Weshalb wer wen wählen will?

Wahlumfragen macht man nicht nur, um Parteistärken zu kennen. Wertvoller sind sie, wenn die Wahlgründe herausfinden. Hier mein Vorschlag.

Im SRG-Wahlbarometer beschreiben wir nicht nur die Parteistärken aufgrund einer Repräsentativ-Befragung. Wir klären auch die Gründe für aktuellen die Wahlabsichten. Dabei stützen wir uns auf das Trichtermodell der Wahlforschung. Wahlentscheidungen sind eine Folge des Meinungsklimas, des Personen- und Themenprofils der Parteien einerseits, der aktivierten Werthaltungen anderseits.

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Analysiert man das Partei für Partei kommt man zu folgender Einschätzung:

SVP-Wahl: Wer die SVP wählt, macht das am wahrscheinlichsten wegen ihrem Programm. Dabei geht es nicht mehr nur im Migrationsfragen, vielmehr bilden auch Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik die nachweislichen Ansatzpunkte innerhalb der eigenen Wählerschaft. Insbesondere die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Bevorzugung von Schweizer und Schweizerinnen auf dem Arbeitsmarkt und eine harte Politik gegenüber Arbeitslosen einerseits, Missbräuche im Sozialwesen wirken bei den Themenwählenden der SVP. Die Europa-Frage als explizites Thema taucht in unserer Analyse nicht (mehr) auf. SVP wählt man darüber hinaus auch, weil man es schätzt, wie sie den Wahlkampf führt. Nur mittelstark wirkt sich die Identifikation mit dem Parteipräsidenten aus. Etwa gleich wichtig sind Prädispositionen: der rechte Standpunkt, das Misstrauen in die Behörden und die Politik der Unabhängigkeit.

SP-Wahl: Auch bei der SP entscheidet das Programm – Steuergerechtigkeit und gesellschaftspolitische Fragen ziehen bei den Themenwählenden der SP am meisten. Allerdings, sie werden von Europa- und Migrationsfragen ergänzt. Da liegt für die SP, die sich hier heraushalten möchte, einiges drin. Auch bei der stärksten Linkspartei schafft die Art der Wahlkampfführung eine Identifikationsmöglichkeit. Mobilisierungskampagnen und selbstbewusste Position im rotgrünen Lager werden geschätzt. Personenorientiert ist die SP dagegen kaum – der Parteipräsident ist kein besonders starker Grund, die Partei zu wählen. Klar ist, dass man das macht, weil man links steht.

FDP.Die Liberalen-Wahl: Bei der FDP.Die Liberalen schafft der bisherige Wahlkampf die wirksamste Identifikation. Der zurückgekehrte Erfolg bei kantonalen Wahlen beflügelt die Partei. Programmatisch kann sie sich bei Wählern und Wählerinnen empfehlen, denen die Wirtschaftsentwicklung besonders wichtig ist, verbunden mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der Sicherung der Europa- und der Finanzpolitik. Migrationspolitik kommt ebenfalls vor, allerdings nur noch schwach. Die Personenorientierung fällt recht gering auf, gleich auf mit dem Selbstverständnis, aus einer eher rechten Position die Partei zu wählen.

CVP-Wahl: Die Themen-Identifikation funktioniert neuerdings auch bei der CVP. Estimiert wird von den Themenwählenden der CVP der Einsatz für Arbeitsplätze, für Umwelt und Europa. All dies liegt noch vor der Familienpolitik. Geschätzt wird auch der bisherige CVP-Wahlkampf. Danach folgen die Identifikation mit dem Parteipräsidenten und eine offene Werthaltung gegenüber dem Ausland.

GPS-Wahl: Die GPS wird gewählt, weil sie eine konsequente Migrations-, Umwelt- und Energiepolitik betreibt. Positiv wirkt sich auch der Wahlkampf aus. Geschätzt wird die Partei bei linken und ökologischen Präferenzen. Die Parteipräsidenten und Parteipräsidentinnen sind dagegen unbedeutend für die Wahl der Partei.

GLP-Wahl: Die GLP empfiehlt sich bei ihren Themenwählenden wegen ihrer Umwelt- und Energiepolitik, beschränkt auch ihrer Position in der Europa-Frage und bei der sozialen Sicherheit gewählt. Ihr Wahlkampf wirkt sich ebenfalls positiv aus, wenn auch schwächer als bei den anderen Parteien. Positiv wirkt sich das Vertrauen der GLP-Wählende in die Behördenarbeit aus.

BDP-Wahl: Einfach ist das Muster, weshalb man nachweislich die BDP wählt. Die Ausländerpolitik, der eigenen Wahlkampf und das Vertrauen in die Behördenarbeit sind die drei nachweislichen Ansatzpunkte.

Mit anderen Worten: Die programmatischen Positionen der Parteien sind eindeutig am wichtigsten. Das ist nicht mehr nur ein Privileg der Polparteien, die sich wie die SVP oder die GPS hier langfristig profiliert haben. Vielmehr braucht es im Wahlkampf 2015 einen ganz bewusst gesetzten Themenmix, um Erfolg zu haben. Parteien, die sich hier verbessern, bekommen einen neue Chance. Bei der FDP sieht man das gegenwärtig am besten.

Regierungsbildung im Kanton Luzern. Wenn nach der Wahl erst recht vor der Wahl ist.

Die Wahlen im Kanton Luzern sind vorbei. Das Parlament ist neu bestellt. Bei der Regierung ist allerdings ein zweiter Wahlgang nötig. Die Wahl beginnt hier erst.

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Die drei bürgerlichen Bisherigen, Reto Wyss, Robert Graf und Guido Küng, wurden im Kanton Luzern problemlos wiedergewählt, jetzt geht es um die beiden verbleibenden Sitze.

Ausgangslage
Mit dem heutigen Tag steht die gegenwärtige Luzerner Regierungszusammensetzung zur Disposition. Im ersten Wahlgang zu den Regierungsratswahlen wurden erwartungsgemäss die bisherigen bürgerlichen Regierungsmitglieder gewählt. Zwei CVP-Vertreter und einer der FDP sind klar im Amt bestätigt worden. Das absolute Mehr nicht geschafft hat der parteilose Bisherige. An dieser Hürde ebenfalls gescheitert ist die neue Kandidatin der SP, welche die zurücktretende linke Regierungsrätin beerben wollte. Keine Chancen hatten die beiden grünen Bewerbungen.

Lösungsansätze
Damit stehen drei Ansprüche für zwei Sitze im Raum. Dilemmata sind vorprogrammiert. Denkbar sind drei Lösungen:
. Erstens, eine Regierung ohne SVP: Für diese Variante spricht die bisherige Zusammensetzung. Bisherige, die sich wieder bewerben, soll man nicht abwählen, und den Ersatz für Bisherige sucht man ihren eigenen Reihen. Gegen die Tradition eingewendet werden kann, dass die Parteienlandschaft in Luzern Bewegung ist, und die SVP bei den jüngsten Wahlen wählerInnen- und sitzmässig zugelegt hat. Die Nummer 2 in der Parteienlandschaft von der Regierung fern zu halten, lässt sich vor allem auf dem Land und in Kleinstädten immer weniger begründen.
. Zweitens, eine Regierung ohne SP: Für diese Variante spricht der Trend bei der jüngsten Wahl. Zudem ist die SVP stärker als die SP; das gilt selbst dann, wenn es der SP gelänge, alle Stimmen der Grünen in der Regierung zu vertreten. Die Integration der SVP in der Luzerner Regierung hat damit Vorrang vor der Repräsentation der SP resp. der Linken. Gegen diese Aenderung spricht vor allem das Geschlecht der anderen Regierungsmitglieder und –anwärter. Denn es handelt sich ausnahmslos um Männer. Diese dominieren zwar auch das Parlament, im Verhältnis von 7 zu 3, aber nicht 10 zu 0. Identifikationsprobleme mit der Luzerner Stadtbevölkerung würden wohl zunehmen.
. Drittens, eine Regierung ohne Parteilose: Für eine solche Variante spricht, dass die Parteien, zentrale Träger (auch) des Luzerner Staates, in der Regierung vertreten sein sollten. SVP und SP sind zwei gefestigte Parteien, die im Parlament solid vertreten sind und damit eine ersichtliche Basis für die Regierungsbeteiligung haben. Hier kann man dagegen halten, dass der Bisherige im ersten Wahlgang besser abschnitt als die beiden, die ihn herausfordern, und das ungebundene Element immer auch eine Chance des Ausgleichs ist.

Arithmetik-Politik-Geschichte
Zum Argument könnten nebst Zahlen auch politische Absichten und die Geschichte werden. Die Vorgabe für Ersteres haben wichtige Wirtschaftsverbände des Kantons gemacht; ihr Ziel ist eine restriktive Finanzpolitik – mit der SP in der Opposition. Zweiteres erschliesst sich aus der Entstehung der jetzigen Regierungszusammensetzung. Denn die SP wurde im Luzernischen 1959 Regierungspartei – als Teil der landesweiten Konkordanz. Als die CVP 2005 auf ihre absolute Mehrheit im Regierungsrat verzichtete, machte sie das, um den Weg der SVP-Regierungsbeteiligung zu ebnen – ebenso im Sinne der Konkordanz.

CVP und FDP
Eine Vorentscheidung fällt schon diese Woche, wenn die Parteispitzen von CVP und FDP ihrer Empfehlungen abgeben. Meine Wette: Beide sind für die SVP, tun sich aber schwer mit der zweiten Parole. der FDP dürfte die Rechtstrend näher stehen, der CVP der Ausgleich zwischen den Polen.
Von oben herab wird man ohnehin nicht entscheiden können. Denn beide Parteien haben bei den Regierungsratswahlen erreicht, was sie für sich wollten. Ihr Vorteil ist, dass sie nichts mehr zu verlieren haben. Ihr Nachteil: Ihre Wählerschaften werden nicht einfach nochmals zu mobilisieren sein. Wäre dies der Fall, könnte eine gemeinsame Parole alles entscheiden.
Entscheiden die Luzerner Wahlberechtigten anfangs Mai wie die katholisch-konservativen Nachbarn in der Zentralschweiz, hätte die SP das Nachsehen. Machen sie es so wie die pluralistisch eingestellten Berner- oder AargauerInnen in angrenzenden Mittelland, würde das das Aus für den Parteilosen in der Regierung bedeuten. Sollten sich die LuzernerInnen schliesslich am entfernten Kanton Solothurn orientieren, bliebe alles beim Alten.

Folgen

Alle drei Varianten hätten eine Botschaft an die nationale Politik: Die erste würden lauten, Regieren soll einheitlicher, sprich bürgerlicher werden. Die zweite hiesse, Wählerstärke zählt und die BDP ist auch national keine Regierungspartei mehr. Die dritte schliesslich würde bedeuteten, dass sich die SVP eindeutig zwischen Opposition und Regierung entscheiden und Wie die gespaltene Linke Verantwortung mittragen muss.

Claude Longchamp

Grosse oder kleine Konkordanz in den Kantonen

Wie werden die Kantone parteipolitisch regiert? – Diese Frage stellt sich seit den Baselbieter Wahlen wieder vermehrt. Heute war ich in Liestal, und die jüngsten Wahlen waren das Thema. Ein Bericht mit einer Einordnung.

9 1/2 Kantone kennen heute eine konkordante Regierung mit zwei grossen Polparteien in der Exekutive. Sie machen aber keine Mehrheit unserer Gliedstaaten aus. Denn in 13 1/2 Kantonen ist nur die eine der beiden (nationalen) Polparteien präsent. In 8 1/2 Kantonen fehlt der rechte Pol, meist in Form der SVP, in 5 mit der SP der linke.


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Kantonsregierungen ohne die SVP sind vor allem in der französischsprachigen Schweiz üblich. Nur im Wallis konnte sich diese Partei zwischenzeitlich etablieren. In Neuenburg blieb es bei einem vorübergehenden Phänomen. Ohne die SVP wird heute auch in Graubünden und Luzern regiert. In beiden Fällen schied die Partei nach 2008 aus, wegen der Abspaltung der BDP oder als Folge eines problematischen Verhaltens des Regierungsmitgliedes. In Baselstadt wiederum hat es Tradition, dass der Kanton auch ohne die SVP regiert wird. In kleineren Innerschweizerkantonen und Appenzell Innerrhoden findet sich das Gegenteil. Da ist die SP nicht in der Regierung vertreten. In Zug und neuerdings auch Baselland gilt das ebenso; es finden sich aber grüne Vertreter oder Vertreterinnen in der Kantonsexekutive.

Lösten die Baselbieter Wahlen vor Monatsfrist einen neuen Trend aus? Entwickelt sich die Schweiz generell nach rechts, weg von der Regierungsbeteiligung der SP? Etwas genauer beantworten wird man dies erst nach den Luzerner Wahlen können. Denn auch da geht es darum, welche Polpartei(en) mitregieren soll(en). Allgemein erwartet wird ein zweiter Wahlgang, bei dem wohl die Parteiwählenden den Ausschlag geben werden, die ihre Kandidaten bereits in der Regierung haben. Schliesslich steht die Frage nach der parteipolitischen Zusammensetzung auch im Kanton Zürich auf der Agenda, denn die bürgerlichen Seite strebt einen zusätzlichen Sitz in der Kantonsregierung an. eine Regierung ohne Linke Vertretung wird aber mit Sicherheit nicht geben.

In der Tat kommt es in der Schweiz wieder etwas vermehrt zu Lagerwahlkämpfen. Das Parteiensystem bleibt fragmentiert; bestrebt ist man aber, die Zersplitterung der Kräfte durch Bündnisse zu überwinden. Häufig stehen einflussreiche Verbände im Hintergrund bereit, um die Koordination zu übernehmen und Wahlkämpfe mit zu finanzieren. Arrangiert wird so in der Regel ein bürgerliches und ein rotgrünes Lager. Verbesserte Chancen haben jene Kandidatinnen und Kandidaten, die bisher in der Regierung waren, für eine Partei kandidieren, die bereits in der Exekutive vertreten ist und von einem Bündnis geschlossen empfohlen werden.

An einer Veranstaltung im Kanton Basellandschaft habe ich heute die Frage diskutiert, ob man das als neuen Trend sehen könne. Die Mehrheit des (bürgerlichen) Publikums tendierte zu einem Nein. Wahlen in die Regierung seien gerade in einem Kanton mit übersichtlicher Grösse in hohem Masse Persönlichkeitswahlen, war die klar vorherrschende Meinung. Im Baselbiet habe die SP falsch taktiert und nominiert. Das sei ihr zum Verhängnis geworden; ein anderes Mal werde sie wieder bedient, wenn sie sich geschickter verhalte, wohl zu Lasten der FDP.

Bleibt die Schweiz also ein Musterfall einer Konsensdemokratie? Die Mehrheit der hiesigen PolitikwissenschafterInnen relativiert. Der Berner Politologe Adrian Vatter hat es auf die griffige Formel gebracht: Kein Sonderfall, aber weiterhin ein Normalfall einer Konsensdemokratie, seien wir. Hauptgrund seien eine polarisierte Parteienlandschaft, die nicht zum Konsensmuster passe, aber Institutionen, die weiterhin die Kooperation befördern würden.

Nimmt man die heutige Zusammensetzung der Kantonsregierung als Massstab, kann man das wie folgt präzisieren. Eine starke Minderheit der Kantone wird nach dem reinen Konkordanzprinzip regiert. Stark ist sie, weil sie die bevölkerungsreichen Kantone Zürich, Bern, Aargau und St. Gallen umfasst. Quantitativ hat die Mehrheit der Kantone aber eine Regierung, die eher der kleinen Konkordanz entspricht. Pascal Sciarini, Professor für Schweizer Politik an der Uni Genf, definiert das so, dass nur noch eine Polpartei berücksichtigt werde, um eine erhöhte Geschlossenheit und damit eine verbesserte Handlungsfähigkeit zu erreichen. Häufiger sind dabei Regierungen ohne SVP-Beteiligung, seltener solche ohne SP. Einen grossen Trend über die Zeit erkennt man nicht, eher sind es Konstellationen, die sich aus dem Mix an KandidatInnen, der Stärke und dem Verhalten der Parteien und der jeweiligen politischen Kultur des Kantons ergeben.

Claude Longchamp

Herausgefordertes Verbandslobbying angesichts der Krise des Korporatismus

Mein Referat am Internationalen Verbände-Forum, organisiert vom Verbandsmanagement-Institut der Universität Freiburg, bot Anlass, über grundlegende Veränderungen im Verbandssystem nachzudenken. Hier meine These zum Trend weg vom dominanten neokorporatistischen Arrangement.

Die Politikwissenschaft analysiert politische System und ihre Entscheidungsprozesse unter verschiedensten Gesichtspunkten. In den vergangenen 40 Jahren gehört die Gegenüberstellung von Korporatismus und Pluralismus zu er-kenntnisleitenden den Untersuchungskategorien. Unter den OECD-Staaten bilden Norwegen und die USA die Pole. Korporatistisch meint, dass insbesondere die Wirtschaftsverbände eine starke Stellung in der behördlichen Willensbildung haben; nicht selten geniessen sie eine privilegierte Einflussmöglichkeit auf Entscheidungen, die meist an sozialpartnerschaftliche Arrangements gebunden sind. Pluralistisch nennt man dagegen politische Systeme, die keine Privilegierung bestimmter Interessen kennen, weil deren Einflussnahme dem Wettbewerb der Kräfte, die von ihnen ausgehen, überlassen wird. Präzise muss man in der Schweiz von einem Neokorporatismus sprechen, denn der traditionelle Korporatismus setzt auf Zwangsmitgliedschaften, während der liberale Neokorporatismus auf Freiwilligkeit setzt.

Korpratismus vs. Pluralismus in Europa
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Quelle: Vatter, Politisches System der Schweiz (2014), eigene Darstellung
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Die Schweiz gilt nach dem Standardwerk von Adrian Vatter als gemässigt (neo-)korporatistisch bestimmtes politisches System. Stärker ausgeprägt ist der Korporatismus in Italien, ähnlich in Österreich und Deutschland, schwächer in Frankreich.
Verbreitet ist die These, dass sich der Korporatismus in der Krise befindet. Zahlreiche Analytiker gehen davon aus, dass die entsprechenden Arrangements im Rückgang begriffen sind, derweil die pluralistische Interessenvermittlung wichtiger wird. Das passt zum Wandel des Gesellschaftsmodells, das Richtung Flexibilisierung tendiert, aber auch der Medienlandschaft mit wachsender Konkurrenz. Es fügt sich in die Transformation der hiesigen Konsensdemokratie ein – vom Musterfall zum Normalfall.
Typisch hierfür ist, dass die Parteien in der Politikformulierung an Gewicht gewinnen, hierzulande vor allem über das Parlament und da via den Nationalrat. Gleichzeitig verringert sich mancherorts die Bedeutung des vorparlamentarischen Verfahrens, also da, wo die privilegierten Verbände stark waren. Vereinfacht ausgedrückt verlagert sich der relevante Ort der (Vor-)Entscheidungen von der ausserparlamentarischen Kommission hin zur parlamentarischen.

Ausgehend von dieser generellen Beobachtung stellte sich im Workshop über “Kooperationen im Verbandswesen” die Frage, welche Formen der Zusammen-arbeit für Verbände von Belang sind. In meinem Referat habe ich mindestens vier Typen erarbeitet:
• Erstens, die grundlegende Kooperation besteht gegenüber den Austauschpartnern, sprich jenen Instanzen, die relevante Entscheidungen treffen (können). Vereinfacht gesagt handelt es sich hier um Kooperation als vorbeugende Beziehungspflege. Da findet, grob gesagt, eine Verlagerung von der Verwaltung hin zum Parlament statt.
• Zweitens, die Zusammenarbeit mit Kooperationspartner, sprich Organisationen, die ähnliche Interessen vertreten. Die Kooperation mit ihnen ist konkret und strategisch. Sie soll vorparlamentarische, parlamentarische und nachparlamentarische Entscheidungen sichern. Gemeint ist, dass beispielsweise alle Umweltverbände hierfür kooperieren.
• Drittens, die ad-hoc Bündelung von Interessen, die in einem konkreten Fall optimal Einfluss nehmen. Sie wollen rechtzeitig vorbereitet sein, meist auf einen Aktion hin ausgerichtet, was Flexibilität sichert, ohne von Dauer sein zu müssen. Denkbar ist hier, dass Kritiker der Gentechnologie aus der Landwirtschaft und dem KonsumentInnenschutz zusammenarbeiten.
• Viertens, die Verstärkung durch professionelle Organisationen, die speziell in der Öffentlichkeitsarbeit und der Kampagnenführung eine Expertise haben, denn die Aktionen von Verbänden entwickeln sich vom klassischen Verhandeln mit Verbänden, die gegenüberliegende Interessen ver-treten, zum einem übergeordnetes Campaigning, das in der Lage sein muss, auf unerwartete Konstellationen zu reagieren. Gemeint ist hier, dass professionelle Public-Affairs-Agenturen mit bestimmten Aufträgen angeheuert werden.

Zu diesen vier Stufen gehört auch, dass sich heute Verbände wieder verstärkt an politische Parteien anlehnen. Das bleibt hierzulande zwar zurück, weil das Parteiensystem selber pluralisiert ist und keine Partei eine Aussicht auf die alleinige Mehrheit hat. Die Verbandstätigkeiten gegenüber den Parteien sind aber von wachsender Bedeutung, weil sich immer deutlicher abzeichnet, dass mehrheitsfähige Allianzen von links oder rechts geschmiedet werden, die die politische Steuerung von Entscheidungen an sich im Auge haben.

Korporatismusindex Schweiz (hoch=korporatistisch)
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Quelle: Vatter, Politisches System der Schweiz (2014), eigene Darstellung
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Die Phänomene finden sich auf der Bundesebene verstärkt. In den Kantonen kennen sie aber unterschiedliche Voraussetzungen. Denn auch diese sind durch einen unterschiedlich stark en Korporatismus geprägt. Die Kantone Bern, Waadt und Tessin haben eindeutig korporatistische Züge, gekennzeichnet durch starke und anerkannte Gewerkschaften, zahlreiche Gesamtarbeitsverträge und ein ausgebautes Vernehmlassungsverfahren in der behördlichen Willensbildung. Davon findet man in Kantonen wie Appenzell Innerhoden, Zug, Schwyz und Luzern wenig.

Claude Longchamp

Das gesamte Referat finden Sie hier.

Momentaufnahmen und Prognosen vor Volksabstimmungen

Umfragen zu Volksabstimmungen lassen direkt keine Prognosen zu. Das ist nicht neu. Neu ist, dass man sie mit Prognosetools verbessern kann.

Die zweite und letzte SRG-Umfrage ergab bei der Familieninitiative 40 Prozent bestimmt oder eher Ja, bei der Energie- statt Mehrwertsteuer-Initiativen 19 Prozent Ja. Die anderen waren dagegen oder unentschieden. Der Trend war bei beiden Vorlagen negativ. Bei der CVP-Initiative sank er innert Monatsfrist um 12 Prozentpunkte, beim glp-Begehren um 10. Das ist im Schnitt oder darüber, wenn man nur jene Fälle betrachtet, bei denen die Unterstützung nachlässt.

Im Kommentar zur Umfragen hielten wir fest, beide Vorlagen würden am heutigen Abstimmungssonntag abgelehnt. Im einen Fall sehr deutlich. Im anderen Fall werde es wohl etwas wenig einseitig, aber dennoch deutlich sein. In den veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sahen wir den Hauptgrund für den starken Meinungswandel respektive -umschwung.

Diese qualitativen Aussagen basieren auf der Erfahrung, dass Volksinitiativen beser starten und schlechter enden. Denn zu Beginn eines Abstimmungskampfes beurteilen die Stimmberechtigten eher das Problem, zum Ende dessen vorgeschlagene Lösung. Bei der Energie- statt Mehrwertsteuer-Initiative waren sowohl die Prädisponierung als auch der Trend negativ. Das Problem wurde nicht im Sinne der Initiantin gesehen, die Meinungsbildung verlief ebenso wenig zu ihren Gunsten. Etwas differenzierter war unsere Einschätzung bei der Familieninitiative. Hier sprachen wir von einem potenziell mehrheitlich gesehenen Problem, wofür es aber noch keine tragfähige Lösung gäbe, auch nicht im Sinne des CVP-Vorschlags.

Nun ist das keine quantifizierbaren Prognosen. Die Gründe hierfür haben wir schon mehrfach vorgetragen: Erstens müssen die letzten Befragung in der Schweiz in der dritten Woche vor dem Abstimmungstag stattfinden. Denn sie müssen spätestens 10 Tage davor veröffentlicht sein. Zweitens taugten ihre Ergebnisse nur dann als Vorhersage, wenn die Meinungsbildung zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen ist. Solange es Trends und Unschlüssige gibt, ist das aber nicht der Fall. Drittens sind die Effekte der Mobilisierung stets nur schwer einschätzbar, und auch sie können des Endergebnis beeinflussen. Im langjährigen Schnitt weichen die Resultate bei Volksinitiativen 5 Prozentpunkte vom Umfragewert ab: In aller Regel sind die Ja-Werte tiefer, denn der Trend, der sich aus den beiden Vorbefragungen ableiten lässt, setzt sich meist auch nach der zweiten Erhebung fort.

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Seit rund zwei Jahren arbeiten verschiedenen Forscher daran, genau diese Entwicklung nach der zweiten Befragung zu formalisieren. Dazu gehört unter anderen der Politikwissenschafter Oliver Strijbis, der ein Modell entwickelt hat, das Umfrageergebnisse und weitere berücksichtigt. Zwischen ihm und dem gfs.bern gibt es seit einiger Zeit eine Kooperation, auch wenn beide Tools unabhängig von einander erstellt werden.

Im Schnitt kommt Strijbis den effektiven Abstimmungsergebnissen etwas näher als Umfragen. Seine mittlere Abweichung beträgt 4 Prozentpunkte – mal nach oben, mal nach unten. Im aktuellen Fall prognostizierte er 33 Prozent Zustimmung bei der CVP-Initiative, 19 Prozent bei der glp-Vorlage. Zur Kontrolle lässt er die vorliegenden Befragungs- und Prognoseresultate von einem Panel an ExpertInnen und Laien evaluieren. Die wiederum rechnen mit 33 resp. 16 Prozent Zustimmung.

Der Unterschied ist, dass Prognosen den weiteren Verlauf vorweg nehmen, derweil Momentaufnahmen, das festhalten, was erhoben wurde. Sie verändern sich mit Umfragen, müssen aber schneller als diese was wahrscheinliche Ergebnis anzeigen. In der obigen Darstellung wird dies nachträglich geprüft. Richtig ist, dass Prognosen schneller dem Endergebnis näher kommen, aber alles andere als stabil sind. Die Auswertung legt in beiden Fällen nahe, dass auch nach der zweiten SRG-Befragung mehr als üblich geschehen sein muss.

Die neuen Instrumente sind kein Ersatz für Umfragen. Wie Strijbis mehrfach wiederholt hat, braucht es die Momentaufnahmen am Anfang und während des Abstimmungskampfes. Ohne die würde sein Prognoseinstrument genauso wenig funktionieren wie der Prognosemarkt. Diese wiederum sind eine Möglichkeit, das Publikationsverbot von Umfragen zu kompensieren, das dazu führt, dass diese nicht am Schluss, sondern unterwegs gemacht werden müssen.

Claude Longchamp

Wieder courant normal

Nach klar überdurschnittlichen Beteiligungswerten bei verschiedenen eidgenössischen Volksabstimmungen der letzten 15 Monate kehrt die Schweiz am 8. März 2015 wieder zum courant normal zurück.

Im Kanton Genf hatten gestern 38 Prozent der Stimmberechtigten bei den eidgenössischen Vorlagen bereits abgestimmt. Hochgerechnet auf den Abstimmungstag deutet das auf eine kantonale Beteiligung von 47 Prozent hin. Analoge Projektionen in der Stadt St. Gallen verweisen (bei einer wichtigen städtischen Abstimmung) auf einen etwas höheren Wert, derweil der solcher in der Stadt Zürich tiefer ausfallen dürfte.

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Mit extrapolierten Teilnahmequoten hat man im Kanton Genf am meisten Erfahrungen. Denn die tägliche Publikation der Zwischenstände findet seit mehreren Jahren statt. So kennt man recht zuverlässig die Minimal- und Maximalwerte, erzielt beim Tierseuchengesetz resp. bei der Masseneinwanderungsinitiative. Demnach war der Start diesmal effektiv noch im obersten Bereich; eine Steigerung der Beteiligung wie vor dem 9. Februar 2014 fand jedoch weder in der vor- noch in der letzten Woche vor dem Abstimmungstag fest. Darüber hinaus kann man die Genfer Werte auch ganz gut für die Schweiz verwenden. In den letzten Jahren lagen sie stets etwas über dem nationalen.

Interpretiert man diese harten Befunde, kann man jetzt schon sagen: Eine hohe Beteiligung, wie wir sie in den letzten 15 Monaten gleich mehrfach hatten, wird es am 8. März 2015 nicht geben. Wahrscheinlich erscheint ein gesamtschweizerischer Wert von ungefähr 45 Prozent. Dafür gibt es mehrere, allgemein bekannte Gründe:

Erstens, nur zwei Vorlagen. Die Zahl der Vorlagen beeinflusst die Beteiligungshöhe. Je mehr Gegenstände zur Entscheidung anstehen, desto höher ist die Teilnahmequote. Allerdings, der Effekt ist bei einer Steigerung von einer auf Zwei Vorlagen höher als bei weiteren Zunahmen, denn er läuft sich bei 4 oder 5 aus. Hauptgrund hier ist, dass jede Vorlage einen Fan-Club hat, der vor allem wegen ihr teilnimmt. Das Mittel an Abstimmungsgegenständen auf eidgenössischer Ebene liegt nahe bei 3. Die aktuellen 2 sind damit unterdurchschnittlich viel – oder wenig.
Zweitens, die Spannung ist zu gering. Umfragen, Prognosen und Erwartungen der Medien gehen fast unisono von zwei Ablehnungen am Abstimmungstag aus. Im einen Fall dürfte diese sehr deutlich sein, im anderen Fall ist die Höhe der Nein-Quote noch etwas offen. Diese generelle Einschätzung hat sich recht flächendeckend auch auf die Schlussmobilisierung ausgewirkt. Sie ist, normalerweise angefeuert von den Initiantinnen, ebenfalls unter dem Mittel, wie ein Blick in Leserbriefspalten, Kommentarfelder und neue soziale Medien zeigt.
Drittens, kein Protestvotum. Verschiedene Abstimmungskämpfe der jüngsten Zeit zeigten, dass die Beteiligung vor allem dann hoch ist, wenn in den Wochen vor einer Volksabstimmung ein eigentlicher Protest gegen die etablierte Politik entsteht. Das war bei der Masseneinwanderungsinitiative exemplarisch der Fall. Die Beteiligungswerte stiegen von Woche zu Woche an, und der Mobilisierungsfall wirkte sich vorteilhaft auf die Zustimmung zum Volksbegehren aus. Davon war im aktuellen Fall nur wenig zu spüren.

Vielmehr herrscht wieder weitgehend courant normal.

Claude Longchamp

Mein Einsatzplan am Abstimmungssonntag

Was am kommenden Abstimmungssonntag via SRF kommuniziert wird!

Wie immer an Abstimmungssonntagen bin ich mit meinem Team vom Forschungsinstitut gfs.bern im Volleinsatz. Wir rechnen beide eidgenössiscshen Vorlagen hoch, analysieren die eintreffenden Ergebnisse aus Kantonen und Gemeinden, extrapolieren sie auf die nationale Ebene und schätzen frühzeitig ab, was wie stark angenommen resp. abgelehnt wird. Zudem unterziehen wir die Resultate einer Erstanalyse zum Konfliktmuster und bringen die Ergebnisse mit der Meinungsbildung in der Bevölkerung, den Massenmedien und den neuen soziale Medien in Verbindung.

Anbei der Fahrplan für den kommenden Sonntag (vorbehältlich kurzfristiger Aenderungen).

Trendrechnungen Volksabstimmungen
12:30 Trend zu beiden Vorlagen, falls möglich, Kommentar via TV
12:37 Trend zu beiden Vorlagen, falls möglich, Kommentar via Radio

Hochrechnungen Volkabstimmungen
13:00 1. Hochrechnungen zur Energie-Initiative, wenn möglich, Kommentar via TV
13:05 1. Hochrechnungen zur Energie-Initiative, wenn möglich, Kommentar via Radio
13:16 Kleine Analyse der 1. Hochrechnungen, via TV
13:30 1. Hochrechnung zur Familien-Initiative, wenn möglich, Kommentar via TV
13:38 1. Hochrechnung zur Familien-Initiative, wenn möglich, Kommentar via Radio
13:53 Analyse social media im Abstimmungskampf
14:00 Wiederholung der Hochrechnungen, wenn nötig, Kommentar zum Abstimmungsausgang via TV
15:02 Hochrechnung Stimmbeteiligung, Kommentar via TV

Erstanalysen
16:04 Erstanalyse Familien-Initiative, Kommentar via TV
16:22 Erstanalyse Energie-Initiative, Kommentar via TV


Bilanz und Ausblick

16:40 Ausblick I: Kleinere Parteien und ihre Wirkung in der Schweizer Politik
18:39 Ausblick II: Volksinitiativen im Wahljahre

Erläuterungen
Trendrechnung: qualitative Aussagen über erwartete Annahme/Ablehnung, wenn Trendergebnis klarer als 45/55 resp. 55/45
Hochrechnung: quantitative Aussagen über erwartete Werte der Zustimmung/Ablehnung beim Volks- und Ständemehr (wenn nötig), max. Fehlermarge +/-3 Prozentpunkte, dann jede halbe Stunde mit verbesserter Fehlermarge (nur wenn sich Mehrheiten ändern)
Erstanalyse: Analyse des Kantonsprofil von Zustimmung und Ablehnung aufgrund von weiteren Kontextmerkmalen

Claude Longchamp