Sechs Instrumente, um den Ausgang einer Volksabstimmung frühzeitig einzuschätzen


Wie kann man den Ausgang einer Volksabstimmung im Voraus einschät-zen? Diese Frage stellt sich mir immer, wenn eine Entscheidung der Stimmberechtigten ansteht. Zwischenzeitlich verwende ich verschiedens-te Indikatoren, um frühzeitig zu einer brauchbaren Antwort zu kommen.

Ausgangspunkt aller Analysen zum Ausgang von Volksabstimmungen bildet immer die Parlamentsdebatte. Sie ist der entscheidende Moment im Prozess behördlichen Willensbildung. In der Regel stimmen die BürgerInnen gleich wie das Parlament. Kommt es zu einer Abweichung, was es gibt, interessieren mögliche Elite/Basis-Konflikte.

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Einfachster Indikator zur Parlamentsdebatte ist das Ergebnis der Schlussabstimmung, und zwar für alle ParlamentarierInnen und nach Fraktionen. Momentan geht das gesichert nur via Nationalrat; ab nächstem Jahr wird es möglich sein, auch den Ständerat mit einzubeziehen.
Das zweite Instrument sind die Parteiparolen. Denn die Delegiertenversammlungen tagen meist drei bis zwei Monate vor der Volksabstimmung, um die Position zu Volksabstimmungen festzulegen. Damit kann man sehen, ob zwischen Fraktion und Partei Übereinstimmung oder Widerspruch besteht. Allfällige Abweichungen kantonaler Parteien und sonstiger Untergruppen einer Partei muss man allerdings meist bis kurz vor einer Volksabstimmung beobachten.
Liegen erste Umfragen vor, interessieren zuerst die Stimmabsichten. Sie sind das dritte Instrument. Verglichen werden befürwortende und ablehnende Stimmen, wie sie in Interviews von BürgerInnen bekundet werden. Weiter interessiert die Zahl der Unschlüssigen, aber auch der erst tendenziell Entschiedenen. Deren Interpretation bildet das Herzstück der Aussagen zu kommenden Volksabstimmungen via Umfragen.
Eine Verifizierung von Stimmabsichten bilden Argumenten-Tests, die das viertes Instrument sind. Wenn sich ein solcher auf mehrere Argumente Pro und Contra bezieht, kann man diese auch Indexieren und so die mentale Struktur der Stimmberechtigten rekonstruieren. Daraus kann man ableiten, wer korrekterweise wie stimmen müsste. Ist die Kongruenz hoch, kann von einer frühen und konsistenten Stimmabgabe ausgegangen werden, die in aller Regel hält. Ist sie dagegen gering, muss man vorsichtig sein und weitere Elemente der Umfragen und der Kampagnen bei der Interpretation berücksichtigen.
Zu den sinnvollen Rahmungen zählt als fünftes Instrument, wie die Erwartungshaltung der Stimmenden aussieht. Die ist zwar fast immer knapper, als die Stimmabsichten es er-scheinen lassen. In qualitativer Hinsicht sind die Erwartungshaltungen aber interessant, weil sie meist die richtige Mehrheit bezeichnen. So können sie genutzt werden, um die Richtung der Meinungsbildung abzuschätzen.
Die Modelle, die gfs.bern zur Vorortung der Meinungsbildung bei Initiativen und Referenden entwickelt hat, helfen als sechstes Instrument ebenfalls den Trend in der Meinungsbildung zu bestimmen. Wir können zwischenzeitlich den oder die Normalverläufe und die Ausnahmen hierzu recht zuverlässig einschätzen. Das gibt keine punktgenaue Aussage zum Abstimmungsergebnis, erlaubt es aber, frühzeitig eine Einschätzung zu machen, was angenommen, was abgelehnt wird und was weiter beobachtet werden muss.
Bezogen auf die aktuellen Volksentscheidungen ergeben die sechs Indikatoren bei der Volksinitiative “Energie- statt Mehrwertsteuer” eine ausgesprochen einheitliche Beurteilung im Nein. Bei der Volksinitiative Familien stärken! entsteht dagegen kein einheitlicher Eindruck. Parlamentsentscheidungen, Parolenspiegel und Bevölkerungserwartungen sprechen für ein Nein. Aktuelle Stimmabsichten und der Argumenten-Index verweisen, wenigsten zum jetzigen Zeitpunkt, ins Ja. Entsprechend sprechen wir von einer potenziellen Mehrheitsinitiative. Aus der Erfahrung erwarte ich, dass die Ablehnung im Abstimmungskampf wächst. Ich bin aber unsicher, ob sich die Zustimmung verringert oder ob sie mindestens gleich bleibt.

Claude Longchamp

Claude Longchamp

GLP und BDP sind die erfolgreichsten Parteien bei Volksabstimmungen

In der laufenden Legislaturperiode waren die GLP und die BDP bei eidgenössischen Volksabstimmungen die erfolgreichsten Parteien. Sie empfahlen am häufigsten das, was bei der Volksabstimmung heraus kam. Am erfolglosesten politisierte die SVP, allerdings setzte sie sich mit der Volksinitiativen “Gegen Masseneinwanderung” einmal gegen alle anderen Parteien durch.

Man erinnert sich: 2011 gewannen die BDP und die GLP die Parlamentswahlen. Beide Parteien erreichten je 5,4 Prozent der Stimmen. Nun zeigt die Auswertung der Parolen bei eidgenössischen Volksabstimmungen seither, dass GLP und BDP auch hier am meisten Erfolg hatten. Denn sie positionierten sich am häufigsten so, wie die Mehrheit stimmte. In den ausgewerteten 35 Volksabstimmungen 2012-4 riet die 29 Mal zu dem, was heraus kam; bei der BDP resultierten 27 volle Übereinstimmungen.

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Bemerkung: Der Maximalwert beträgt 35. Halbe Uebereinstimmungen/Abweichung ergeben sich, wenn die Stimme frei gegeben wurde.

Der Hauptgrund für den Erfolg beider Parteien liegt darin, dass sie recht nahe dem Zentrum politisieren resp. sachpolitischen Stellung beziehen. Neu ist allerdings, dass nicht mehr die CVP führt – traditionellerweise die Mitte-Partei mit der höchsten Erfolgsquote. Denn GLP und BDP haben in einigen Fällen die Bevölkerungsmeinung besser eingeschätzt: 2014 beispielsweise war das bei der Gripen-Entscheidung der Fall, wo die GLP mit ihrer Nein-Parole näher am Volksmehr lag als die übrigen Zentrumsparteien, während die BDP bei der Pädophilen-Initiative mit ihrer Ja-Empfehlung Gleiches erreichte.

Einiges weniger erfolgreich sind die Polparteien – und die EVP – wenn man auf Abstimmungsparolen abstellt. Hauptgrund ist hier, dass sie in der politischen Landschaft deutlicher weg vom allgemeinen Trend positioniert sind – und das mit ihrem Parteiparolen bewusst auch kundtun! Mehrheitsfähig zu sein, ist hier kein Kriterium; eigenes sachpolitischen Profil zu befördern dagegen schon. Bei der EVP kommt hinzu, dass sie vor allem in ethischen Fragen abweichende Positionen einnimmt, ohne damit das Volksmehr zu beeinflussen, wie das bei den Geldspielen typischer Weise der Fall war.

Am häufigsten in die Minderheit versetzt sah sich in den vergangenen drei Jahren die SVP. Das Ergebnis der vorliegenden Auswertung kontrastiert mit dem verbreiteten Image der Partei, sie politisiere am nächsten beim Volk. Hauptgrund für dieses ist, dass sie sich mit der eigenen Volksinitiative “Gegen Masseneinwanderung” gegen alle anderen Parteien durchgesetzt hat. Mit ihren recht häufig klar abweichenden Parolen hatte sie allerdings in den meisten Fällen keinen Erfolg. Allein 2014 wurde sie so gleich vier Mal klar in die Minderheit versetzt: bei der Gastro-Initiative, Hausarzt-Medizin, Abtreibungsfinanzierung und FABI-Vorlage.

Die Schwäche von SP und GPS besteht darin, die (fest) geschlossenen Front von rechts bei Volksinitiativen wie die zur Pauschalbesteuerung, zur Einheitskasse und zum Mindestlohn aufbrechen und können. Erfolg hatten sie aber 2013 bei der Minder-Initiative gegen die Abzockerei. Bei der Gripen-Entscheidung gesellte sich zum linken Nein auch ein bürgerliches hinzu, artikuliert aus den Reihen der GLP. Doch blieben das eher die Ausnahmen.

Zwischen den erfolgloseren Parteien und den neuen Spitzenreitern befinden sich die CVP und die FDP. Ähnlich wie GPS und BDP tragen sie die Mehrheitsmeinung im Parlament am häufigsten mit. Das wurde vor allem der CVP zum Verhängnis, etwa bei der Buchpreisbindung oder dem Familienartikel. Umgekehrt drang die FDP mit ihrer Opposition gegen die Musikförderung nicht durch.

Die Dreiteilung der Parteien bezüglich ihre Abstimmungserfolgs ist das Auffälligste der aktuellen Legislatur. Denn nicht nur die Pole und das Zentrum unterscheiden sich bei ihrer Trefferquote für das Volksmehr. Auch die neue und alte Mitte differenzierte sich in den vergangenen drei Jahren zusehends. Damit hat sich ein Befund, der die Interpretationen des Wahlergebnisses von 2011 prägte, fortgesetzt. Das Zentrum ist keine gemeinsame Position mehr, sondern differenziert sich zunehmend in neue und alte Mitte, was ihr Gewicht nicht erhöht, die Zahl der Abgrenzungen im Zentrum schon.

Claude Longchamp

Wirkungen der Volksinitiative auf die Politik

Die Bewertungen von Volksrechten, insbesondere von Volksinitiativen, sind zwiespältiger geworden. Die Initiative gilt nicht mehr generell als Motor der Schweizer Politik und damit als innovatives Gegenstück zum Referendum, das ebenso vereinfachend als Bremse bezeichnet wird. Vielmehr polarisiert sie zwischen den Vorstellungen, der Inbegriff resp. Störfaktor der Schweizer Demokratie geworden zu sein.

An der heutigen Aemterkonferenz der eidgenössischen Finanzverwaltung habe zum Thema “Wirkungen der Volksinitiative auf die Politik” gesprochen. Erwartet wurde eine umfassende Auslegeordnung.

Eine systemtheoretisch angeleitete Analyse
Die Politikwissenschaft betrachtet Volksrechte, insbesondere auch die Volksinitiative, als integrierten Teil des politischen Systems. Bei diesem wird in der systemtheoretischen Betrachtungsweise zwischen input, throughput und output unterschieden, meist kommen outcome und/oder impact hinzu.

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Mit input ist gemeint, wer relevante Forderungen an die Politik richten kann. Unbestritten ist, dass die Volksinitiative die Zahl der Anspruchsgruppen weit über die politischen Parteien hinaus erweitert. Hinzu kommen Verbände wie Gewerkschaften, aber auch Komitees rund um Einzelpersonen wie die Stiftung von Franz Weber. Seltener sind Firmen oder Medien Träger von Volksinitiativen. In der Theorie begegnet man dieser Erweiterung meist skeptisch, weil sie die Staatstätigkeit ausdehne. In der schweizerischen Praxis zeigt sich aber, dass die Bürger und Bürgerinnen eher sparsamer als die Einflussgruppen sind, weshalb die Staatsquote hierzulande eher tiefer ist als anderswo. Das spricht für Volksrechte, auch für Volksinitiativen.
Beim throughput geht es um Verschiedenes: Klar ist, dass die Volksrechte die Macht von Regierung und Parlament einschränken. Ebenso wird die Vorherrschaft der Parteien gebrochen. Volksrechte haben hinter diesen allgemeinen Wirkungen drei konkrete Folgen: Zuerst genannt sei, dass sie das Regieren nicht verunmöglichen, aber erschweren. Die Zahl der Volksabstimmung ist speziell seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts steigend, was die Funktionsfähigkeit der direkten Demokratie und die Bürgerschaft belastet. Beeinflusst ist namentlich die Gesetzgebung, denn selbst die Hälfte der abgelehnten Volksinitiativen hat mehr oder minder starke Auswirkungen auf die Gesetzgebung. Seit gut 10 Jahren wächst der Anteil angenommener Volksinitiativen. Das hat in erster Linie mit nachlassenden Konkordanzwirkungen unter den Regierungsparteien zu tun – am besten sichtbar, dass es bei Volksinitiativen immer häufiger linke oder rechte Allianzen gegen eine Volksinitiative gibt, aber nur selten eine umfassende Ablehnung. Die Punkte sind hier verteilt.
Der output ist namentlich dann beeinflusst, wenn die Bedeutung von Problemen seitens der Behörden unterschätzt wird. Bei Themen, welche die stimmberechtigte Bevölkerung sehr stark interessieren, dies aber von den Behörden nicht geteilt wird, steigt die Chancen einer Zustimmung zur Volksinitiative an. Zu finden ist dies bei Streitfragen zu Ruhe und Ordnung, sprich der Anwendung des Strafrechts resp. bei Migrations- und Oekologie-Kontroversen. Hierfür mobilisierbar ist in erster Linie die regierungsmisstrauische Bürgerschaft. Wenn es Volksinitiativen von rechts handelt, kommen speziell Menschen vom Land und aus tieferen und mittleren Gesellschaftsschichten hinzu. Vor allem bei neuartigen Konflikten rund um Globalisierung und Nationalisierung der Politik wird ein wichtiger Teil des Politikwandels heute via Volksinitiativen vorangetrieben. Auch hier resultiert eine gemischte Bilanz.
Bezogen auf den gesellschaftlichen impact der Volksrechte kann man festhalten, dass sie die Identifikation der Bürgerschaft mit dem Staat, seinen Werten, Institutionen und seinen Vertretern stärken. In der Schweiz erreicht das Institutionenvertrauen Spitzenwerte für den gesamten OECD-Raum, und sie werden selbst bei gelegentlichem Widerspruch an der Urne nicht nachhaltig erschüttert. Nötig ist es aber, tatsächlich vorhandene Politikdefizite seitens der Parteien und Behörden rechtzeitig zu erkennen, und vorhandene Probleme auch anzugehen und zu lösen. Die Vorteile überwiegen in diesem Punkt eindeutig.

Bilanz
Meine heutige Bilanz war: Volksinitiativen verändern die politische Agenda, sie kanalisieren Unmut, sie sind ein Verhandlungspfand von Akteuren im politischen Prozess, sie stossen Neues an und sie mobilisieren die Bürgerschaft, gerade auch die Wähler und Wählerinnen der Parteien. Sie haben nicht eine Wirkung, sondern mindestens fünf verschiedenartige Wirkungen auf die Politik. Entsprechend darf sich die Reformdiskussion der Volksinitiativen, wie sie das Postulat Vogler anstösst, nicht auf die Behinderung von Abstimmungen via höhere Hürden für Volksinitiativen beschränken. Sie muss vielmehr eine vorausschauende Politik bei den vermehrt relevanten Spannungen zwischen global resp. national ausgerichteter Schweiz stärken.

Claude Longchamp

Neuer Trend: zwitschernde PolitologInnen


PolitikwissenschafterInnen auf Twitter werden schnell zahlreicher. Die Wahlen im Herbst bieten ihnen gute Möglichkeiten, sich, ihre Expertise und ihr Fach zu profilieren. Eine Trendanalyse.

Harmlose Anfänge – rasche Entwicklung
Eigentlich begann alles ganz harmlos. Die ersten Schweizer Politologen entdeckten Twitter 2008. Ali, heute besser bekannt als @zoonpolitikon, damals Doktorand an der Uni Genf in Internationalen Beziehungen, dürfte im Februar dieses Jahres der Erste gewesen sein. Im Juni kam mit Beatrice Wertli (@bwertli), heute Generalsekretärin der CVP, als erste Politologin hinzu. Auch sie hatte in Genf Internationale Beziehungen studiert.
Seither hat sich einiges geändert und ist vieles in Bewegung geraten. Genf ist nicht mehr das Ursprung der twitternden PolitikwissenschafterInnen, vielmehr ist Zürich das neue Zentrum. Nach den SpezialistInnen für Aussenpolitik haben auch die ExpertInnen der Innenpolitik den neuen Kommunikationskanal entdeckt. Eine jüngst von Adrienne Fichter (@adfichter), Züricher Politologin, jetzt bei der NZZ als Social Media Managerin tätig, veröffentlichte Liste nennt über 120 Schweizer PolitologInnen, die zwitschern.

Schweizer PolitikwissenschafterInnen auf Twitter, Ranking nach Klout (www.einflussreich.ch)
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Bemerkung: Der Klout Score umfasst nicht nur die Zahl der Follower, sondern auch die Intensität der Interaktion und die Präsenz auf anderen sozialen Medien als Twitter
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Voraussetzungen des neuen Trends
Um zu verstehen, was dahinter steckt, muss man drei Voraussetzungen kennen.
Erstens, Politikwissenschaft als akademisches Fach hat sich zwischenzeitlich fast gesamtschweizerisch etabliert. Die Zahl der AbsolventInnen eines politikwissenschaftlichen Studiums ist rasch steigend. Gegenwärtig sind gegen 3000 Personen in einem entsprechenden Studiengang eingeschrieben. Potenzial ist also in grosser Menge vorhanden.
Zweitens, PolitikwissenschafterInnen mit Uni-Abschluss sind heute vermehrt auch ausserhalb der alma mater tätig. Neu geschaffene Berufsfelder sind etwa die Anwendungsforschung, die Beratung von Politik und Medien, aber auch das Lobbying für Verbände und Firmen. PolitologInnen präsentieren sich so vermehrt in innovativen, neuen Tätigkeitsfelder mit Kommunikationschancen.
Drittens, PolitikwissenschafterInnen erobern auch bisherige Berufsfelder. Dazu zählt namentlich die Politik selber, aber auch der Journalismus und die Verwaltung gehören dazu. Die Zahl der PolitikwissenschafterInnen in den Medien und unter gewählten PolitikerInnen ist steigend; sie sind ein Teil der Professionalisierung beider Bereiche geworden. Und auch sie beginnen zu twittern.
Ein vierter Trend wäre die Durchdringung der so differenzierten Politikwissenschaft mit sozialen Medien. Sie ist in vollem Gange. Doch das ist keine Voraussetzung der heutigen Entwicklung; es ist sie selber. Dabei scheint unter den PolitikwissenschafterInnen die Affinität zu Twitter höher zu sein als zu Facebook, sicher aber als zu ausgesprochen visuellen Kanälen wie YouTube oder Instagram.

Einflussreicher als Oekonomen und Juristen, vielleicht auch als Politikerinnen auf Twitter
Was auch immer man von Klout-Rankings hält: PolitikwissenschafterInnen sind gemäss diesem Messinstrument auf Twitter nicht ganz top, aber im Kommen. Als Kollektiv rangieren sie in der Schweiz vor den ÖkonomInnen, wohl auch vor den JuristInnen. Ihr Einfluss ist auch eher grösser als der der PolitikerInnen. Denn diese benutzen in ihrer Mehrzahl Twitter nur als Statement-Kanal, beteiligen sich zu wenig ans Dialogen. Gegen die Spitzenreiter aus Sport, Unterhaltung und Medien, die teils ausgesprochenes Twittermarketin betreiben, kommen die PolitologInnen indes nicht an.
Einflussreichste Politologin auf Twitter ist zwischenzeitlich die bereits genannte Adrienne Fichter. Die Spezialistin für trend scouting ist in der neuen Medienlandschaft hervorragend vernetzt, und sie kennt keine Berührungsängste zur Politik. Mit Luzia Tschirky (@LuziaTschirky)mischt eine weitere, junge Medienschaffende mit politikwissenschaftlichem Hintergrund ganz vorne bei den einflussreichen Politologinnen auf Twitter mit.
Akademische Meriten von PolitikwissenschafterInnen spielen im SoMe-Ranking eine nur untergeordnete Rolle. Elham Manea (@Elhammanea), Privatdozentin an der Uni Zürich, ist unter den festangestellten DozentInnen die einflussreichste. Mit ihrem Schwerpunktthema, dem humanistischen Islam, musste die Autorin lernen, sich ein eigenes Publikum nicht nur an der Uni, auch ausserhalb, zu schaffen. Fabrizio Gilardi (@fgilardi), bestrangierte Professor für Politikwissenschaft an einer Schweizer Universität, folgt erst auf Platz 27.
Teils weit vor ihren DozentInnen liegen einige ihrer Studierenden. Die Vermittlung von politologischem Wissen via Twitter ist nicht zwingend ihr Ding. Eher sind sie wie Luca Strebel (@strebelluca) oder Cedric Wermuth (@cedricwermuth) in einer Partei oder als Politiker tätig. Solchen Organisationen bieten junge, angehende und engagierte PolitologInnen mit Twittererfahrungen neue Chancen.
Die Trendsetter der jüngsten Generation Politikwissenschafter nehmen es dabei durchaus mit etablierten in der Politikforschung oder -beratung auf, aber auch mit Funktionären bei Parteien oder beim Staat. Hier gibt es erheblichen Nachholbedarf. Michael Wicki (@WickiMichael), Politökonomon und zuständig für die eKampa der SP ist hier der Trendsetter, aber auch Politologe Mark Balsiger (@mark_Balsiger) optimiert seine Positionierung als Kommunikationsberater auffällig via Twitter.
Mehr oder weniger durchgesetzt haben sich Blogs von politologischen Instituten (wie der von @gfsbern), Forschungsprojekten (wie der von @smartvote) oder journalistischen Netzwerken (wie @people2power). Einige von ihnen sind kollektiv organisiert, andere haben klar sichtbare Einzelkommunikatoren. Via Twitter vermitteln sie Forschungsergebnisse, verweisen auf eigenen Recherchen oder diskutieren Stärken (und Schwächen) politischen Systems der Schweiz für die halbe (Twitter)Welt. Das beste Marketing unter den Uniinstituten auf mittels Tweets macht das Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich (@IPZuser).

Profilierungsmöglichkeiten für die Politikwissenschaft
PolitogInnen auf Twitter ist ein Gegentrend zur dominierenden Akademisierung des Fachs. Monatelang auf die Veröffentlichung von Kongresspapieren in wissenschaftlichen Journals zu warten, ist nicht aller Leute Sache. Vielmehr ist im Trend, schnelle Feedbacks zu bekommen. Von Fachleuten und Interessierten.
Das alles ist aus meiner Sicht auf die Politikwissenschaft positiv. Dazu gehören auch die meisten Reaktionen auf die Veröffentlichung der Liste von Adrienne Fichter auf Twitter. Rasch angestiegen sind die Abos von anderen Twitterern, die dem Fach und ihren VertreterInnen auf dem neuen Kanal systematisch folgen wollen. Es zählt aber auch dazu, dass die Vernetzung schon jetzt zugenommen hat, wie jene Rückmeldungen von PolitikwissenschafterInnen zeigen, die vergessen gingen, aber ganz gerne dazu gehören wollen.
Es bleibt die Frage nach den Abgrenzungen. Wer soll auf Fichers Liste, wer nicht? Besonders heikel ist, ob das Fach mit multidisziplinären Ansätzen enge oder weite Grenzen hin zu Staatswissenschaften, Ökonomie, Jurisprudenz, Geschichte oder Geografie gezogen werden sollen. Auch der Raumbezug ist nicht eindeutig. Geht es um PolitikwissenschafterInnen in der Schweiz, egal welcher Nationalität sie sind oder um Schweizer PolitologInnen, unabhängig davon, wo sie tätig sind? Typisch für die Ambivalenz sozialer Medien ist schliesslich, dass die Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem verwischt wird. So gibt es eindeutige Politikwissenschafter, die via Twitter fast ausschliesslich übers Gamen berichten, während andere, die kaum einen Abschluss im Fach selber vorweisen können, sich als PolitologInnen profilieren.
Wahrscheinlich wird sich das so lösen, wie es für soziale Medien üblich ist: durch die Praxis, die sich aus den neuen Angeboten ergibt und sich nach einiger Zeit dort einpendelt, wo die Angebote auf eine Nachfrage treffen. Kommunikation orientiert sich allein nach diesem Gesichtspunkt. Aber ohne interessiertes Publikum geht heute gar nichts mehr.

Martin Grandjean – der Benchmark
Ein gutes Vorbild in dieser Hinsicht ist der Lausanner Forscher Martin Grandjean (@grandjeanmartin). Der gelernte Historiker hat sich auf die Visualisierung von Sachverhalten spezialisiert. Zum Beispiel von Aufträge des Bundes oder von Lobbyisten zwischen Wirtschaft und Politik. Er kennt sich aber auch mit der Ereignisanalyse aus. So prägte mit einer Grafik und einem Tweet am Sonntag, 9. Februar 2014, eines der gängigsten Bilder zur Volksentscheidung über die Volksinitiative gegen Masseneinwanderung. Demnach stimmte Kantone mit mehr AusländerInnen weniger stark dafür als solche mit weniger Menschen aus dem Ausland. Hauptgrund: Mit 140 Zeichen bediente Grandjean über 15000 Personen und Organisationen in seinem Umfeld – mehr als einige Zeitungen heute Lesende kennen. Das hat ihn, gerade in den französischsprachigen Medien, zur begehrten Ansprechperson und zum interessanten Auskunftsgeber gemacht.
Die anstehenden Wahlen ins Parlament, aber auch in den Bundesrat, bieten den Schweizer PolitologInnen zahlreiche Möglichkeiten, sich, ihre Expertise und ihre Wissenschaft in der Fachöffentlichkeit zu profilieren. Jetzt müssen sie es nur noch packen!
Claude Longchamp

Politeratur 2014

2014 sind zahlreiche Bücher über die Schweiz erschienen. Viele davon habe ich gelesen, einige, die mir etwas (bei)gebracht haben sogar besprochen. Hier meine Uebersicht.

Am besten gefallen hat mir übrigens das letzterwähnte Buch. “Unterwegs” ist eine Art Lebensphilosophie im Zeitalter der Mobilität und des mobil’s.

Politik Schweiz
. Politisches System (Vatter)
. Handbuch Abstimmungsforschung (Milic et al.)
. Wer regiert die Schweiz? (Daum et al.)

Politische Soziologie der Schweiz
. Das soziale Kapital der Schweiz (Freitag)
. Toleranz gegenüber Immigranten (Rapp)
. Konfliktherd Agglomeration (Scheuss)

Politische Kommunikation in der Schweiz
. Marketing für Verbände (Lichtsteiner/Purtschert)
. Innen- und Aussenpolitik von Unternehmen (Hugi/Kaufmann)
. Wahlkampf statt Blindflug (Balsiger)

Geschichte der Schweiz
. A Concise History of Switzerland (Church/Head)
. La Suisse romande (Andrey)
. Politische Gräben (Seitz)

Philosophie
. Unterwegs (Gros)

2015 bleibe ich dabei. Das erste Buch, das ich besprechen werde, heisst: Bürgerstaat und Staatsbürger (Müller).

Claude Longchamp