Was aus den BDP-WählerInnen im Kanton Bern wurde

Die Berner BDP erlebt gestern ein Wechselbad der Gefühle. Zuerst der vorderste Platz von Beatrice Simon bei den Regierungsratswahlen, mit Freude bejubelt. Doch dann die 11 Sitzverluste bei den Grossratswahlen, mit Trauer zur Kenntnis genommen. Seither ist das Rätselraten gross, was Sache bei der Berner BDP. Hier mein kleiner Beitrag zur Klärung.

Die Positionierung
Am Anfang meiner Analyse steht die Positionierung der BDP. Parteigrössen und JournalistInnen ist nicht entgangen, dass die BDP in Kanton Bern eine bürgerliche Partei geworden ist, gemässigter rechts als die SVP und einigermassen vergleichbar mit der Position der FDP. Hauptgrund hierfür sind die Finanzpolitik der Partei und Regierungsrätin Beatrice Simon, mit denen man sich FDP und SVP annähert. Zudem ist man mit den Kandidaten eben dieser Parteien ist sie geschlossen für eine weitere Amtsperiode angetreten, was den Eindruck der bürgerlichen Blockbildung unter Einschluss der BDP verstärkt hat.

Grafik 1: Positionierung der BDP (KandidatInnen 2014) gemäss Smartvote
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Mit ihrer Annäherung ans bürgerliche Lager hat die BDP eine ihrer Attraktivitäten aus der Gründungszeit verloren. Denn 2012 sammelte sie zahlreiche WählerInnen, die mit ihrer angestammten Partei unzufrieden waren. Bei der SVP, FDP, EVP und SP wurde die BDP fündig, wie Nachanalysen der damaligen Wahl zeigten. Zusammen ergab das den sensationellen Aufstieg von 0 auf 16 Prozent Wählendenanteil bei den Grossratswahlen 2010.

Die Identifikationsfaktoren einzeln
Wenn PolitologInnen die Wahl einer Partei analysieren, unterscheiden sie drei Faktoren der Identifikation von Wählenden mit einer Partei: die Partei als Ganzes, ihr Programm und ihr Personal.

Beginnen wir mit dem Personal. Bei der Parteigründung stammte es überwiegend aus der SVP, denn ein gewichtiger Teil ihrer Fraktion trennte sich von der SVP bildete die BDP. Davon hat die junge Partei profitiert, denn mit den gestandenen GrossrätInnen kam auch politischen know-how in die BDP. Ein schöner Teil der politisch Erfahrenen hat nicht mehr kandidiert oder ist gestern abgewählt worden. Auffällig war, dass die nicht bestätigten Fraktionsmitglieder der BDP allesamt Männer sind, derweil alle Frauen die Wiederwahl schafften. Man könnte es auch so sagen: Vor vier Jahren suchten sich die Abtrünnigen der SVP neue Wähler und WählerInnen, heute wählten sich die WählerInnen ihre bevorzugten PolitikerInnen. Frauen entwickeln dabei eigenen Präferenzen, um ihre Identität der neuen Partei besser ausdrücken zu können.

Klar fassbar wurde in diesen vier Jahren das finanzpolitische Programm der BDP. Weniger eindeutig ist die Position der BDP in der Energiepolitik. Zwar zählte man zu den Begründern der bernsichen Energiewende, doch versteht sie diese bisweilen in Opposition zur Politik des Bundes- und Regierungsrates. In weiteren Bereichen ist das Profil ausserhalb der Partei noch weniger eindeutig. Man ist gemäss Smartvote gemässigt bürgerlich, nicht konservativ, aber auch nicht liberal.

Bleibt also die Partei als Ganzes. Stabilisierend auf Schwankungen in der Beurteilung des Personals und des Programm wirkt sich in aller Regel die gefühlmässige Parteibindung aus. Nicht selten bildet sie sich in jüngeren Jahren aus, entwickelt eine gewisse Konstanz und ist sie emotional abgestützt. Genau das ist die Schwäche aller junger Parteien. Bei der BDP kommt hinzu, dass ihre Wählerschaft eher im mittleren und höheren Alter ist, sodass eher von Brüchen früherer Parteibindungen zu erwarten sind. Sie bilden nicht in jedem Fall jene Basis, dass sie neue Bindungen entwickeln können, wie das bei jüngeren Menschen gegenüber jüngeren Parteien geschehen kann.

Erste Hypothesen zur Erklärung der Niederlage
Eine erste Durchsicht der aktuellen BDP-Verluste legt zwei Hauptursachen und einigen Nebenursachen nahe. Klare Gründe für die Wahlniederlage orte ich im Wechselwählen hin zu GLP und SVP; weniger sicher bin ich, ob nicht auch Verluste an die FDP und EVP herangezogen werden müssen, und die Abwanderungen an die Nicht-(Mehr)-Wählenden. Müsste ich die 4,8 Prozentpunkte Rückgang im Wählenden-Anteil heute gewichten, würde ich je 2 Prozentpunkte mit Verlusten an GLP und SVP in Verbindung bringen, den Rest auf die drei anderen denkbaren Erklärungen verteilen.

Grafik 2: BDP-relevante Wählerströme bei den Grossratswahlen 2010/4
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Verluste an die SVP dürften vor allem im rechten Wählersegment von Belang gewesen sein. Plausibel ist, dass es sich dabei um ehemalige SVP-WählerInnen handelt, die zu ihrer angestammten Partei zurückgekehrt sind. Die BDP hat die in sie gesteckten Erwartungen nicht erfüllt. Wenn schon rechte Politik unterstützt werden soll, dann die des Originals. Aus genau umgekehrten Gründen dürfte die BDP Wählende an die GLP verloren haben. Hier handelt es sich um Wählende in der Mitte, für die die BDP zu stark nach rechts gedriftet ist. In ihrer verbreiteten Ungebundenheit wandern sie weiter, zum heutigen Hoffnungsträger, der GLP. Von ihr erwartet man, dass sie das Blockdenken überwinden hilft, und Lösungen in zentralen Dossiers wie beispielsweise der Bildungspolitik entwickeln wird.

Schliesslich ein Wort zur Mobilisierung. Der Streit zwischen SVP und BDP 2010 führte zu einer stark erhöhten Medienaufmerksamkeit für beide Parteien, die letztlich die Beteiligung an den damaligen Grossratswahlen ansteigen liess. Davon kann diesmal nicht die Rede sein. Die Teilnahmequote hat sich nach unten entwickelt, eine besondere Beachtung fand auf jeden Fall die BDP diesmal nicht. So würde es mich nicht erstaunen, wenn ein kleinerer Teil der Verluste auf Demobilisierung zurückgehen würde.

Den letzten Punkt muss die BDP hinnehmen, die beiden ersten kann sie duch bewusste Parteiarbeit beeinflussen.

Die BDP in Gründungskantonen und anderswo
Die Analyse, die ich hier in der notwenigen Vereinfachung gemacht habe, soll auch nicht darüber hinweg täuschen, dass die BDP insgesamt eine Siegerpartei ist. Bei kantonalen Wahlen hat sie zwischen 1 und 1,5 Prozentpunkte zulegen können. Wachsend ist die junge Partei vor allem in Kantonen wie Thurgau, St. Gallen und Solothurn, aber auch Fribourg und Aargau zählen dazu. Schwieriger einzuschätzen ist die Lage in der anderen BDP, nämlich den Kantonen, aus denen sie in der Gründungszeit hervorgegangen ist. Graubünden und Glarus wählen noch in diesem Jahr ihre kantonalen Behörden, sodass man bald klarer sehen wird, ob es sich bei der gestrigen Niederlage um eine Phänomen der Berner Partei handelt, oder ob die BDP in ihren Gründungskantonen bereits am Plafond angelangt ist, und Konkurrenzparteien um verlorene WählerInnen aus den BDP-Reihe kämpfen.

Momentan bleibt, dass die Berner Wahlen das bisherige Highlight waren, im Guten und im Schlechten. Höchstwahrscheilich ist die jetzige Parteistärke realistischer als die vor 4 Jahren. Nur muss sie jetzt gehalten werden können. Denn auf die nationale Stärke wirkt sich das Ergebniss in Bern erheblich aus. Gewinne in neuen Kantonen werden so schnell zu nichte gemacht. Aendern wird sich vor allem die Medienaufmerksamkeit. Sie dürfte kritischer werden, der journalistisch gesprochen ist die BDP angezählt. Dem muss die Partei schnell etwas entgegenstellen, will sie 2015 eine Gewinner-Partei sein. Denn die Hoffnung auf Veränderungen ist gerade bei neuen Parteien ein wichtiger Treiber des Erfolgs!

Claude Longchamp

Vom (Un )Sinn des geometrischen Mittels an Stimmen bei der Vertretung von Minderheiten in Mehrheitswahlen

Ein wenig tricky ist die Sache schon, wie der Berner Jura zu seinem garantierten Sitz in der Berner Kantonsregierung Kanton. Wie fast alles hat auch das seine Geschichte.

Wäre die Initiative für die Volkswahl des Bundesrates 2013 angenommen worden, wäre der Kanton Bern Pate bei der Bestimmung der BundesrätInnen aus den Sprachminderheiten gestanden. Denn das Begehren der SVP hätten der französisch- und italienischsprachigen Minderheit zwei Sitze im Bundesrat garantiert – berechnet nach der Berner Formel. Nun kam es anders, mit der Volkswahl des Bundesrates, und so bleibt die Berner Formel ein Unikum bei Regierungs(rats)wahlen.

Erfunden wurde sie, damit Sprachminderheiten bei Majorzwahlen von der Mehrheit nicht einfach majorisiert werden können. Ganz unbestritten ist das Verfahren nicht, aber es verhindert, das die Mehrheit der Minderheit ihre Vertretung in einer Regierung aufzwingen kann.

So bestimmt die Berner Formel, dass der Berner Jura, die Sprachminderheit im Kanton Bern, einen Sitz im Regierungrat auf sicher hat. Er geht an den oder die KandidatIn, der oder die die höchste Zahl hat aus der Wurzel des Ergebnisses im Berner Jura, multipliziert mit dem Resultat im gesamten Kanton, hat. Angewendet wird dieses Verfahren auf alle Fälle, aber nur bei den Kandidierenden aus dem Berner Jura.

Eingeführt wurde die Formel 1990, als der bernische Regierungsrat von 9 auf 7 Sitzen verkleinert wurde: zuerst, um den bisherigen Sitzanspruch der Minderheit weiter zu garantieren, sodann um das Wahlresultat von 1986 möglichst verhindern. Denn damals wurde nicht die FDP-Nationalrätin Geneviève Aubry aus dem Berner Jura Regierungsrätin, sondern Benjamin Hofstetter der Grünen Freien Liste -dies, obwohl die BernjurassierInnen Frau Aubry mehr Stimmen gegeben hatten als Herrn Hofstetter.

Diese Wahl war nicht ohne Bedeutung, denn mit dem Grünen aus dem Berner Jura wechselte die Regierungsmehrheit erstmals von rechts nach links. Das ist bis heute so, denn das Lager, das den garantierten Sitz im Berner Jura macht, hatte bis anhin jedes Mal auch die Regierungsmehrheit für sich. 1990 konnte die FDP mit Mario Annoni Punkten, 2006 war jedoch die SP mit Philippe Perennoud an der Reihe. 2010 scheiterte die FDP beim Versuch, mit Sylvain Astier den Jura-Sitz zurück zu erobern. Diesmal ist Grossrat Manfred Bühler von der SVP der Herausforderer. Und jedes mal gilt, wer Bernjurassier ist und im Berner Jura mehr stimmen macht, ist dank der Wurzel aus dem geometrischen Mittel der Ergebnisse aus dem Berner Jura und dem Gesamtkanton Berner Regierungsrat.

Immerhin, sowohl Annoni wie auch Perrenoud wären auch ohne diese Formel jeweils Regierungsrat geworden, denn sie lagen stets über dem absoluten Mehr und rangierten im Gesamtkanton mindestens auf Platz 7.
Tricky wird das Ganze erst, wenn keiner der Jura-Kandidaten das absolute Mehr erreicht und bei der Wahl im Gesamtkanton nur Achter ist. Dann kann es sein, dass der schlechtest gewählte Regierungsrat bei der Wahl im gesamten zugunsten eines Bernjurassier ausscheidet – ein wenig kehrt sich dann der Sinn der Minderheitenvertretung in einen demokratischen Unsinn!

Claude Longchamp

Wahlen im Kanton Bern: Hochrechnung und nützliche Links für den Wahlsonntag

Heute Sonntag wählt der Kanton Bern sein Parlament und seine Regierung neu. Hier das Angebot von gfs.bern via Internet und die nützlichsten Links dazu.

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Das Forschungsinstitut gfs.bern liefert ab 14 Uhr Ergebnisse zu den Regierungsratswahlen. Bis 15 Uhr werden nur Trends kommuniziert, die enizig Rückschlüsse auf die Reiehenfolge der Bewerbungen zulassen. Um 15 Uhr erfolgt die erste Hochrechnung zum gesamten Kanton und zum Jura Sitz.

Terminplan:
1400-1430 Trendrechnungen, nur Reihenfolge der Kandidaturen im gesamten Kanton
1500-1730 Hochrechnungen im Halbstundentakt: Angaben zu Gewählten und nicht gewählten im gesamten Kanton und für den Jura-Sitz

Die Resultate der Hochrechnung basieren auf den Endergebnissen von 220 Gemeinden. Im Berner Jura führen wir eine Vollerhebung durch, im Rest-Kanton machen wir das mit einer Auswahl repräsentativer Gemeinden für die Regionen.
Um 18 Uhr werde ich auf meinem Blog “Zoonpoliticon” eine Erstanalyse platzieren.
Wer den Wahlsonntag mit uns via Intenet verfolgen will, kann dies via nachstehende Linkliste tun.

Wahlsonntag
. Hochrechnung Gfs.bern
. TeleBärn
. Regionaljournal SRF Bern-Freiburg-Wallis
. Analysen Zoonpoliticon
. Twitter @kanton_bern @cantondeberne @gfsbern @claudelongchamp @TeleBaernTV @srfbern @Mark_Balsiger @bernerzeitung @derbund @peter_jost, @BernhardRentsch, beste hashtags #be14 #bevote14

Amtliche Angaben
. Aktuelle Wahl: Website des Kantons Bern
. Zurückliegende Wahlen: Website des BfS
Parteien
. SVP
. SP
. BDP
. FDP
. Grüne
. GLP
. EDU
. EVP
. CVP

KandidatInnen
4 gewinnt: Bewährte Regierung
UmSchwung
Marc Jost (EVP)
Barbara Mühlheim
Bruno Moser
Beat Zoss (nicht wählbar)

Smartvote
. Regierungsratswahlen
. Grossratswahlen

Massenmedien
. Berner Zeitung
. Der Bund
. Bieler Tagblatt
. Le Journal du Jura
. Regionaljournal SRF Bern-Freiburg-Wallis
. Schweizer Radio und Fernsehen
. Radio et Télévision Suisse romande
. TeleBärn
. Tele Bielingue
. Radio Bern1
. Radio Bern 95,6 FM
. Canal3

Blogs
. Wahlkampfblog
. Wahltag (Der Bund)

Erosion und Neueinbindung der WählerInnen im Kanton Bern

Das Parteiensystem des Kanton Bern ist in den letzten 40 Jahren zwei Mal erschüttert worden. Vom ersten Beben 1886 konnte die Linke profitieren. Das zweite war 2010 mit der Entstehung der BDP. Noch ist nicht klar, was daraus wird.

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“Dealignment” und “realignment” gehören zu den Hauptkonzepten der politikwissenschaftlichen Wahlanalyse. Dealignment meint Erosion von Parteibindungen; realignment bezeichnet Neueinbindungen. Hintergrund der Konzepte ist die Theorie der Konfliktlinien. Demnach sind (westliche) Gesellschaften entlang kultureller und sozialer Brüche gespalten. In der Vergangenheit entstanden, wirken solche Trennlinien nach, wenn sie von exemplarischer Natur sind und wenn sie von politischen Gruppierungen mehr als über den Moment hinaus organisiert werden.

Konfliktlinien im Kanton Bern

Die wichtigsten Konfliktlinien im Parteiensystem des Kantons Bern sind die Links/Rechts-Achse mit den Gegensatz zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft sowie der Widerspruch zwischen Konservatismus und Liberalismus. Erosion von Parteibindungen meint in diesem Zusammenhang, dass die Strahlkraft dieser zentralen Ideologien nachlässt. Neueinbindung meint das Gegenteil, denn in dieser Perspektive kommt zu neuen weltanschaulichen Allianzen zwischen neuen oder erneuerten Parteien einerseits, bestimmten Gesellschaftsgruppen anderseits.
Zweifelsohne war die Wahl von 1986 ein zentraler Einschnitt: Im Vorfeld dominierte die Auseinandersetzung zu den “schwarzen Kassen”, deren sich Kanton bei der Umsetzung der Trennung des Kantons Jura bedient hatte. Die Finanzrevision brachte dies ans Tageslicht und löste damit eine Welle der Empörung aus. Geschadet hat diese Wahl vor allem der SVP, bis dahin die unbestritten führende Kraft im Kanton Bern. Einerseits sank die Wahlbeteiligung um 7 Prozentpunkte ab. Anderseits wurden die drei damaligen Regierungsparteien geschwächt, am meisten die SVP, etwas weniger die FDP und SP.

Der Einschnitt von 1986

Schlagartig etablierten sich 1986 die Grünen, vor allem in Form der Grünen Freien Liste. Zwei Gründe waren massgeblich: Die personalpolitische Erneuerung, die Führung durch Leni Robert, der ersten Regierungsrätin im Kanton, und die Anlehnung an die Oekologisierung politischer Ideen, 1984 durch die Debatte über das Waldsterben populär geworden.
Rückblickend gesehen profitierte von der 1986er Wahl vor allem die SP. Ihr gelang es als einziger grosser Partei, sich von Wahl zu Wahl zu verstärken. Sie erneuerte sich, vor allem durch die Feminisierung der Politik, womit die Selbstentfaltung der Menschen jenseits kollektivistischer Ideen der Linke in Schwang kam.
Doch nicht nur die SP war Nutzniesserin dieses Einschnitts. 2002 ging die Erneuerung der SP über an die die Grünen, klarer links positioniert, aber in verschiedene Richtungen aufteilt. Nun waren sie es, die spektakulären Wahlerfolge feierten, teils zulasten der SP. Zusammen reichte es aber, um dass die personell erneuerte Linke 2006 die Regierungsmehrheit übernahm.

Der Einschnitt von 2010
2010 war der zweite Donnerschlag im Parteiensystem des Kantons. 16 Prozent Wählende auf Anhieb ist bernischer Rekord. Dafür zuständig war namentlich die BDP. 2008 als Abspaltung der SVP entstanden, die im Gefolge der Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat auch im Kanton Bern eine Oppositionspolitik gegen die linke Regierungsmehrheit führte, bildet sich vor allem aus den regierungstreuen Kräften in der Fraktion eine neue Kraft, die bei ihrem ersten Auftritt nicht nur eine unerwartete Stärke erreichte, sondern unzufriedene WählerInnen im gemässigten Spektrum von rechts bis links an sich zog. Hinzu kam das erstmalige Auftreten der GLP, die namentlich im Mitte/Links-Spektrum für Neueinbindungen sorgte.

Weitere Neueinbindungen
Die Wahlen 2006 und 2010 waren zudem durch eine leicht steigende Wahlbeteiligung gekennzeichnet. Hatte diese seit Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts stets leicht nachgelassen, kam es nun durch neue Angebote in der Parteienlandschaft, aber auch durch neue Formen der Mobilisierung zu einer Trendwende in der Teilnahme an Wahlen.
Eine weitere, weniger spektakuläre Form der Neueinbindung findet sich seit den 80er Jahren im konservativen Spektrum. Denn mit der EVP und der EDU konnten sich zwei, religiös fundierte Parteien platzieren, eine eher rechtkonservativ, eine mehr in der konservativen Mitte politisierend. Gebremst wurde ihr fast kontinuierlicher Anstieg erst 2010, wohl wegen der Konkurrenz durch die BDP.

Bilanz
Die Bilanz: Das Parteiensystem im Kanton Bern hat sich in den letzten 40 Jahren zweimal gehäutet:
1986 und 2010. Die erste Häutung nütze der linken, die wählermässig gestärkt und personell erneuert bei Regierungsratswahlen mehrheitsfähig wurde. Eine neue Herausforderung für Rotgrün ergab sich 2010 mit der GLP.
Die zweite Häutung ist jüngeren Datums, denn sie wurde im Wesentlichen durch die Gründung der BDP eingeleitet. Aktuell stecken wir mitten drin. Elektoral gab es bei der letzten Grossratswahl eine kräftige Unterstützung für die neue Kraft. Personell blieb die Erneuerung aber zurück, und auch weltanschaulich ist die BDP keine Innovation, denn sie setzt eher den staatstreuen, bürgerlichen Kurs der früheren BGB fort.
Wie weit sich daraus auch eine Neueinbindung von WählerInnen ergeben hat, bleibt vorerst offen. Denkbar sind drei Szenarien: Dass sich eine dritte bürgerliche Kraft zwischen rechts und der Mitte etabliert; dass die BDP mittelfristig die FDP beerbt; nicht ausschliessen kann man, dass die BDP nur eine vorübergehende Erscheinung war, die bei ihrem ersten Auftritt gleich auch ihren Höhepunkt hatte.

Oder anders gesagt: Die Bindungen der WählerInnen an die politsichen Parteien werden in Zyklen erschüttert. Entsprechend hat sich das klassische Parteiensystem des Kantons Bern ausdifferenziert. Erfasst wurde davon zuerst die Linke, die durch weltanschauliche und personelle Erneuerung wenigstens bei Regierungratswahlen mehrheitsfähig wurde. Gegenwärtig ist die bürgerlichen Seite dabei, ihre Spaltung von 2008 zu verarbeiten, mit dem Wunsch, ihrerseits wieder im Regierungsrat mehrheitsfähig zu werden.

Claude Longchamp

Kantonale Wahlen in Bern: Ausblick auf die Grossratswahlen 2014

Lange stabil, geriet das Parteiensystem des Kantons Bern 2010 aus allen Fugen. 2014 dürfte das Pendel an Veränderungen wieder zurückgehen. Mit welchen erwartbaren GewinnerInnen und VerlierInnen, diskutiert dieser Beitrag.

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Bei den Berner Wahlen 2010 schlug der Volatilitätsindex Purzelbäume. Hauptgrund war, dass das gemässig polarisierte Parteiensystem des Kantons durch das erstmalige Auftreten von BDP und GLP richtiggehend durchgeschüttelt wurde. 16 Prozent Stimmenanteil gingen an die BDP, gut 4 an die GLP. Da die Wahlbeteiligung mit 32 Prozent nur minim stieg, lag es nahe, von erheblichen WechselwählerInnen-Bewegungen auszugehen. In der Tat zeigte eine entsprechende Analyse, dass die BDP von Wählenden der FDP, SVP, EVP und SP profitieren konnte. Die GLP ihrerseits machte Stimmen bei ehemaligen WählerInnen der Grünen, SP und FDP.

2014 rechnet niemand mit solch drastischen Veränderungen. Die Wahlbeteiligung könnte sogar leicht sinken, orakeln veschiedene Partei- und MedienvertreterInnen. Bei den Grossratswahlen gebührt die grösste Aufmerksamkeit der BDP. Denn ihr trauen diverse Meinungsmacher nicht mehr zu, das Resultat von 2010 zu wiederholen. Dafür spricht, dass sie schon 2011 bei den Nationalratswahlen schwächer abschnitt. Und diesmal könnte ihr die Einordnung ins bürgerlicher Lager Stimmen in der Mitte und links davon kosten.

Die Börse “Wahlfieber“, das einzige Prognose-Instrument bei der diesjährigen Wahl im Kanton Bern, sieht die BDP neuerdings bei knapp 14 Prozent – womit die Partei die eigentliche WahlverliererInnen wäre. Verluste werden auch der FDP und den Grünen vorausgesagt. Demgegenüber rechnen die Börsianer mit Gewinnen für die GLP, allenfalls auch für die SP. Als stabil beurteilt werden SVP, EVP und EDU. Bliebe es dabei, wäre es für die GLP ein weiteres Durchstarten, für die SP und SVP eine Trendwende, derweil der Niedergang von FDP und Grünen im Kanton Bern anhalten würde.

Reiht man diese, nicht unplausible Erwartungen in die Trends der letzten kantonalen Wahlen ein, weicht effektiv nur die der BDP ab. Das hat gute Gründe: National war sie bei den letzten Wahlen eine 5 Prozent Partei, im Kanton Bern war sie 2010 drei Mal so stark. Damit dürften sie bereits an ein Limit gestossen sein. National braucht das nicht der Fall zu sein, denn sie kann sich in verschiedenen Ständen noch entwickeln.

Smartvote hat anhand der KandidatInnen eine interessante Uebersicht gemacht, wie die Parteien im Kanton Bern positioniert sind. Unterschieden wird dabei zwischen der Links/Rechts-Achse und einer Gegenüberstellung von konservativen und liberalen Präferenzen. Die SVP, kantonal die stärkste Partei, bildet dabei recht unangefochten den rechten Pol. Weniger rechts, aber konservativer positioniert sind die VertreterInnen der EDU. Zentrierter ist auch die FDP, zudem ist sie liberaler als die SVP. Nahe der Mitte sind BDP, CVP und auch GLP, wobei nur letztere eine liberale Ausrichtung kennt. Fragmentierter ist im Kanton Bern die Linke, wobei der PSA und die SP moderat links sind und mehr zum Zentrum neigen als alle grünen Gruppierungen. GFL, Grüne, die neue Alternative Liste siedeln links von ihnen. Das gilt insbesondere auch für die PdA und die Grüne Partei, mit der demokratischen Alternative fusioniert, die den eigentlichen Gegenpol zur SVP bilden.

Politologe Adrian Vatter klassiert das Parteiensystem im Kanton Bern als typisches Mehrparteiensystem mit hoher Fragmentiertung, aber ehrheblicher Mitte-Orientierung. Die Stabilität erschien ihm bei seiner letzten Einschätzung höher als eigentlich erwartbar. Das hatte damit zu tun, dass die klassischen Konfliktlinien, die das grundlegende Parteiensystem mit SP, FDP und SVP hervorgebracht hatten, lange klar ausgebildet und bei Wahlen nachhaltig wirksam waren. Das ist seit 2010 sicher nicht mehr so, auch wenn sich das Pendel der Veränderungsbereitschaft 2014 eher wieder zurückbewegen dürfte.

Mehr wissen wir am Sonntag, wohl spät in der Nacht.

Claude Longchamp

Demokratiemuster in westlichen Gesellschaften neu klassiert und visualisiert

Der Datenjournalismus inspirierte mich: Was nicht grafisch aufgearbeitet wird, hat weniger Wirkung, gehört seinem Credo. Also bin ich hingegangen, Demokratiemuster zu visualisieren.

Die klassische Einteilung der demokratischen politischen Ssysteme basiert auf der Gegenüberstellung von präsidialer und parlamentarischer Demokratie. Als Vorbilder dienten dabei das us-amerikanische und das britische System. Seit 20 Jahren arbeiten verschiedenen Politikwissenschafter jedoch an anderen Einteilungen. Denn die angelsächsischen Demokratie-Typen basieren alle auf der Idee des Wettbewerbs – mit klar getrennter Regierung und Opposition.

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Die Demokratie-Realität selbst in den etablierten westlichen Demokratie ist komplexer. Am klarsten aufgezeigt hat dies der niederländisch amerikanische Politikwissenschafter Arend Lijphard. 1999 publizierte er die bahnbrechende Arbeit zu Muster der Demokratien. Dabei unterschied er zwischen generell zwischen Demokratien, die auf Mehrheits- resp. auf Konsensbildung einerseits ausgerichtet sind, anderseits sich hinsichtlich des Zentralisierung resp. Föderalisierung unterscheiden.

Grossbritannien ist demnach eine majoritär-unitarische Demokratie, die USA eine majoritär-föderale. Schweden kann als gutes Beispiel für ein konsensual-unitarisches System dienen, und die Schweiz steht für das konsensual-föderale Muster einer Demokratie.

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Lange dominierte seine Lijphart’sche Landkarte der Demokratiemuster die Typisierung von Demokratien. Bis Adrian Vatter, Schweizer Politikwissenschafter, ausgehend von seiner Replikation mit neuen Daten Bedenken anmeldet, vor allem weil die Formen der direkten Demokratie fehlten. Namentlich mit der Zunahme von Volksentscheidungen ausserhalb der Schweiz konnte man das nicht mehr als Sonderfall abtun. Mit seinem neuen Buch über das politische System der Schweiz hat Vatter Ende 2013 eine weitere Typisierung vorgelegt, welche die beiden Dimensionen von Lijphart berücksichtigt, sie aber durch den Grad an direkter Demokratie ergänzt. Diese neue Einleilung hat den Vorteil, die Ausbildung direktdemokratischer Elemente in politischen Systeme besser lokalisieren zu können.

Vatters Schluss: In Mehrheitsdemokratien bleibt die Ausbildung direktdemokratischer Elemente auf nationalstaatlicher Ebene zurück. Mehr davon findet sich dagegen in konsensual ausgerichteten Demokratien. Es gibt sie sowohl in unitarisch wie auch föderal strukturierten Systemen. Dänemark steht für den ersten Fall, Italien für den zweiten. Selbstredend gehört auch die Schweiz zu diesem.

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Ich habe versucht, die etwas abstrakten Landkarten von Lijphart und Vatter mal für Europa nachzuzeichnen – und zwar so, wie wir Landkarten herkommelicherweise kennen. So kommt visuell zum Ausdruck, welche Demokratiemuster heute wo vorkommt. Was dabei herausgekommen ist, zeigen die drei konkreten Landkarten.

Claude Longchamp

Politikwissenschafter Thomas Milic verstärkt das Forschungsinstitut gfs.bern

Dr. Thomas Milic, langjähriger Oberassistent für Politikwissenschaft an den Universitäten Zürich und Bern, wechselt auf den 1. Juli 2014 an das Forschungsinstitut gfs.bern.

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Der Verwaltungsrat von gfs.bern hat nach seiner heutigen Sitzung eine prominente Verstärkung des Forschungsteams bekannt gegeben. Mit Thomas Milic konnte einer der profiliertesten Abstimmungsspezialisten in der Schweiz verpflichtet werden.
Das Forschungsteam am gfs.bern kennt den 42jährigen Politikwissenschafter seit vielen Jahren als zuverlässigen Autor zahlreicher VOX-Analysen eidgenössischer Volksabstimmungen. Begonnen hat die weitere Zusammenarbeit mit der Dissertation von Thomas Milic zu „Ideologie und Stimmverhalten“. Denn der Autor führte in der Folge die damals verwendeten Methoden und Konzepte via Weiterbildungen erfolgreich in die interne Weiterbildung des Forschungsteams ein.
Thomas Milic wird ab Mitte Jahr ganz als Projektleiter im gfs.bern arbeiten. Er wird das Forschungsteam von Lukas Golder und Martina Imfeld verstärken. Gleichzeitig wird er mit Claude Longchamp die neue „Stiftung Datenarchiv“ aufbauen, welche die gfs-internen Datensätze von allgemeinem Interesse für die wissenschaftliche Forschung erschliessen soll. Ferner wird Thomas Milic mit dem Institutsleiter an der Weiterentwicklung der Wahl- und Abstimmungsforschung von gfs.bern arbeiten.
Der Politikwissenschfter Milic wird seinen Lehrauftrag an der Universität Zürich behalten, aber keine Forschungsprojekte mehr betreuen. Die VOX-Analysen an der Uni Zürich wird Flavia Fassati verfassen, jene an der Uni Bern Anja Heidelberger.
Ich heisse Thomas Milic herzlich willkommen und wünsche im gutes Gelingen an seinem neuen Wirkungsort.

Claude Longchamp

Wahlen im Kanton Bern 2014: Wenn der Jura-Sitz über die Mehrheitsverhältnisse entscheidet

Amtsinhaber-Bonus und Jura-Sitz-Garantie. Das sind die zwei zentralen Stichworte der Analyse bernischer Regierungsratswahlen. Wobei letzteres fast wichtiger ist, denn die Vertretung des Berner Juras entscheidet seit 1986 über die politische Mehrheit in der Berner Kantonsregierung.

Regierungsrat 2013
Ist die alte Regierung im Kanton Bern gleichzeitig auch die neue? Darüber entscheidet höchstwahrscheinlich der garantierte Sitz des Berner Juras.

Der Vorteil der Amtsinhaber
Amtsinhaber-Bonus heisst das erste Zauberwort einer jeden Analyse von Regierungsratswahlen in der Schweiz. Gemeint ist damit, dass wiederkandidierende Bisherige eine deutlich höhere Wahlchance haben als neue BewerberInnen. Die Wahrscheinlichkeit, als amtierender Regierungsrat oder amtierende Regierungsrätin bestätigt zu werden, beträgt 93 Prozent. Das haben die Politologen Thomas Milic und Adrian Vatter aufgrund aller Regierungsratswahlen seit 2000 unter Majorzbedingungen errechnet. Drei Gründe können hierfür vorgebracht haben: Einmal gewählt, nimmt die Bekanntheit stark zu, denn aus Gemeinde-, Stadt- oder RegionalpolitikerInnen werden durch die Wahl Kantonsvertreter. Zudem können sie sich mit ihrer Amtstätigkeit profilieren; selbst wenn sie gelegentlich kritisiert werden, ihre Akzeptanz steigt, vor allem bei der ersten, manchmal auch bei der zweiten Wiederwahl. Schliesslich haben Regierungsmitglieder in aller Regel gelernt, den guten Zeitpunkt für einen Rücktritt selber zu erkennen. Sesselkleben über 16 oder 20 Jahre hinweg sind im anspruchsvollen Job selten geworden.
Nun bewerben sich 2014 alle sieben bisherigen Regierungsmitglieder für eine weitere Amtsperiode. „Alles paletti?“, fragt man sich nicht ganz zu Unrecht.

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Die politische Bedeutung des Jura-SitzesJede Analyse von Regierungsratswahlen im Kanton Bern wäre allerdings unvollständig, würde sie eine Eigenheit der hiesigen Wahlen ausser Acht lassen. Das zweite Zauberwort heisst denn auch „Jura-Sitz“. Formell konzipiert, um dem französischsprachigen Berner Jura einen Sitz in der Berner Regierung zu garantieren, ist ihm ein den letzten sieben Wahlen eine weitere Bedeutung zugekommen. Denn seit 1986 drehen sich Berner Wahlen nicht nur um Personen und Parteien; vielmehr geht es auch um die Frage, wer die Mehrheit in der Regierung hat – und diese bestimmt jeweils der Jura-Vertreter. Bis 1986 war dies traditionsgemäss ein Freisinniger innerhalb der nach dem freiwilligen Proporz zusammengestellten Regierung mit rechter Mehrheit. 1986 wechselte der Jura-Sitz für vier Jahre in die Hände der Grünen Freien Liste, die zusammen mit der SP die erste rotgrüne Kantonsregierung bildete. Zwischen 1990 und 2006 wurde in der auf sieben Mitglieder reduzierten Regierung die alten Mehrheiten mit 4 SVP/FDP VertreterInnen hergestellt, dank dem Sitzgewinn der FDP im Berner Jura. Und auch 2006 gab der nördlichste Zählkreis den Ausschlag. Mit der Wahl des Sozialdemokraten Philippe Perrenoud als Jura-Vertreter in den Regierungsrat bekam dieser erneut eine linke Mehrheit.

“Um Schwung” oder “Bewährte Regierung?”
2010 scheiterte der Versuch der FDP, erneut via den Berner Jura die Machtverhältsnisse zu kippen. Kandidat Astier kam über einen Achtungserfolg nicht hinaus; er unterlag dem Bisherigen Perrenoud, sowohl im Berner Jura wie auch im Gesamtkanton deutlich.
Diesmal ist die Ausgangslage für einen Wechsel der Mehrheiten jedoch anders: günstiger und ungünstiger zugleich, denn mit Kandidat Manfred Bühler bewirbt sich erstmals ein SVP-Vertreter, um den Berner Jura zu vertreten. Er zählt darauf, Repräsentant der grössten Partei im Kanton zu sein, und er möchte das erreichen, was in letzter Zeit Oskar Freisinger im Wallis und Ivan Perrin in Neuenburg fertig gebracht haben: die SVP auch in der französischsprachigen Schweiz regierungsfähig zumachen. Doch tritt mit ihm ein kantonal wenig bekannter Politiker an, dessen wichtigster Leistungsausweis ist, seit vier Jahren einer von 160 Grossratsmitglieder zu sein. Zudem ist die SVP im Berner Jura nicht eindeutig die grösste Partei,zum die SP und der PSA bei dieser Wahl zusammenspannen.
Günstiger fallen seine Wahlchancen aus, weil sich die politischen Parteien rechts der Mitte zu einer Wahlallianz zusammen gefunden haben. „Um Schwung“ für den Kanton Bern bestrebt sind SVP, BDP und FDP, mindestens wenn man ihrem Wahlslogan Glauben schenken darf. Dem Vorbild in den Kantonen Basellandschaft und Freiburg folgend, wo eine gemeinsame bürgerliche Liste linke Mehrheiten verhinderte, suchen sie nämlich 2014 erstmals wieder den gemeinsamen Erfolg.
Würden alle ParteiwählerInnen stramm die KandidatInnen ihres Lagers wählen, wäre es klar: Bühler müsste gewählt werden, denn seine Hausmacht im Kanton beträgt zwischen 50 bis 55 Prozent; jene von Perrenoud liegt bei knapp einem Drittel. So ist das so einfach nicht, denn im Kanton Bern erlaubt das Wahlrecht überparteiliche Wahlbündnisse einzugeben, nicht aber vorgedruckte Wahlzettel in die Haushalte zu verschicken. So muss jeder Wähler, jede Wählerin, die Mitglieder, die er oder sie gerne in der Regierung hätte, eigenständig aufschreiben. Gewählt ist, wer das Mehr an Stimmen durch sieben erreicht. Ist kein Vertreter aus dem Berner Jura dabei, wird automatisch jener Vertreter dieses Zählkreise Berner Regierungsrat, der aus einem speziell ermittelten Mix aus Stimmen im Berner Jura und Restkanton an der Spitze liegt.

Mein vorläufiger Schluss
Was bedeutet dies alles? Der bisherige SP-Gesundheitsdirektor aus dem Berner Jura hat eine schwierige Amtsperiode hinter sich. Mehrfach folgte ihm der bürgerlich geprägt Grosse Rat nicht, und in den Massenmedien war er vor allem letztes Jahr Gegenstand von Angriffen gegen seine Person. Doch gilt auch hier, was die Kollegen Milic und Vatter festgehalten haben. Der Amtsinhaber kann auf einem beträchtlichen Bonus aufbauen. So wurden wurde schon zwei Mal auch ohne Jura-Sitz-Garantie gewählt; er verfügt über Regierungserfahrung, und er ist der klar bekanntere unter den Jura-KandidatInnen.
Bewährte Regierung also? Ich rechne damit, dass Perrenoud rund 40 Prozent der Stimmen machen wird und damit wohl über dem absoluten Mehr im gemässigten Majorzverfahren zu liegen kommt. Denn er kann auf eine weitgehende geschlossene Hausmacht und eine gewisse Ueberparteilichkeit zählen. Diese Vorgaben muss Manfred Bühler zuerst erreichen. Ausgeschlossen ist es mit einer gut funktionierenden bürgerlichen Allianz nicht, die Vorgabe ist aber hoch. Sie braucht viel “Um-Schwung”.

Claude Longchamp

Wahlen im Kanton Bern 2014: Die Aussichten der Parteien im Parlament

In gut zwei Wochen wählt der Kanton Bern sein neues Parlament. Traditionellerweise ist es mehrheitlich bürgerlich zusammengesetzt; seit 2006 steht es allerdings einer rotgrün dominierten Regierung gegenüber. Was wird daraus? Hier meine Analyse.

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Wahlen im gemässigten Mehrparteiensystem
Zu Recht zählt Politologe Adrian Vatter in seinem eben erschienen Buch zum politischen System der Schweiz das Parteiensystem des Kantons Bern zu den gemässigten Mehrparteiensystemen. Anders als in den Grossstädten oder urbanen Kantonen ist es weniger durch eine Polarisierung nach links geprägt. Vielmehr tendiert es zur Mitte. Und im Gegensatz zu den meist ländlichen Kleinkantonen beschränkt sich die Auswahl aber auch nicht wenige Parteien, sondern auf ein breites Spektrum.
Wahlstatistische Kennzeichen sind eine vergleichsweise überdurchschnittliche Zahl an politischen Parteien, gemessen mit der Fragmentierung des Parteiensystems, und eine eher mittlere Polarisierung zwischen den Blöcken, bestimmt an der ideologischen Distanz der grossen Parteien. In den grossen Städten des Kantons ist das zwar nicht mehr der Fall, denn rote und grüne Parteien haben die öffentlichen Debatten mit ihren Themen erweitert. Dem steht aber eine insgesamt solide SVP gegenüber, die auf dem Land ungebrochen die Vorherrschaft ausübt und eine gemässigt-konservative Gegenkraft ist.
Zu den Eigenheiten des bernischen Parteiensystems zählt Vatter die Volatilität, die für die Zahl der Parteien unterdurchschnittlich ausfalle. Hauptgrund ist die Verankerung des Parteiensystems in den klassischen Konfliktlinien, der Links/Rechts-Spaltung, der Teilungen zwischen SVP und FDP sowie zwischen SP und Grünen. Vielleicht, könnte man anfügen, ist auch die Situation der grünen Parteien besonders: Angeführt werden sie vom linken Grünen Bündnis, ohne dass es dieser Gruppierung je gelungen wäre, für alle grünen WählerInnen der bevorzugte Ansprechpartner zu werden.

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Die jüngsten Entwicklungen
Der Grad an Wettbewerb im bernischen Parteiensystem ist nach 2008 deutlich gestiegen. Die Parteispaltung zwischen SVP und BDP, die ihren Ursprung unter anderem im Kanton Bern hatte, war der Startschuss hierzu. Hinzu gekommen sind, wie andern Orts auch, die Grünliberalen.
Eigentlicher Wahlsieger bei den letzten Grossratswahlen war denn auch die BDP, die auf Anhieb 16 WählerInnen-Prozente hinter sich scharte. 25 ParlamentarierInnen hat sie seither im 140köpfigen Grossen Rat des Kanton, und mit Beatrice Simon gelang ihr auch gleich der Einzug in den Regierungsrat. Wahlanalysen von 2010 zeigten, dass die BDP vor allem FDP-Stimmen holte, beschränkt aber auch von der SVP, der EVP und auch von der SP profitieren konnte. Zweiter Sieger 2010 war die GLP, die seither 4 GrossrätInnen stellt. Sie konnte sich namentlich zu Lasten der Grünen, beschränkt auch der SP und FDP etablieren.

Die Aussichten 2014
Was nun wird 2014 geschehen? Genaues weiss man nicht, denn kein Medium hat eine Wahlvorbefragung erstellen lassen. Geldmangel für repräsentative Befragung in einem vielschichtigen Kanton mit einem erheblichen Stadt/Land-Gegensatz mögen die Hauptgründe dafür gewesen sein. So ist man auf indirekte Schätzungen angewiesen, um voraussichtliche Trends zu eruieren. Hier meine Uebersicht.

Erstens, die Zeitung “Der Bund” erstellte vor Wahlkampfbeginn eine ausführliche Analyse nach Wahlkreisen. Geschätzt wurde, wer neue Sitze bekommen und alte verlieren dürfte, wer 2010 Proporzglück und –pech hatte, und wo sich spannende Zweikämpfe abzeichnen. Die Bilanz ist recht klar: Erwarteter Sitzsieger ist die SVP, gleichauf mit der GLP. Sitzverluste dürften sich am ehesten bei der FDP einstellen, wohl auch bei SP und Grünen. Selbst die BDP ist nicht frei von möglichen Einbusse, sodass sie nach dem steilen Start nun stagnieren oder leicht verlieren könnte. Sicher, das Verfahren ist konservativ, es unterstellt Stabilität. Alleine kann es nicht stehen bleiben.
Zweitens, klar mehr im Wind der Möglichkeiten steht die Prognose der Börsianer auf “Wahlfieber”. Sie wetten, wer gewinnt und wer verliert; wer am besten tippt, ist der Wettkönig. Die Schätzungen haben sich bereits einigermassen stabilisiert: Demnach könnten GLP und SVP zulegen, stabil erscheint die SP, derweil die FDP, die BDP und die Grünen am ehesten Verluste hinnehmen dürften.

Die Einordnung in die gesamtschweizerische Grosswetterlage
Wie reiht sich das in die gesamtschweizerischen Tendenzen ein? Abwägig ist dieser Vergleich nicht, denn der Kanton Bern ist bevölkerungsmässig der zweitgrösste Gliedstaat der Schweiz.
Seit den letzten Nationalratswahlen sind GLP und BDP die Siegerparteien in den kantonalen Wahlen gewesen. 2012 zählte auch die SP hierzu, aktuell ist die Bilanz gemischt. Im ersten Jahr nach den Wahlen war die Bilanz für die SVP negativ, aktuell ist sie wieder positiv. FDP, CVP und Grüne haben in den vergangenen zweieinhalb Jahren mehr verloren als gewonnen. Abstimmungsmässig stehen die GLP, CVP und BDP an der Spitze. Gelegentlich setze sich aber das linke Lager durch, wie bei der Zweitwohnungs- oder bei der Minderinitiativen, derweil die SVP mit der Volksinitiative gegen Masseneinwanderung einen Abstimmungssieg gegen den Rest erzielte. Je nach Themenlage tendiert die Schweiz mehr nach links oder nach rechts. Konservative, selbst rückwärts gewandte Positionen sind im Schwang.

Vorläufige Bilanz
Was alles bedeutet das? Jedes einzelne Instrument hat Stärken und Schwächen. Letztere lassen sich verringern, wenn man die Verfahren kombiniert.
Am wenigsten würde überraschen, wenn bei den bernischen Grossratswahlen in gut zwei Wochen die GLP zulegen würde. Gewinne kann es auch für die SVP, allenfalls auch SP geben. Die im Kanton Bern besonders starke BDP dürfte sich insgesamt halten, während es für FDP und Grüne zu Verlusten führen dürfte.
Eine klare Wende nach rechts und nach links dürfte eher ausbleiben. Etwas zunehmen könnte aber die Polarisierung, denn der Konsens in der bernischen Politik ist in den letzten vier Jahren in Steuer-, Verkehrs-, Energie- und Migrationsfragen eher geringer geworden.
Einiges hängt direkt von der Beteiligung ab. Wahlkämpfe im Kanton Bern sind noch stark vom Denken im gemässigten Mehrparteiensystem abhängig. Schrill, wie in polarisierten Kantonen, sind sie kaum je gewesen, und auch heuer zeichnet sich das nicht ab. So ist zu erwarten, dass sich rund ein Drittel der Wahlberechtigten an den Parlamentswahlen beteiligen werden. Gegenüber der Stimmbeteiligung am 9. Februar deutlich weniger!

Claude Longchamp

Konfliktherd Agglomeration

Politische Analysen im urbanen Raum der Schweiz sind selten. Umso mehr sollte man sich für die spärlichen Forschungsergebnisse hierzu besonders interessieren. Hier meine Besprechung der jüngsten Dissertation zum Thema – mit viel Lob und ein wenig Tadel.

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Themenstellung
Urs Scheuss hat sich während Jahren mit Agglomerationen auseinander gesetzt. Schon seine 2003 erschiene Lizentiatsarbeit zu „Demokratie und Agglomeration“ war dem Thema gewidmet. Nun liegt seine Doktorarbeit in der Druckfassung vor, und auch sie beschäftigt sich mit dem Forschungsgebiet. Uebertitelt ist die Arbeit, die im Rahmen des NCCR Demcoracy bei Daniel Kübler an der Uni Zürich entstanden ist, mit „Konfliktherd Agglomeration“. Versprochen wird via Untertitel eine Analyse der politischen Gegensätze im urbanen Raum der Schweiz.
Ausgangspunkt der Arbeit sind die Veränderungen in den Wähleranteilen in den sieben ausgewählten grossen Agglomerationen der Schweiz. 482 Gemeinden auf Schweizer Boden, zu den Agglomerationen Zürich, Basel, Genf, Bern, Lausanne, Luzern und Lugano zählend, bilden die Grundlage der Untersuchung. Betrachtet wird der Zeitraum von 1970 bis 2000.

Hauptergebnisse
Als Erstes erfährt man, dass die Agglomerationen insgesamt durch eine Polarisierung der politischen Orientierungen geprägt ist resp. war. Mit Ausnahme der Agglomeration Lugano kennen alle untersuchten Ballungsräume einen steigenden Anteil linker WählerInnen. Dieser hat über alle seiben Agglos hinweg von 22 auf gut 28 Prozent zugenommen. Auch bei der SVP gibt es ein entsprechendes Wachstum, denn ihr Wählenden-Anteil ist von 14 auf 21 gestiegen. Gegen den Trend entwickelt haben sich hier die Agglomerationen Bern und Lausanne, denn da sank der Wähleranteil der SVP.
Viel wichtiger als das sind, zweitens, die statistischen Analysen, die unter drei Gesichtspunkten erfolgen: Erstens aufgrund der sozioökonomischen Zusammensetzung der Gemeinden, zweitens hinsichtlich des Kontextes einer Gemeinde im Gesamtgfüge der Agglomeration, und drittens aufgrund des Grades an geschlossenen Beziehungen.
Die Regressionsanalysen zwischen Partei(block)stärke und Merkmalen der Gemeinden resp. ihren BewohnerInnen legen insgesamt nahe, dass die heutigen Linksparteien in Agglomerationsgemeinden stark sind, wenn diese spät urbanisiert wurden, wenn der öffentliche Verkehr stark genutzt wird und wenn sie eher unterdurchschnittlichen sozioökonomischen Status haben. Das ist anders als in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, denn damals war die Linke in früh urbanisierten Gemeinden mit starker sozioökonomischer Benachteiligung stärker, und einen Zusammenhang mit der OeV-Nutzung gab es damals nicht.
Dafür ist die SVP heute in früh urbanisierten Gemeinden stark, wo grössere sozioökonomische Benachteiligungen herrscht, ebenso dort, wo es keine ausgeprägte OeV-Nutzung gibt und dies obwohl die Distanz zum Zentrum hoch ist. Auch das hat sich geändert, denn 30 Jahre zuvor war sie in spät urbanisierten Gemeinden stärker, ebenso in Gemeinden ohne sozioökonomische Benachteiligung.
Der nachgewiesen Wandel in den Partei(block)stärken ist nicht kontinuierlich. Vielmehr sind die Veränderungen in der Regel zwischen den Wahlen von 1991 und 1999 erheblich. In dieser Zeitspanne wächst die Linke nur noch beschränkt (in der Agglo Luzern gar nicht mehr), die Rechte dagegen stark, namentlich in den Agglomerationen Luzern, Zürich und Basel. Und, in genau dieser Periode ergibt sich die Umschichtung in früh urbanisierten und benachteiligten Gemeinden, deren Präferenzen bis in die 80er Jahre linker waren, jetzt rechter sind.

Interpretationen
Urs Scheuss interpretiert diese Befunde im Rahmen der Theorie(n) zu Konfliktlinien: Diese unterstellen, dass politische Orientierungen eine Folge der Sozialstruktur und von grösserer Dauer sind, mit dem Wandel der gesellschaftlichen Bedingungen aber auch ändern können. Vereinfacht gesagt, wählt die (urbane) Arbeiterschaft die SP, das Bürgertum die FDP. Doch warum wählt man SVP? Da gehen auch die Ansichten in den Theorien auseinander.
Stein Rokkan, der Vater aller Analysen zu Cleavages argumentierte, die Allianzbildung unter den Akteuren sei entscheidend, also wer in einem Konflikt mit wem eine Verbindung eingeht. Derweil meint Stefano Bartolini, sein Nachfolger unter den AnalytikerInnen von Konfliktlinien, man stelle besser auf geschlossene politische und soziale Beziehungen, sprich Milieus, ab. Scheuss steht hier klar auf der Seite von Bartolini.
Wo sich ein Wandel einstellt, gibt es ebenfalls zwei Positionen: Gemäss der ersten können die vorherrschenden Konflikte ändern, sodass neue Trennlinien auftreten, während die zweite eine Emanzipation der Individuen von politischen Organisationen unterstellt, mit einer generell abnehmenden Bedeutung von Konfliktlinien für Parteibindungen und Wahlentscheidungen.
Eine brauchbare Antwort auf Letzteres gibt die Dissertation nicht, denn die Hypothesen, die zur Konfliktstrukturierung hergeleitet wurden, liessen sich kaum bestätigen. Als Grund kann man annehmen, dass nicht die Konflikte in Gemeinden strukturierend wirken, sondern die nationalen oder kantonalen einen Einfluss auf Wahlentscheidungen (bei überregionalen Wahlen) haben. Empirisch nachweislich sind dagegen die postulierten Zusammenhänge bei den übrigen Bestimmungsgründen. Scheuss präferiert dabei, aufgrund stringenterer empirischer Befunde, Argumente aus dem räumlichen Kontext einer Gemeinde, ergänzt durch die sozialwirtschaftliche Merkmale ihrer EinwohnerInnen.
Konkret: Die linken Parteien wachsen in Gemeinden, die auf öffentlich-kollektiven Konsum setzen. Gemeint ist damit die Förderung von Infrastruktur, die der Allgemeinheit zu Gute kommt, beispielsweise der Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Die Rechte wiederum wird dort stärker, wo der Konsum privat-individuell ausgerichtet ist, sprich günstige Steuern reiche BewohnerInnen anziehen. Doch das ist nur die bekanntere Hälfte der Analyse. Die weniger geläufige führt die Veränderungen auf die Folgen der Globalisierung zurück. Denn namentlich die kulturelle Abgrenzung, beispielhaft an der gesellschaftlichen Ablehnung der Migration erkennbar, führt zu Globalisierungskritik und Stärkung von Parteien, die sich diesen Positionen annehmen. Genau das erwartet der Autor in Gemeinden mit sozioökonomischer Benachteiligung, spricht mit hohem Anteil EinwohnerInnen mit tiefer Bildung, mit hoher Arbeitslosigkeit und hohem Rentneranteil. Und präzise hier findet seit den 90er Jahren die Rechtsentwicklung statt, weg von den rtogrünen Parteien hin zur SVP. Wenn die Linke in den 90er Jahren trotzdem zulegen konnte, hat dies mit ihrem Wachstum in den Mittelschichten der Vororten zu tun, die sich in Gemeinden mit überdurchschnittlichem soziökonomischem Status finden. Entsprechend verlieren der Wohneigentumsanteil einer Gemeinde beziehungsweise der Zeitpunkt der Agglomerationsbildung und die Distanz zum Zentrum an Bedeutung, um linke oder rechte Präferenzen vorherzusehen.
Scheuss‘ Bilanz zum Konfliktherd Agglomeration lautet: Die SVP ist sowohl die neue Vertreterin klassisch rechter Vorlieben als auch globalisierungskritischer Positionen. Sie steht für Eigenverantwortung und Schutz der Einheimischen, während die erweiterte Linke für kollektive Angebote und Gleichheit der Menschen agiert. Dabei unterscheiden sich neue Parteien wie die Grünen und traditionelle wie die SP kaum mehr.

Kritik
Für diese klaren Ergebnisse gebührt dem Autor Applaus. Sie sind nicht nur stringent hergeleitet, sie erhellen auch, was gegenwärtig in Agglomerationen geschieht – weit über Wahlen hinaus.
Weniger Freude hatte ich dagegen beim Lesen der Arbeit des heutigen stellvertretenden Generalsekretärs der Grünen Partei. So ist die Sprache ausgesprochen theoretisch-abstrakt. Zentrale Konzepte wie “Konfliktstrukturierung”, “Gemeindekontext” und “Bevölkerungskomposition” werden nirgends sinnlich erfahrbar gemacht. Zudem ist die Datenpräsentation ausgesprochen technisch. Ohne ein geübtes Auge für Regressionsanalyse, insbesondere für erwartete positive und negative Vorzeichen bei Erklärungsvariablen, ist nicht jedes der empirischen Ergebnisse einfach nachzuvollziehen.
Aergerlich ist vor allem das Publikationsdatum. Denn die Arbeit hätte entweder zeitnahe zu den verwendeten Daten erscheinen müssen, oder aber sie hätte die Aktualität miteinbeziehen sollen. Die Publikation der Doktorarbeit in der Reihe „Politik und Demokratie in den kleineren Ländern Europas“ erfolgte 2013, das Datenmaterial erstreckt sich, in 4 oder 10 Jahresrhythmen, gerade mal bis 2000. 2010 wird ganz ausgelassen, obwohl in den Nullerjahren des neuen Jahrhunderts gerade in den Agglomerationen viel geschehen ist: So hat sich 2007 die GLP von der GPS abgespalten, und sie hat den Wettbewerb unter anderem um linke Stimmen gerade im urbanen Raum neu aufgemischt. Das gilt auch für die BDP, 2008 von der SVP separiert, die in Agglomerationen namentlich für die FDP, beschränkt auch für SVP und SP zu Konkurrenz geworden ist. Und auch das MCG muss erwähnt werden, denn in der Agglomeration Genf ist es, gleich wie die Lega in der Agglomeration Lugano, viel wichtiger als die dortigen SVP-Sektionen. Sie alle widersprechen der Logik in diesem Buch, die auf politische Polarisierung ausgerichtet ist, denn sie stehen für Pluralisierung der politischen Akteure, teils auch für Rezentrierung der Politik. Nur, darüber erfährt man in der grundlegenden Arbeit zu politischen Gegensätzen im urbanen Raum der Schweiz nichts. Leider!

Claude Longchamp