Schweiz: nicht nur reich an Geld, sondern auch an Beziehungen

Dem Turnverein in der Gemeinde beitreten
Für die ältere Frau von nebenan den Einkauf erledigen
Mit Freunden deren Familienfotos anschauen
Sich mit der Nachbarschaft organisieren, um sich gegenseitig Werkzeuge auszuleihen
Keine Gerüchte streuen.

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“Das alles ist Teil des Sozialkapitals!”, erklärt Markus Freitag, Professor für politische Soziologie an der Universität, voller Hoffnung. Wer es lieber auf gut Deutsch hat, kann auch von “gepflegten Beziehungen” reden. Wie die entstehen, wo sie verbreitet sind, und welche Wirkung sie entwickeln, untersucht der Politikwissenschafter in seinem neues Buch “Das soziale Kapital in der Schweiz“, das er gemeinsam mit seinen MitarbeiterInnen Kathrin Ackermann, Paul C. Bauer, Birte Gundelach, Anita Manatschal und Carolin Rapp verfasst hat.

Seit Robert Putnam in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts den dramatischen Niedergang der amerikanischen Zivilgesellschaft analysiert hat, ist das Thema Sozialkapital in der Politikwissenschaft in vieler Leute Munde. Ihre mehrjährigen Forschungsarbeiten zur Schweiz im Vergleich bilanzieren die Berner PolitiksoziologInnen differenzierter als der amerikanische Vordenker. Mit Grund: Denn neben ernsthaften Zerfallserscheinungen namentlich im Vereinsbereich, etwa bei Interessengruppen und politischen Parteien, stellen sie auch viel Konstanz der schweizerischen Zivilgesellschaft fest: so zum Beispiel bei der Freiwilligenarbeit, der Integration im Familien- und Freundeskreis und beim Vertrauen in Mitmenschen. Im europäischen Vergleich zählen sie die Schweiz zu den sozialkapitalstärksten Gesellschaften, allerdings mit erheblichen innerschweizerischen Unterschieden. Führend sind zentral gelegene Kantone wie Ob- und Nidwalden, aber auch Glarus und Uri, am Ende der Skala finden sich Grenzkantone wie Genf, Neuenburg, Tessin, Schaffhausen und Thurgau. Verallgemeinernd halten die ForscherInnen fest, die Deutschschweiz kenne mehr Sozialkapital als die lateinischen Sprachregionen, die Landgegenden auch mehr als die Stadtgebiete. Zentraler Bestimmungsgrund auf individueller Ebene sei das Alter, denn mit zunehmender Lebensdauer nähmen soziale Beziehungen ab, bei Männern blieben vor allem formale Mitgliedschaften, bei Frauen informelle Zugehörigkeiten. Unterschiede zeigten sich auch bei der Nationalität, denn Sozialkapital komme bei SchweizerInnen mehr als bei Ausländerinnen vor.

Am Spannendsten sind die Ausführungen im neuen Buch aus dem NZZ-Verlag, wo sie sich mit den Folgen von Sozialkapital beschäftigen. Von stark generalisierbaren Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesellschaft und Politik mögen die AutorInnen zwar nicht sprechen. Im Einzelfall belegen sie aber Aufschlussreiches: So führen verbreitete Mitgliedschaften in Vereinen einerseits, Vertrauen in Mitmenschen anderseits zu einer geringeren Arbeitslosigkeit. Der beobachtbare Zusammenhang gilt selbst dann, wenn man Sprache, Siedlungsart und Migrationen im Umfeld der Personen kontrolliert – er ist also genuin. Optimistisch fasst Freitag das so zusammen: Soziale Beziehungen vermögen Arbeitslosigkeit zu steuern! Lebenszufriedenheit und Gesundheitszustand wiederum gehen einher mit emotionaler Unterstützung für sein Umfeld, verbunden mit einem Geben und Nehmen von und mit anderen. Die AutorInnen berichten zudem von vermehrter Demokratiezufriedenheit bei Menschen, die informelle Freiwilligenarbeit leisten. Schliesslich sei erwähnt, dass die Entwicklung von Toleranz in einem Kanton die Stimm- und Wahlbeteiligung ansteigen lasse.

Gerne hätte man auch Ausführungen gehabt, ob Massenmedien Sozialkapital ab- oder aufbauen. Schaut man sich die vorbildhaften Beispiele im Buch an, kann man skeptisch sein: Denn wer weniger fernsieht oder sich aus dem Internet ausloggt, wird als Förderer des Sozialkapitals bezeichnet. Eine vertiefte Analyse dieser Zusammenhänge bleibt in diesem Buch allerdings aus. Neues empirisches Material hierzu hätte sicherlich geholfen zu klären, was Sache ist, zum Beispiel ob Twitter die Aktiven mehr vernetzt oder ihr Misstrauen in andere verstärkt, oder ob Facebook Freunde verschafft, die einem im Notfall helfen, oder die Toleranz gegenüber Dritten verringert. Damit hängt die generelle Frage zusammen, ob Sozialkapital, wie es hier definiert wurde, eine Folge von Bauerngesellschaften ist oder auch in Mediengesellschaften Verbreitung gefunden werden kann.

Unabhängig davon, Markus Freitag hat mit seinen MitarbeiterInnen zweifelsfrei ein tolles Buch zur Analyse der schweizerischen Gesellschaft vorgelegt, das thematisch innovativ, methodisch stringent aufgebaut ist und systematisch verfasst wurde. Die weitgehende Trennung von Text- und Tabellenteil erleichtert die Lektüre, der ausführliche Anhang mit Statistiken entpuppt sich als Fundgrube, um eigenen Ueberlegungen zum Thema zu testen: eine bemerkenswerte Leistung des Forschungsteam am neuen Lehrstuhl für Politische Soziologie in Bern!

Uebrigens, das Buch erscheint als Band 1 der Reihe “Politik und Gesellschaft in der Schweiz”, mit der Berner PolitikwissenschafterInnen ihre Analyse der Gegenwart popularisieren wollen. Angekündigt sind für dieses Jahr noch ein Handbuch der Abstimmungsforschung und für nächstes ein Sammelband zu Wahlen und Wählenden. Man darf gespannt sein!

Claude Longchamp

Einsatzplan für den Abstimmungssonntag 18. Mai 2014

Die Volksabstimmungen vom 18. Mai 2014 stehen vor der Türe. Das Forschungsinstitut gfs.bern erstellt wie gewohnt die Uebersichten und Analysen für die SRG-Medien. Hier die Uebersicht über Angebote und Zeitplan.

gfs.bern macht an Abstimmungssonntagen drei Angebote:

. Trendrechnungen,
. Hochrechnungen und
. Erstanalysen.

Ziel der Trendrechnungen ist es, den Ausgang von Volksentscheidungen abschätzen zu können. Das Ergebnis ist schnell, aber nicht sehr präzise; kommuniziert werden drei Einstufungen: “wird angenommen”, “keine Aussage möglich”, “wird abgelehnt”. Wenn die Trendrechnung einen Wert von 50% +/-5%punkten ergibt, wird “keine Aussage möglich” mitgeteilt. Erwartet wird ein finales Resultat zwischen 45 bis 55 Prozent Zustimmung; bei Initiativen ein Auseinanderklaffen von Volks- und Ständemehr möglich, aber nicht sicher.

Hochrechnungen sind präziser; kommuniziert wird eine Zahl zum erwarteten Ja-Anteil, samt einem Unschärfebereich. Bei der ersten Hochrechnung beträgt dieser +/- 3 Prozentpunkte, bei der zweiten +/-2 Prozentpunkte und bei der dritten +/-1 Prozentpunkt. Wenn die Abweichung von 50 Prozent kleiner ist als der Unschärfebereich, ist Vorsicht mit Schlussfolgerungen zum Volksmehr angezeigt. Sollte das Ständemehr bei der Hochrechnung vom Volksmehr abweichen, wird dies (bei Initiativen) separat kommuniziert.

Erstanalysen geben die Resultate erster Untersuchungen zum räumlichen Kantonsprofil von Zustimmung resp. Ablehnung und diverser Kontextmerkmalen wie Parteihochburgen, Siedlungsart oder Sprechregion wieder. Sie lassen erste Schlüsse zum Profil des Ja- und Nein-Lagers bei einem Abstimmung zu, nicht aber zum Stimmverhalten der einzelnen BürgerInnen.

Publiziert werden die Ergebnisse aller Brechnungen auf der (neuen) Website von www.gfsbern.ch. Via Twitter @gfsbern kann man sich diese auch zustellen lassen.

Für Trend- und Hochrechnungen arbeitet gfs.bern pro Vorlage mit rund 75 typologisch ausgewählten Gemeinden zusammen, die ihren Kanton repräsentieren. Die Erstanalysen basieren auf den vorläufig amtlichen Endergebnissen der Kantone. Ertellt werden alle Analysen von einem spezialisierten Team von gfs.bern unter Lukas Golder, Martina Imfeld und Stephan Tschöpe.

Hier mein Programm der Medieneinsätze im Einzelnen:

1230 Trendrechnungen zu Mindestlohn-Initiative, allenfalls auch zu Pädophilie-Initiative und Gripen-Fonds, Kommentar zur Trendrechnung im TV SRF

1237 Kommentar zu den Trendrechnung im Radio SRF1

1300 1. Hochrechnung zu Mindestlohn-Inititive, Trendrechnungen zu Pädophilie-Initiative und Gripen-Fonds, Kommentar zur Hochrechnung
und den Trendrechnungen im TV SRF

1305 Kommentar zur Hochrechnung und zu den Trendrechnung im Radio SRF1

1316 Kommentar zur Hochrechnung und zu den Trendrechnung im TV SRF

1330 1. Hochrechnung zu Pädophilie-Inititive und Gripen-Fonds

1335 Kommentar zu den Hochrechnungen im TV SRF

1345 Kommentar zu den Hochrechnungen im Radio SRF1

1400 2. Hochrechnung zu Pädophilie-Initiative und Gripen-Fonds

1335 Kommentar zu den Hochrechnungen im TV SRF

1430 (falls nötig) 3. Hochrechnung zu Pädophilie-Initiative und Gripen-Fonds

1425 Uebersicht über Social Media im Abstimmungskampf

1435 Kommentar zu den Hochrechnungen im TV SRF

1445 Kommentar zu den Hochrechnungen im TV SRF

1505 Hochrechnung zur Stimmbeteiligung, Kommentar im TV SRF

1610 Erstanalyse der Mindestlohn-Initiative

1625 Erstanalyse der Pädophilie-Initiative

1655 Erstanalyse der Gripen-Fonds-Entscheidung

1840 Schlussbetrachtung zum Abstimmungssonntag

Abweichungen von diesem Zeitplan aus Aktualitätsgründen sind möglich.

Claude Longchamp

Höhere Beteiligung am 18. Mai als am 9. Februar?

Im Kanton Genf zeichnet sich bei den Volksabstimmungen vom 18. Mai eine Stimmbeteiligung über der vom 9. Februar 2014 ab. National könnte der Wert bei 54-58 Prozent liegen.

Tag für Tag vermeldet der Kanton Genf vor Volksabstimmungen den Stand der Beteiligung. Heute morgen hatten bereits mehr als 33 Prozent der Stimmberechtigten abgestimmt. Das ist leicht mehr als zum gleichen Zeitpunkt vor dem 9. Februar. Damals lag der finale Teilnahmewert bei 57.4 Prozent.

genf

Genf liegt in der etwas über dem nationalen Mittel. Bei der letzten Volksabstimmung betrug dieses 55,6 Prozent, knapp 2 Prozentpunkte weniger als in der Calvin-Stadt. Extrapoliert man den Stand der Dinge, erscheint selbst ein gesamtschweizerischer Beteiligungswert von 54-58 Prozent möglich.

Die Erfahrung lehrt, dass die Teilnahme mit der Zahl der Vorlagen steigt. Meine Schätzung lautet: 18 Prozentpunkte ist der Sockelwert; es kommen 9 Prozentpunkte pro Vorlage hinzu. Bei 4 Abstimmungsgegenständen kann man demnach 54 Prozent erwarten. Hauptgrund ist, dass jede Vorlage andere Gesellschaftsgruppen anspricht, die zusätzlich mobilisiert werden.

Der genaue Wert bei einer Volksentscheidung schwankt, vor allem in Abhängigkeit der Vorlage; es kommt auf die Inhalte darauf an, aber auch auf die Spannung zum Ausgang. Und ausserordentliche kantonale oder städtische Abstimmungen können ihren Teil zur Beteiligungshöhe beitragen.

Diesmal dürfte die Reihenfolge der Mobilisierungswirkungen wie folgt lauten: Gripen vor Pädophilie vor Mindestlohn. Gesetzt ist, dass die medizinische Grundversicherung am wenigsten extra mobilisiert.

In einer Woche wissen wir genau.

Claude Longchamp

Gripen: Entscheidung Ausgang weiterhin offen


50 Prozent, sagt die zweite SRG-Befragung zu den Volksabstimmungen vom 18. Mai, hätten sich letzte Woche beteiligt, wäre bereits damals über den Gripen entschieden worden – Trend steigend, vielleicht bis zum Abstimmungssonntag.

Nun kann das alleine Konsequenzen auf die Ursachen veränderter Zustimmungswerte haben. Zum Beispiel beim Gripen: In der ersten Welle Ende März waren 42 Prozent dafür und 52 Prozent dagegen. bei einer Teilnahmeabsicht von 45 Prozent. Umgerechnet auf die aktuelle Teilnahmeabsicht von 50 Prozent bedeutet dies, dass die damaligen 42 Prozent jetzt gerundet 38 Prozent ausmachen, die früheren 52 Prozent nun vereinfach 47 Prozent.

Wenn die aktuelle Befragung effektiv Verhältnis von Zustimmung und Ablehnung von 44 zu 51 ausweist, heisst dies, das befürwortende Lager ist effektiv um sechs Prozentpunkte gewachsen, das gegnerische um vier. Oder anders gesagt: Beide Seite werden grösser, aber nicht gleich schnell. Die Ja-Seite hat einen Vorteil in der Mobilisierung.

Nun wissen wir nicht, was bis zum Abstimmungstag alles noch geschieht: Die zentrale Auseinandersetzung bis jetzt erfolgte über die Kosten für den neuen Flieger. Für die BefürworterInnen sind sie eine gute Investition in die eigene Sicherheit, für ihre WidersacherInnen verschwendetes Geld, das man besser für Schulen und sozialen Sicherheit ausgeben würde.

Bisher keinen genuinen Einfluss auf die Stimmentscheidungen hatte die sicherheitspolitische Lage in Europa. Zu weit weg erscheint der Konflikt in der Ukraine, zu weit hergeholt sind die Folgen für die Schweiz. Kontrovers ist dafür die Frage nach der Luftraumverteidigung. Die Ja-Seite ist überzeugt, dass man das mit eigenen neuen Flugzeugen leisten muss; das Nein-Lager denkt, wir seien auch ohne dies genügend gerüstet.

Das Konfliktmuster in den Stimmabsichten kennt vordergründig das Zustimmungsprofil, das wir aus früheren verteidigungspolitischen Entscheidungen kennen: Männer, Rentner, Deutschschweizer und LandbewohnerInnen. Bisher hat das für die Behördenseite meist gereicht. Indes, es gibt auch Abweichungen, denn das linke Lager alleine wäre nie mehrheitsfähig. Erweitert wird es, wenigstens gegenwärtig, durch eine Mehrheit der Parteiungebundenen. Hinzu kommen oberen Einkommensschichten, sonst für die Armee, hier aber mehrheitlich gegen den Gripen-Kauf.

Die Kombination von Argumenten und Merkmalsgruppen auf der Ja- und Nein-Seite führt uns zur Gesamtbeurteilung: Die Gegnerschaft hat einen Vorteil, die Entscheidung ist aber noch nicht gefallen. Weder ist der Nein-Anteil ausserhalb des Stichprobenfehlers, noch gehen die zeitlichen Veränderungen in der Ja-Zunahme darüber hinaus.

Massgeblich wird sein, ob es der Ja-Seite gelingt, die bürgerlichen Reihen unter den WählerInnen zu schliessen. Entscheidend ist auch, ob die Opposition der Parteiungebundenen hält, denn die Linke ist jetzt schon weitgehend geschlossen dagegen. Das macht es schliesslich aus, wie hoch der Ja resp. Nein- Anteil sein und wo die Mehrheit sein wird.

A suivre!

Claude Longchamp