Die Jungfreisinnigen M. Barone und V. Brune sowie Vize-Präsidentin I. Moret erfüllen die Bedingungen. Die Parteispitze der Waadtländer Jung-SVP, speziell Y. Ziehli, hat bei dieser Partei eine ähnliche Position. Schwieriger ist es, diese Rolle bei BDP und GLP dingfest zu machen. Hier mangelt es in den Sprachminderheiten an erkennbaren Twitter mit viele Follower über die Sprachgrenzen hinweg.


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Kern an MultiplikatorInnen- je nach Partei unterschiedlich geballt
Bei den meisten Parteien findet sich ein eigentlicher Kern denkbarer Multiplika-torInnen. Am ausgeprägtesten ist dies bei der SP der Fall. Die Parteispitze ist mit Ch. Levrat, F. Molina und Y. Feri gut vertreten. Bei der SP gibt es aber zahlreiche Personen darüber hinaus, insbesondere C. Wermuth und D. Roth, die ihre Position als frühere JUSO-Präsidenten nutzen können, aber auch S. Leutenegger Oberholzer und J. Badran von der Fraktion. Den parteiinterne Twitter-Leader haben bei der GPS B. Glättli, B. Girod und A. Trede inne; zu ihnen stösst auch die Regula Rytz, die Co-PräsidentInnen. Bei der FDP.DieLiberalen sind dies eindeutig Ch. Markwalder und Ch. Wasserfallen, letzterer Vizepräsident und damit ranghöchster FDP-Twitter, da Ph. Müller nicht präsent ist. Letzteres gilt auch für T. Brunner bei der SVP. Zwar hat er ein Konto, doch bewirtschaftet er es seit langem nicht mehr. So bilden N. Rickli, Ch. Mörgeli und L. Reimann von der SVP-Fraktion und O. Straub resp. A. Liebrand von der jungen SVP die Twitter-Spitze. Unbestritten im Zentrum der CVP findet sich die Generalsekretärin B. Wertli, umgeben von K. Riklin, B. Schmid-Federer, J. Wiederkehr. An sich wäre auch Ch. Darbellay dabei, doch kandidiert er 2015 nicht mehr. Einfacher sind die Verhältnisse bei den übrigen Parteien: Nationalrat B. Flach bildet bei der GLP das Zentrum, und Parteipräsident M. Landolt steht bei der BDP hierfür.


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Deutlich wird mit der Netzwerk-Analyse eine formelle wie auch informelle Parteispitze auf Twitter: Bisweilen sind die PräsidentInnen oder Stellvertreterinnen im Zentrum, bisweilen sind es aber auch die eigentlichen Twitter-Crack, die sich langfristig in den sozialen Netzwerken platziert haben, die führend sind. Sie bilden die grössten Potenziale, um auf Twitter den Parteienwahlkampf in Gang zu setzen oder zu halten.
Allerdings ist mit dieser Aufstellung noch nicht gesagt, ob die Aufgeführten effektive Beeinflusser sind oder nicht. Denn das hängt auch von ihrer Aktivität auf Twitter ab, speziell der Zahl der Beiträge und der Interaktionen. Da zentrale Personen im Juli ganz offensichtlich Ferien gemacht haben und Twitter-passiv waren, wird dies eine Wiederholung der Analyse mitten im Wahlkampf aufzeigen können.

Claude Longchamp

PS: Sollten wir eine Bewerbung übersehen haben, bitte wir um Nachsicht. Eine DM auf Twitter oder mail auf info@gfsbern.ch genügt, und wir werden Sie beim nächsten update berücksichtigen.