Lautsprecher & Widersprecher. Roger Blums Ansatz zur Analyse der Mediensysteme der Welt

Kann man Mediensysteme miteinander vergleichen? Ja, sagt Roger Blum. Zu den Voraussetzungen zählt der emeritierte Professor für Medienwissenschaft an der Uni Bern allerdings, auf nationale Systeme anzustellen, Medien vor allem in Bezug auf Politik zu untersuchen und mit Abweichungen vom Typischen umgehen zu lernen. Wer dies beherzigt hat, kann auf einem breiten Forschungsfeld viel Neues herausfinden, wie das Buch „Lautsprecher&Widersprecher. Ein Ansatz zum Vergleich der Mediensysteme“, 2014 im Kölner Halem Verlag erschienen, eindrücklich belegt.

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Hohe Verständlichkeit
Roger Blums “Lautsprecher & Widersprecher” ist zuerst ein Text. Die 400 Seiten seines Lebenswerkes sind hervorragend geschrieben. Vor allem der analytische Teil hat Uebersichtstabellen, die man gerne verdankt, denn sie bündeln die breite Information der 23 Länderstudien.
Plakativ ist letztlich nur der Titel: Medien, ganz im Dienst der staatlichen Macht, sind „Lautsprecher“. Wo Medien eine kritische Distanz zu Regierenden haben, werden sie “Widersprecher“ genannt.

Pole im Kontinuum und viel Zwischenraum
Blum interessiert sich für Mediensysteme, ihre Funktionen und ihre Strukturen. Deshalb lebt das Buch von der Idee des Modells. Sechs davon stellt der Autor vor: selbstredend das liberale, geprägt vom Widersprecher, und das Kommando-Modell, vom Lautsprecher bestimmt. Dazwischen ordnet er das Public-Service-, Klientel-, Schock- und das Patrioten-Modell ein.
Zum liberalen Modell zählt Roger Blum Mediensysteme wie das der USA. Grossbritannien ist der Massstab für das Public-Service-Modell. Italien wiederum gehört typischerweise zum Klientel-Modell. Das Schock-Modell trifft auf Russlands Mediensystem zu. Im Iran sieht der Autor das Patrioten-Modell verwirklicht, und Nordkorea wird beim Kommando-Modell untergebracht.

Systematische Klassierungen
Die Klassierungen sind nicht Blums Meinung über die Mediensystem der Länder; sie entstehen aus der harten, qualitativen und quantitativen Arbeit an der Differenz der Mediensysteme. 11 Indikatoren wurden hierzu entwickelt.
Blums Benchmark ist das liberale Modell. Es ist durch Kontinuität in der historischen Entwicklung gekennzeichnet. Hinzu kommt der Einfluss des Regierungssystems, demokratisch nicht totalitär. Die politische Kultur wird zwischen Polarisierung und Konsens eingeteilt. Die Rolle des Staates lässt sich am Grad der Kontrolle ablesen. Die Zensurfrage wiederum ist für die Medienfreiheit entscheidend. Die Dominanz von privaten resp. öffentlichen Sendern legt den Medienbesitzes fest. Die Medienfinanzierung hängt davon ab, ob das Geld markt- oder staatswirtschaftlich organisiert wird. Mit Parallelismus ist gemeint, in ob Parteien einen schwachen oder starken Einfluss ausüben. Die Medienorientierung wird durch das Verhältnis von kommerzieller und gesellschaftlicher Ausrichtung definiert, während die Journalismuskultur entweder investigativ oder konkordant ausfällt. Schliesslich geht es um die Professionalität der Journalismus, die von gering bis hoch variieren kann. Letzteres ist dann der Fall, wenn die Selbstkontrolle greift.
Gegenüber früheren vergleichenden Typologien wie die von Winfried Gellner in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts, der einzig zwischen dem Einfluss des Staates und der Parteien auf das Fernsehen unterschied, oder wie die von Daniel Hallin und Paolo Mancini aus dem Jahre 2004, die von drei Typen, angeordnet im Dreieck ausgingen, hat die Komplexität des Analyseschemas von Blum zugenommen. Weit über den westeuropäischen Raum hinaus ausgedehnt worden sind auch die Fallbeispiele. Höhepunkt des theoretischen Zugriffs ist der Versuch, die sechs abgeleiteten Modelle auf einer Dimension zu konzipieren. Das schafft, nach vielen Verzweigungen die vorteilhafte Klarheit des Ansatzes.
Nur eins will mir nicht wirklich behagen: Zum Massstab des liberalen Modells gehört auch eine klar polarisierte Sicht auf politische Kultur und Investigation auf die journalistische Kultur. Das Gegenstück dazu ist jeweils die Konkordanz, ganz Lautsprecher zugeordnet. Das gibt es zwischenzeitlich, namentlich in der europäischen Politikwissenschaft auch anderer Gegenüberstellung, die Kooperation jenseits von Konsens als Alternative zur Konflikt sehen. In die Medien übersetzt wäre das etwas die Suche nach dem besten Argument, als Gegenstück zur Gesprächsverweigerung zwischen fundamental geschiedenen Kontrahenten.

Mediensystem Schweiz
Schliesslich ein Wort zur Schweiz: Blums Einteilung ist eindeutig. Unser Land gehört zum Public-Service-Modell, genauso wie die Mediensysteme Frankreichs, Deutschlands und Oesterreichs. Nur Italien fällt da aus dem Rahmen, weil es zum Klientel-Modell gerechnet wird.
Würde man einzig auf die historische Entwicklung, das Regierungssystem, die Medienfreiheit und die Staatskontrolle in der Schweiz abstellen, könnte man unser Mediensystem auch liberal nennen. Auch der weitgehend verschwundene Parallelismus der Medien zu politischen Parteien würde dazu passen, genau sowie die Qualitätssicherung.
Wenn das Mediensystem der Schweiz dennoch nicht ganz dem Pol der Widersprecher zugeordnet wird, hat das mit der politische Kultur der Schweiz zu tun, ausgerichtet an der Konsensbildung. Da gleicht die Schweiz Nachbar Oesterreich, und ist sie klarer als Deutschland und Frankreich von der Polarisierung im liberalen Mediensystem entfernt. Aehnlich wie alle Nachbarn sieht Blum in der Schweiz eine nur geringe Ausrichtung am Kommerz der Medien an gesellschaftlichen Voraussetzungen. Typisch ist deshalb die Mischung der Kennzeichen, wie es hierzulande auch beim Medienbesitz, der Medienfinanzierung und die Journalismuskultur zum Ausdruck kommt.
Der generellen Platzierung des Mediensystems im Public-Service werden viele Leserinnen gut nachvollziehen können. Anders könnte dies bei einzelnen Bewertungen ausfallen. Den einen dürfte in diesem Buch die Professionalität überschätzt, dafür der Kommerz unterschätzt erscheinen. Da schafft genau der Vergleich eine Korrektur subjektiver Eindrücke. Denn die Wertungen gehen nicht von Idealen aus, sie berücksichtigen reale Verteilungen im Vergleich.
Wer so argumentiert, erkennt die tiefsitzende Furcht vor Polarisierung, die Einbindung der Medien in sprachliche Teilgesellschaften und die Kleinheit der Verhältnisse als hohe Hürden auf dem Weg zum rein marktwirtschaftlichen Mediensystem.

Viel Lob und wenig Tadel
Eine Folgerung der jahrelangen Forschungen Blums wird man dennoch hinterfragen können: den Einfluss der globalen Kommunikation via Internet. Es scheint, als hätte der Autor den Einwand kommen sehen. Denn die Widerlegung beginnt gleich auf der ersten Seite der Einleitung. Hauptargument für den Medienwissenschafter ist das national verfasste Recht. Das ist bei der Pressefreiheit sicher entscheidend, bei anderen Indikatoren wirkt der Nationalstaat aber nur noch als löchriger Container. So hätte man sich gewünscht, mit dem Grad an globaler Offenheit des Mediensystems einen 12. Indikator behandelt zu sehen. Vielleicht wäre damit auch die strikte Orientierung des Medien- am Politsystem zugunsten einer etwas offeneren Betrachtungsweise zum Wirtschaftssystem aufgeweicht worden. Denn die aktuellen Trends haben weniger politische, vielmehr ökonomischer Ursachen, was mir der Autor zu wenig würdigt.
Davon unabhängig, ich habe bei der Lektüre des Buches viel gelernt, vor allem über die verschiedenen Mediensysteme und ihre eigenwilligen Ausprägungen. Bewundert habe ich auch den Versuch, das induktiv gewonnene Ausgangsmaterial zu systematisieren, ohne der verbreiteten theoretischen Blindheit für die Feinheiten zu verfallen, gepaart mit dem Mut, auf empirisches Material, das sich nicht einordnen lässt, deklarierter Massen zu verzichten.
Schliesslich habe ich einen viel systematischeren Blick auf die Lage der Medien in der Schweiz bekommen. Das ist gerade heute von Belang, wenn zur Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Medien und ihre Ausrichtung am Service Public parteiisch debattiert wird.
Das Werk des Berner Medienwissenschafters besticht durch wissenschaftliche Systematik, Materialreichtum und schliesslich erhellende Einordnungen von Ausprägungen und Determinanten der Mediensysteme. Es ist schlicht ein Wurf.

Claude Longchamp

Vom Vertrauen und Misstrauen in Institutionen und Stimmabsichten für den 14. Juni 2015

Die Ergebnisse der ersten SRG-Befragung sind seit kurzem bekannt. Hier interessieren nicht die konkreten Zahlen, sondern ihre Begründungen, wie sie aus einer Umfrage abgeleitet werden können. Diesmal ist der Faktor “Vertrauen/Misstrauen in Institutionen” von besonderer Bedeutung.

Unsere Erhebung legt nahe, dass 58 Prozent der Stimmberechtigten dem Bundesrat vertrauen, 30 Prozent nicht. Die Misstrauischen sind aber deutlich besser motiviert, an der kommenden Volksabstimmung teilzunehmen. Aktuell würden sich 52 Prozent von ihnen beteiligen, derweil das nur bei 38 Prozent der Vertrauenden der Fall wäre. Das führt dazu, dass sich die Verhältnisse unter den Teilnahmewilligen angleichen. Klar unterschiedlich sind die Stimmabsichten beider Gruppen: Die misstrauischen Bürger und Bürgerinnen würden die Erbschaftssteuerinitiative heute klar ablehnen, aber auch eindeutig Nein zum Radio- und Fernsehgesetz respektive zur Präimplantationsdiagnostik sagen. Gespalten wären sie bei der “Stipendieninitiative”. Ziemlich anders sind die Positionen der Personen mit Institutionenvertrauen. Beim Radio- und Fernsehgesetz wären sie mehrheitlich dafür, ebenso bei der Stipendieninitiative. Relative Mehrheiten im Ja ergäben sich auch bei den beiden anderen Vorlagen, bei der Erbschaftssteuer allerdings nur knapp.

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Analysiert man den Einflussfaktor “Vertrauen/Misstrauen” auf die Stimmabsichten, bleibt er bei der “Stipendieninitiative” gering. Erheblich ist er aber bei den drei anderen Vorlagen. Am deutlichsten wird er bei der Beurteilung des neuen RTVG. Hier fällt vor allem auf, dass diese Grösse die Stimmabsichten miterklärt, selbst wenn man die getesteten Argumente mitberücksichtig. Mit anderen Worten: Unabhängig davon, wie man die Botschaften der Ja- und Nein-Seite bewertet, es bleibt, dass das Vertrauen resp. Misstrauen in die Arbeit des Bundesrates die Vorentscheidungen beeinflusst.

Zwei Szenarien drängen sich auf: Das erste geht davon aus, dass sich die Beteiligungswerte der zwei Gruppen, die hier interessierten, angleichen. Das würde die Annahmechancen der beiden Behördenvorlagen erhöhen. Das zweite nimmt an, dass es zu einer weiteren spezifischen Mobilisierung der misstrauischen BürgerInnen kommt. Die Buchpreisbindung und die Autobahnvignette, die beide ein ähnliches Konfliktmuster zeigten, sind hier die Referenzen. Oder anders ausgedrückt: Die Chance, dass alle vier Vorlagen scheitern, steigt in diesem Fall.
Für das erste Szenario spricht, dass der Abstimmungskampf bisher von der Erbschaftssteuervorlage dominiert war, und bei den beiden Behördenvorlagen die Gegnerschaft aktiv wurde. Das hat die Mobilisierung von rechts, aus Kreisen der TraditionalistInnen und Anti-EtatistInnen befördert. Hierzu könnte es in der zweiten Kampagnenphase ein Gegengewicht beim Kern der normalen Bürgerschaft, die abstimmen geht. Zugunsten des zweiten Szenarios kann vorgebracht werden, dass die mediale Stimmungslage auf bewusste Skandalisierung von Sachverhalten, verbunden mit der Personalisierung von Verantwortlichkeiten und Emotionalisierung des politischen Klima ausgerichtet ist. Das mobilisiert in der Regel die politischen Skeptiker, vor allem in der Schussphase eines Abstimmungskampfes, denn sie wollen ihr Protestvotum gezielt abgeben. Eine verbindliche Einschätzung gerade der beiden Behördenvorlagen halten wir deshalb für verfrüht. Vielmehr interessiert in den kommenden fünf Wochen, wie sich die Kampagnen entwickeln, wie die sozialen Medien darauf reagieren und wie das Ganze die massenmediale Berichterstattung beeinflusst.

Claude Longchamp