Kostenfolgen entscheiden über Einheitskasse

65 Prozent würden heute bestimmt oder eher für eine Einheitskasse stimmen. 28 Prozent wären bestimmt oder eher dagegen. Beteiligen würden sich nur 31 Prozent der Stimmberechtigten. Das ist eines der Hauptergebnisse des Gesundheitsmonitors 2013, erstellt vom Forschungsinstitut gfs.bern für die Interpharma.

1205 repräsentativ ausgewählte Personen werden jeweils im April für den Gesundheitsmonitor jährlich zu ihren gesundheitspolitischen Einstellungen befragt. Diesmal ging es erstmals auch um die Stimmabsichten zur Volksinitiative “Für eine öffentliche Krankenkasse”, die voraussichtlich 2014 Volk und Ständen vorgelegt werden wird.

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55 Prozent der Befragten gaben an, von dieser Volksinitiative schon etwas gehört, gesehen oder gelesen zu haben, bevor sie interviewt wurden – ein überdurchschnittlicher Wert.
Bestimmt teilnehmen wollen an der Volksentscheidung aber erst 31 Prozent; weitere 33 Prozent würden sich eher beteiligen, wenn jetzt schon entschieden würde. Insbesondere die sicher Teilnahmewilligen sind damit eher unter dem Mittel.
Unter den 31 Prozent mit gesicherter Teilnahmebereitschaft sind die Befürworter und Befürworterinnen in der Überzahl. 65 Prozent hätten diesen Frühsommer bestimmt oder eher für die Vorlage votiert. Dagegen wären 28 Prozent gewesen. Fest entschieden sind aber erst 34 Prozent auf der Ja- und 14 Prozent auf der Nein-Seite. Von einer vorbestimmten Entscheidung kann man demnach nicht sprechen.

Zwei Faktoren können die Mehrheitsbildung weiterhin beeinflussen: zuerst die Mobilisierung, denn die Befürworterinnen und Befürworter einer Initiative sind im Schnitt früher beteiligungsbereit als die Gegner und Gegnerinnen; sodann die 31 Prozent, die bloss eher dafür sind, denn ein Teil von ihnen kippt erfahrungsgemäss, wenn die Nein-Kampagne einsetzt. Denn heute beurteilen sie vorwiegend das mit der Initiative verbundene Problem, am Abstimmungstag eher die mit dem Begehren vorgeschlagene Lösung.

Polarisierungen der teilnahmebereiten Bürgerschaft blieben bisher weitgehend aus. So gibt es zwar Unterschiede in den Stimmabsichten der linken und rechten Wählerschaften; doch ist in allen von ihnen eine Mehrheit eher auf der Ja-Seite. Zu erwarten ist hier in erster Linie, dass sich die Frontstellung, wie sie im Parlament sichtbar wurde, auf die Meinungsbildung der Stimmberechtigten auswirken wird: Konkret, bei den bürgerlichen Wählerschichten ist mit einem Rückgang der Ja-Anteil zu rechnen, derweil auf linker Seite Unschlüssige zu Befürworter und BefürworteriInnen werden dürften. Personen in Haushalten mit tiefem Monatseinkommen befürworten zurzeit die Initiative stärker, bei den hohen Einkommen ist die Nein-Minderheit grösser.

Argumentativ kennen beide Seiten mehrheitsfähige Botschaften. Jene aus dem Ja-Lager sind aber zahlreicher als jene von der Nein-Seite.
Die Initianten und Initiantinnen können insbesondere auf eine verbreitete Unzufriedenheit mit dem Wettbewerb unter den Kassen abstellen, der unnötige (Werbe-)Kosten verursache. Für sie spricht auch die Konzentration bestimmter Kassen auf Junge und Gesunde. Zudem kann die Ja-Seite die wahrgenommene Intransparenz der Informationen seitens der Krankenversicherer für sich nutzen. Mehrheitsfähige Botschaften hat sie zudem, wenn sie die Vorlage als Schutz der Patientinnen und Patienten vor Wirtschaftsinteressen, aber auch als Beitrag zur Prämiensenkung propagiert.
Die Initiativ-Gegnerschaft ihrerseits können auf Konstanz setzen, gilt doch die Grundversicherung als bewährtes System. Zudem fürchtet eine Mehrheit, bei einer Einheitskasse werde der Service abgebaut. Zudem gilt der Wettbewerb für eine Mehrheit als Qualitätsgarantie.

Anders als im Parlament, wo die prinzipielle Einwände gegen mehr Staat in der Krankenversicherung die Entscheidungen bestimmten, ist die bisherige Meinungsbildung der Stimmberechtigten durch erhoffte Prämiensenkungen bei einer Reform des Krankenversicherungswesen bestimmt worden.

Claude Longchamp

BDP: die unterschätzte Partei

5 Jahre BDP! Anlass, eine Bilanz zu ziehen, was ist – und was nicht.

Der Anlass
Fast alle ExpertInnen unterschätzten 2011 die BDP 2011, resümierte Adrian Vatter, Professor für Schweiz Politik an der Universität Bern, seine Meta-Analyse von Umfragen, Wahlbörsen und Zusammenstellungen kantonaler Wahlergebnisse zu eben dieser Partei. Doch sie überrascht: Sie erreichte bei ihrer ersten nationalen Wahl 5,4 Prozent der Stimmen; neun Sitze im Nationalrat resultierten daraus, und ein Mandat im Ständerat gab es für die jüngste aller Parlamentsparteien.

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Nun ist die Berner Sektion der Bürgerlich-Demokratischen Partei an diesem Wochenende fünf Jahre alt geworden: ein Grund zum Feiern, in Aarberg, auch wenn die Tage davor für BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf eine veritable Herausforderung waren. Zum ersten Mal reüssierte die Bundesrätin aus den Reihen der BDP in einem Kerndossier nicht, und das ausgerechnet vor der versammelten Mediennation.

Das Ganze ist und bleibt heikel: Denn trotz des Wahlerfolgs von 2011 ist die BDP eine kleine Partei, müssen ihre Mitglieder in Bundes- und Kantonsregierungen weitgehend ohne grosse Fraktion politisieren. Machtpolitik als Strategie scheidet da an sich aus. Dafür ist Sachpolitik angesagt, für Projekte, die aus der politischen Mitte heraus entstehen, aber nicht aus dem CVP-Hause stammen. Erfolge haben sie nur, wenn sie von links oder rechts mitgetragen werden.

Die Entwicklungen
Gerade sachpolitisch ist die BDP meines Erachtens weiter als bei ihrer Gründung. Sie hat sich in ihrer grossen Mehrheit als zuverlässiger Partner der bundesrätlichen Energiewende positionieren können. In der Bankenpolitik des Bundesrates hat sich beim automatischen Informationsaustausch unter den bürgerlich politisierenden Parteien den Lead inne. Das müssen ihr sogar die argwöhnisch beobachtenden JournalisteInnen attestieren. Ich halte deshalb die gängige Analyse, die BDP sei die anständige SVP, aber ohne profiliertes Programm, für überholt. Denn die BDP entwickelt sich programmatisch, gerade in Abgrenzung zu SVP und FDP. Das ist nicht ohne Folge, denn die Wahlanalyse von 2011 zeigte, dass sie am meisten Stimmen bei Ehemaligen genau dieser Parteien gemacht hat. Zugewinne seitens der SP und der CVP gab es zwar auch, aber weniger. Mehr davon wäre inskünftig gut, und angesichts der schwächelnden FDP auch nicht ausgeschlossen.

Die zweite Quelle an WählerInnen-Stimmen mobilisierte die BDP mit ihrem geschickten Slogan als neue Kraft. Der neue politische Stil, der sich 2011 wieder vermehrt durchsetzte, legte nahe, dass die verdrängten Probleme der jüngsten Vergangenheit benannt sind und man heute Persönlichkeiten will, welche zu Lösungen fähig sind: Bereit zu Kompromissen – statt zu polarisieren, sachorientiert mit Dossierkenntnis – statt zu blockieren. Genau das pflegt die BDP in den meisten Kantonen und sie darf davon nicht abrücken, wenn sie ihre Erfolgsgeschichte fortschreiben will. Denn nur das führt dazu, dass Wählende, die enttäuscht von politischen Prozesse in der Schweiz sind, wieder Hoffnungen in der politischen Beteiligung sehen und BDP wählen gehen.

Mindestens so gut wie die GLP steht die BDP in den Kantonen da. Denn sie ist nicht mehr nur eine Erscheinung in den Gründerkantonen Graubünden, Bern und Glarus. Im Mittelland hat sie sich bei kantonalen Wahlen meist über dem 5 Prozent-Niveau etablieren können. Ihr Auftritt gefällt, denn er besteht aus einem Mix aus erfahrenen PolitikerInnen, meist aus den Reihen der SVP, aber auch aus neuen Personen, die eine Unabhängigkeit und Innovation garantieren. Weniger etabliert ist die Partei allerdings in der Romandie, wo sie sich in dem meisten Kantonen nach wie vor mit den Gründungsschwierigkeiten herumschlägt und eine marginale Erscheinung im Parteiensystem ist.

Die Herausforderungen
Das Erfolgsprofil der Zukunft kann sich die BDP an den Abstimmungsentscheidungen ablesen: BDP-Wählende sind zunächst regierungstreu, vergleichbar oder noch mehr als das bei der CVP der Fall ist. Denn sie haben ein intaktes Verhältnis zu den Institutionen des politischen Systems und brauchen keine Populisten, um den richtigen Weg zu erkennen. Sie sind nahe dem politischen Zentrum – und der Bevölkerungsmehrheit! Seit 2011 hat sich die BDP einmal klar getäuscht: Bei der Abzocker-Initiative verhielt sich die Spitze zu regierungstreu, während auch die BDP-Basis ganz anders tickte, und promt überschätze man sich und unterschätzte man die WählerInnen. Vielleicht war auch ihr Nein zur Zweitwohnungsinitiative ein Fehler, und bei Fragen der Hauseigentümer tat sich die Partei 2012 bisweilen schwer, einen klaren Standpunkt oben und unten einzunehmen. Dennoch, die Bilanz der BDP bei eidgenössischen Volksabstimmungen ist gut – besser jedenfalls als die der unmittelbaren politischen Konkurrenz rechts von ihr.

Mit Blick auf 2015 bleiben zwei grosse Herausforderungen: erstens die bange Frage, ob Eveline Widmer-Schlumpf erneut antritt oder nicht, und zweitens, nicht minder entscheidend, ob die BDP als eigenständige Partei Zukunft hat. Skeptiker unter den Analytikern halten das bereits für das drohene Ende der jungen Partei.

Meines Erachtens hängt vieles hängt vom Wahlergebnis bei den nächsten National- und Ständeratswahlen ab, und zwar vom eigenen und von dem der anderen. Das eigene wird herangezogen werden, um die bisherige Arbeit der jungen Partei zu beurteilen; das der anderen wird massgeblich sein, wenn es um Allianzen gehen wird, die den neuen Bundesrat formieren müssen. Ein Rückgang in der Wählenden-Stärke wäre für die BDP fatal; ein Gewinn durchaus ein Versprechen, mittelfristig ähnlich stark wie die CVP zu werden – und damit ihr auf Augenhöhe gegenüber zu stehen. Wenn Mitte/Links auch in der kommenden Vereinigten Bundesversammlung über eine Mehrheit verfügt, ist es gut möglich, dass die jetzige BDP-Bundesrätin auch die künftige ist. Ohne das dürfte die BDP ins zweite Glied der Parlamentsparteien zurückgedrängt werden, auf den Status, den die GLP oder die EVP heute hat. Mit einer Mehrheit, die der BDP wohlgesinnt ist, kann sich das Szenario von 2011 durchaus wiederholen: Die SVP reklamiert aufgrund ihrer Stärke im Parlament einen zweiten Sitz im Bundesrat, sei es zulasten der BDP, der SP oder der FDP. Letzteres hat die geringste Priorität aus Sicht der SVP, ist aber möglicherweise der einzige Ausweg.

Die zweite Herausforderung betrifft die Zukunft der BDP. Von Beginn an hat man ihr geraten, mit der CVP zu fusionieren. Und von Anfang an setzten sich in der BDP die Kräfte durch, welche das verhindern wollten. Zwischenzeitlich haben sich die beiden Parteien elektoral fast komplementär entwickelt, denn die BDP ist ein Phänomen reformiert oder gemischt-konfessioneller Kantone mit ländlichem oder kleinstädtischem Charakter, während die CVP gleiches in mehrheitlich katholischen Gebieten ist. FusionsgegnerInnen verweisen gerne darauf, dass das nicht zusammenpasst. BefürworterInnen eines Zusammengehens interpretieren das genau umgekehrt: eine Kooperation werde so erleichtert, denn 1 plus 1 gäbe unter genau solchen Bedingungen 2. Als Gegengewicht des Zentrums gegenüber den Polen würde das der Mitte gut anstehen, selbst wenn sich an der Krux, nach links oder rechts allianzfähig bleiben zu müssen, nichts ändern würde. Das bleibt eine Knacknuss.

Doch will auch ich die BDP hier nicht erneut unterschätzen. Denn ich bin es zwischenzeitlich gewohnt, dass sie mich und andere überrascht, genau dann, wenn sie in den grössten Schwierigekeiten steckt und niemand mehr von ihr etwas erwartet.

Claude Longchamp

Ein Ja, ein Nein: sachpolitische Differenz und Institutionenvertrauen

Gewonnen haben bei den heutigen Volksabstimmungen Regierung und Parlament. Verloren haben die Parteien ganz rechts und ganz links. Fakten, Interpretationen und eine These zu den heutigen Volksentscheidungen.

Die Fakten

Die Ergebnisse des heutigen Abstimmungssonntags sind rasch zusammengefasst: Die Stimmenden hiessen die (mit Notrecht bereits einführte) Revision des Asylgesetzes zu 78 Prozent gut, und sie lehnten zu 76 Prozent die Volkswahl des Bundesrats ab. Gegen die Verfassungsänderung sprachen sich auch alle Kantone aus. Die SVP erlitt, mit knapp 24 Prozent Zustimmung ihre deutlichste Niederlage seit langem, und auch das grünrote Lager verlor mit einem Nein-Anteil von 22 Prozent gegen das Asylgesetz klar.

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Würdigung der abgelehnten Volkswahl des Bundesrats
Sachlich gesehen haben es institutionelle Reformen in der Schweiz schwer. Schnell steht im Raum, dass Parteien, die solche verlangen, mit dem Systemwechsel einen Politikwechsel verfolgen. Denn sollen sie haben, aber auf dem Weg, der dafür vorgezeichnet ist. Das hat die SVP erfahren, als si,e mit ihren Getreuen, das Referendum auf Staatsverträge ausdehnen, dem Bundesrat in Abstimmungskämpfen den Mund verbieten und dem Parlament die Behandlungsfristen für Volksintiativen verkürzen wollte. Im aktuelle Fall kommt hinzu, dass die generelle Diagnose, die Schweizer Demokratie funktioniere schlecht, mehrheitlich nicht geteilt wird; entsprechend lehnte man auch das Rezept zur Behebung der vermeintlichen Krankheit wuchtig ab. Die Partei tut gut daran, mit ihrer Demokratiekritik inskünftig vorsichtiger umzugehen.

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Würdigung der angenommenen Asylgesetzrevision
Die Revision des Asylgesetzes produzierte, in etwa, das Ergebnis, das man kennt, seit man das ursprünglich liberal ausgestaltete Asylrecht der Schweiz einschränkt: Die bürgerliche Mehrheit ist stets für restriktionen, die grünrote Minderheit ebenso so regelmässig dagegen. Das war 1987 so, aber auch 1994, 1999 und 2006. Die Opponenten beklagten die Einschränkung der legitimen Asylgesuche, beispielsweise mit dem Botschaftsasyl. Dabei übersahen sie, dass die Stimmenden nicht wegen eines Paragraphen im Gesetz entschieden, als vielmehr das Asylwesen als Ganzes beurteilen: Verbreitete umstritten sind Verfahrungslänge, Gesamtkosten und die Praxis der Asylgewährung. Analog fiel das Resultat aus: Nicht einmal das ganze grünrote Potenzial folgte den ReferendumsführerInne, die sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, den BefürworterInnen einer restriktiven Vorlagen einen Steilpass geliefert zu haben.

Die These: Institutionenvertauen, das sachpolitische Differenzen nicht ausschliesst
Bei allen Parallelen in den Volksentscheidungen zum Volkswahl und zum Asylgesetz – es gibt einen wesentlichen Unterschied: Die heute geäusserte Kritik an der Asylpolitik ist spezifisch, auf diesen Politikbereich gemünzt und kaum mit der in einem anderen vergleichbar. Die Unterstützung der Institutionen, wie sie bei der angelehnten Direktwahl des Bundesrats zum Ausdruck gebracht wurde, ist dagegen allgemeiner Natur. Sie zeigt, dass die Spielregeln der Politik in der (stimmenden) Bevölkerung besser akzeptiert sind, als PolitikerInnen wahrhaben wollen.
Ein Widerspruch? Meine Antwortet lautet: Nein! Denn man kann sachpolitisch mit Bundesrat, National- und Ständerat uneinig sein, ohne das man deshalb das Politsystem der Schweiz ablehnen muss. Im journalistischen Diskurs wird häufig zwischen diesen Dingen nicht unterschieden – zu unrecht. Denn eine Demokratie ohne Widerspruch ist keine. Doch führt der Widerspruch aus lauter Misstrauen zu keinen konstruktiven Lösungen.
Heute Abend halte ich fest: Das Politsystem Schweiz ist in der aktiven Bevölkerung besser verankert, als es gelegentlich den Anschein macht. Das heisst jedoch nicht, dass man im allgemeinen Vertrauen auch seinen spezifischen Dissens zum Ausdruck bringen kann.
Genauso wie heute geschehen!

Claude Longchamp

Trendkantone und Spezialfälle bei Volksabstimmungen

Viele glauben, der Kanton Aargau sei der Durchschnittskanton der Schweiz. Das stimmt heute eindeutig nicht mehr, wie ein Auswertung aller Abstimmungen seit 1992 zeigt. Heutiger Trendkanton ist Bern, allenfalls begleitet von Baselland und Solothurn.

Multidimensionale Skalierung heisst die Methode, welche die Verwandschaft von Fällen aufgrund ausgewählter Variablen versinnbildlicht. In den untenstehenden Visualisierungen sind die Kantone die Fälle, deren Ja-Anteil bei Volksabstimmung zu Volksinitiativen resp. Behördenvorlagen die Varibale(n).

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Gelesen wird die Karten ausgehend vom Symbol “CH”: Je näher ein Kanton dazu positioniert ist, desto eher ist er in seinen Abstimmungsentscheidungen ein Durchschnittskanton; je weitere entfernt er ist, desto eher spielen kantonale Eigenheiten eine Rolle. Dargestellt sind hier die zweidimensionalen Modelle – vor allem wegen der Lesbarkeit.

Vom nationalen Mittel klar abweichend ist Appenzell-Innerrhoden einerseits. Das gilt sowohl für Volksinitiativen wie auch für Referenden. Der Ostschweizer Halbkanton markiert den rechten Pol bei Volksabstimmungen. Der linke Pol variiert. Bei Volksinitiativen ist es am ehesten der Kanton Jura, bei Behördenvorlagen der Kanton Genf. Alle anderen Kantone sind dazwischen angesiedelt. In der deutschsprachigen Schweiz bildet Baselstadt den linken Pol, in der französischsprachigen Schweiz ist der Kanton Wallis der rechte.

Die Position eben dieses Kantons legt nahe, dass es eine weitere Dimension in den Abstimmungsentscheidungen gibt. Man kann sie bei Behördenvorlagen die Regierungstreue nennen, bei Volksinitiativen, die Initiativfreundlichkeit nennen. Das Wallis markiert hier einen Pol. Kein Kanton ist so oppositionell, sowohl gegen Regierungsvorlagen wie auch gegen Volksinitiativen. Anders das Tessin. Zwar stimmt man auch hier nicht besonders regierungstreu, dafür aber initiativfreundlich.

Offensichtlich wird mit dieser Uebersicht, dass die Sprachregionen für die Zeit nach dem EWR eine wichtige Determinante der Abstimmungsentscheidungen sind. Das steht nicht im Widerspruch zur kürzlich veröffentlichen Uebersicht, die Michael Hermann publizierte. Denn bei ihm beschränkt sich die Analyse auf die deutschsprachige Schweiz, was die Bedeutung der Sprachregionen ausblendet.

Mit Bezug auf das kommende Abstimmungswochenende sind solche Karten ein guter, wenn auch nur grober Radar. Gut ist er, weil er eine Uebersicht gibt, mit welchen Kantonen nationale Trends ermittelt werden können. Grob bleibt er aber, weil es je nach Thema und Konfliktmuster relevante Abweichungen geben kann. Entsprechend müssen die Uebersichten fallweise spezifiziert werden. Im aktuellen Fall bedeutet dies, dass ich bei der Asylgesetzrevision am Sonntag mit den Kantonen Bern, Zürich und Graubünden als Trendsetter arbeite, während es die Kantone Solothurn, Graubünden und Baselland sein werden, wenn es um die Volkswahl des Bundesrates geht.

Claude Longchamp

Mein Einsatzplan am Abstimmungssonntag

Der Abstimmungssonntag rückt näher. Entschieden wird am 9. Juni 2013 über die Asylgesetzrevision und die Volkswahl des Bundesrats. Hier die Uebersicht über mein voraussichtliches Programm.

Der Abstimmungssonntag rückt näher. Wie immer (seit mehr als 20 Jahren) arbeitet gfs.bern an diesem Tag für die Medien von SRF, konkret für Fernsehen und Radio. Die vorgesehenen Einschaltungen sind:

Programm

Trendrechnungen
12:30 Radio Trendrechnung zu beiden Vorlagen
12:37 Radio Erster Kommentar zu den voraussichtlichen Abstimmungsergebnissen

Hochrechnungen
13:00 Fernsehen Hochrechnungen zu beiden Vorlagen
13:10 Radio Erster Kommentar zu den hochgerechneten Abstimmungsergebnissen
13:16 Fernsehen Erster Kommentar zum hochgerechneten Ergebnis zur Volkswahl des Bundesrats
13:23 Fernsehen Erster Kommentar zum hochgerechneten Ergebnis zur Asylgesetzrevision
13:45 Radio Erste Analyse der Konfliktlinien im räumlichen Abstimmungsergebnis
14:00 Fernsehen Erste Analyse der Konfliktlinien im räumlichen Abstimmungsergebnis zur Asylgesetzrevision; Vergleich mit früheren Volksabstimmungen hierzu
15:00 Fernsehen Hochrechnung der Stimmbeteiligung; Kommentar zu Kampagnen, Extrablatt SVP
15:32 Fernsehen Kommentar zu Social Media in Kampagnen

Erstanalyse
16:00 Fernsehen Erstanalyse Volkswahl Bundesrat: Spielten die bisherige Vertretung im Bundesrat und die Kleinheit der Kantone bei der Entscheidung eine Rolle?
16:12 Fernsehen Erstanalyse Revision Asylgesetz: Wie wichtig war die Zahl Asylsuchender im Kanton für die Entscheidung?

Schlusskommentar
18:30 Fernsehen Schlusskommentar zum Abstimmungssonntag; Ausblick

Definitionen
. Trendrechnung geben an, ob eine Vorlage angenommen oder abgelehnt wird. Die liegt der Erwartungswert zwischen 45 und 55 Prozent ja, wird keine Aussage gemacht. Ansonsten wird eine Tendenz Richtung Ja oder Nein kommuniziert
. Hochrechnungen sind schnell auf 3 Prozent genau. Liegt der Ewartungswert zwischen 47 und 53 Prozent, ist Vorsicht geboten bei der Beurteilung der Entscheidung. Die Hochrechnung wird dann halbstündlich widerholt. Bei der Volkswahl des Bundesrats ist nicht nur das Volks-, sondern auch das Ständemehr nötig, denn eine Annahme käme einer Verfassungsänderung gleich. Die Erfahrung lehrt, dass sich die beiden Mehrheiten nicht unterscheiden, wenn das Volksmehr über 55 Prozent liegt. Sollte es geringer sind, kommunizieren wird auch eine Hochrechnung des Ständemehrs.
. Die Eerstanalyse basiert auf einer Aggregatdatenanalyse, bei der die kantonalen Abstimmungsergebnisse mit hypothetischen Erklärungsgrösse auf Kantonsebene verglichen werden. Kommuniziert werden die stärksten, erwartete und bestätigten Zusammenhänge.

Weitere Publikationen

Anfragen ausserhalb der SRG-Medien ans gfs.bern werden an diesem Abstimmungssonntag durch Lukas Golder via Medienhandy von gfs.bern beantwortet.
Wir berichten auch via gfs.bern-Twitter und gfs.bern-Blog über die Ergebnisse.

Claude Longchamp

Was Bern von Unteriberg trennt – aber auch was Uitikon von beiden unterscheidet

Mein Follower @UrsWyder aus Basel ist erbost: “Nachrichten: das Gegenteil von rechts-konservativ ist links-liberal?”, fragt er @srf3. Ganz anders meine Followerinnen @cesseiva, besser bekannt als Claudine Esseiva, die Generalsekretärin der FDP Frauen, die mir aus Bern antwortet: “sehr spannend”. Und Barbara @SchmidFederer, Zürcher CVP-Nationalrätin, schiebt nach: “Auch aus Zürcher Sicht sehr spannend.”

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Quelle: Sonntagszeitung/sotomo
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Die neue politische Geografie der Schweiz
Bezogen haben sich alle auf das Gleiche: Die neue politische Geografie der Schweiz, die heute die @sonntagszeitung (leider ohne Karten) publiziert hat. Das Missverständnis, ausgelöst durch die SRF3-Nachricht zur Veröffentlichung ist typisch. Zwar verwendete das Institut sotomo welchanschauliche Vokabeln, die man/frau zur Selbstverortung auf sich selber anwenden kann. Gemeint sind aber nicht indidivuelle Einstellungen, sondern politkulturelle Polarisierungen. Vermessen werden sie durch Abstimmungsergebnisse der Gemeinden.

Gäbe es immer die gleichen Gegensätze, würden sich immer wieder die gleichen Gemeinden gegenüber stehen. Gemeinhin wären das die rechten und die linken. Nun zeigt die Erfahrung, dass das nicht stimmt. Zwar gibt es klare Präferenzen gewisser Gemeinden, wenn es um Eigentumsfragen oder Wohlfahrt geht, auch wenn man über mehr Staat oder mehr Markt abstimmte. Doch reichen diese Gegensatzpaare nicht aus, um die wichtigen raumbezogenen Polarisierungen in ihrer Ganzheit zu beschreiben. Denn die Schweiz kennt auch Modernisiserungskonflikte, mit typisch konservativen und progressiven Gemeinden, solchen die traditionsbewusst abstimmen und solchen die modern ausgerichtet sind.

Für die Wahl- und Abstimmungsforschung haben die vielen Volksentscheidungen einen riesigen Vorteil. Weltanschauliche Profile der Gemeinden kann man nicht nur aufgrund ihrer Wahlergebnisse machen; es ist auch möglich, solche anhand der Abstimmungsresultate zu erstellen. Ohne Umweg über den Parteientscheid, kann man so typisch sachpolitische Präferenzen bestimmen. Geleistet wird dies, als Information für die SpezialistInnen, durch die Faktorenanalyse. Ihr Ergebnisse ist, dass sie sagt, wie nahe eine Gemeinde der ersten, zweiten, etc. Dimension nahe kommt.

Politgeograf Michael Hermann ist seit 10 Jahren der Meister dieser Analyse. Mit seinem Atlas der politischen Landschaften der Schweiz schlug er drei themenübergreifende Dimensionen vor: den links/rechts-Gegensatz, die Polarität zwischen konservativer und liberaler Weltanschauung und den Gegensatz zwischen ökologischer und technokratischer Politik. Eingebürgert hat sich seither, mindestens die beiden ersten Dimensionen zu verwenden, um das politische Profil einer Gemeinde zu bestimmen.

Gemäss heutige Publikation ist Biel/Bienne im Kanton Bern die linkestes Gemeinde der Schweiz. Uitikon im Kanton Zürich ist die rechteste, Ennetbaden die progessivste und Muotathal die konservativste. Im Detail liessen sich weitere Gemeinden finden, wobei die Urteile etwas zufällig würden, weshalb die Raitings nur Gemeinden mit mehr als 2000 EinwohnerInnen berücksichtigten. Was analytisch ausgesprochen nützlich ist, hat eine Schwäche: die Bezeichnung der Pole ist eine Wertung des Unterschungsleiters, nicht des Rechners. Da schwankt auch Hermann: früher sprach er von liberal als Gegensatz zu konservativ, heute von progressiv-liberal als das Umgekehrte von konservativ. Andere wiederum denken, das Gegenteil von konservativ sei modern.

Die raumbezogenen Gegensätze
Interessant finde ich die neue Geografie der Schweiz, weil sie die Wanderungen der Gemeinden im beschriebenen Fadenkreuz aufzeigt. Verglichen wurden dabei die Zeiträume 1990 bis 1993 einerseits und 2010 bis heute anderseits.

Ergebnis: Keine Gemeinde (mit mehr als 2000 EinwohnerInnen) ist innert 20 Jahren soweit nach links gerückt wie die Stadt Bern, keine soweit nach rechts wie Wollerau im Kanton Schwyz, keine so konservativ geworden wie Nürensdorf im Kanton Zürich und keine so progressiv geworden wie, gleich nochmals, die Stadt Bern.

Spannender noch als diese Extreme sind die Veränderungen der Gemeindetypen, denn nur die lassen verallgemeinerte Schlüsse über Stadt/Land-Gegensatz zu (siehe Grafik). Da legt die Auswertung von Politgeograf Hermann nahe, dass die Gemeinden im ländlichen Raum ihren Standort kaum verändert haben; sie können aufgrund ihres Abstimmungsverhaltens insgesamt als rechts-konservativ bezeichnet werden. Die Charakterisierung gilt auch für Kleinstädte und deren Agglomerationen, wenn auch etwas eingeschränkt. Ganz anders positioniert sind die mittelgrossen und grossen Kernstädte und ihre Umländer. Mittelstädte sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten im Schnitt nach links gerückt und etwas progressiver geworden, während die Grossstädte sich nur wenig nach links bewegt haben, aber deutlicher progressiver geworden sind. Klar Gegenbewegungen finden sich in dem Agglomeration der grossen und mittleren Städte. Sie sind seit der EWR-Entscheidung 1992 zuerst nach rechts gerückt, in den letzten 10 Jahren konservativer geworden. Je reicher sie sind, um so klarer fällt diese Veränderung aus.

Die Dynamik legt nahe, dass ein Gegensatz grösser, einer auch kleiner geworden ist. Gewachsen ist der Stadt/Land-Graben, vor allem weil die grossen und mittleren Zentren aussenorientierter geworden sind. Damit haben sie sich von den Landgemeinden entfernt, die sich kaum bewegt haben. Doch das ist nur die Hälfte des heutigen Stadt-Land-Gegensatzes. Denn den gibt es auch zwischen den Kernstädten und ihren Umländern. Hart ist die Polarität zwischen links-progressiven Zentren und begüterten Vororten, die mal rechtsliberal waren, heute zwischen rechtsliberal und rechtskonservativ stehen. Arbeitergemeinden stehen nicht so eindeutig rechts, doch sind sie konservativer geworden.

Noch etwas: Bei allem, was hier berichtet wurde, darf man eines nicht vergessen: Analysiert wurden hier nur die 1500 Gemeinden der deutschsprachigen Schweiz. Nicht berücksichtigt wurden die räumlichen Polarisierung in den lateinischen Landesteilen. Denn das hätte die Uebersicht nochmals deutlich kompliziert.

Die Folgerung für meine FollowerInnen

Was heisst das nun für meine Follower? Urs Wyder, der Basler Physiker mit konservativer Grundhaltung, stimmt in seiner Wohngemeinde wohl meist mit der unterliegenden Minderheit. Denn mit dem linksprogressiven mainstream hat er wohl nichts am Hut. Ganz anders Claudine Esseiva, die im Vorstand der Stadtberner FDP aktiv geworden ist. Mit ihrem progessiven Fiminismus lebt sie ganz im Trend. Gleiches gilt auch für die libaral-solziale Barbara Schmnid-Federer. Nun muss sich das noch für die beiden Frauen und ihre Parteien auszahlen; denn von der Offenheit in den grossen Städten hat in jüngster Zeit nicht die Rechte, auch nicht überall die Linke profitiert. Genutzt hat sie vor allem der GLP. Im ländlichen Raum, kleinen Zentren und in Arbeitergemeinden rund um grössere Städte gibt es dafür nur wenig Potenzial, in den mittleren und grossen Zentren jedoch schon, ebnenso in der reichen Vororten, namentlich bei Menschen, die weder linke noch rechte Parteien unterstützen mögen.

Und noch zu Urs Wyder: Der räumliche Gegensatz zwischen Bern und Unteriberg ist polit-kulturell gesprochen tatsächlich jener zwischen einer links-progressiv-liberalen Grundhaltung einerseits, einer rechts-konservativen anderseits. Was für Gemeinden zutrifft, muss aber nicht für jede(n) EinwohnerIn gelten. Allerdings, zum Rechtskonservativen der Landgemeinden und zum Linksprogressivliberalen der Kernstädte gibt es je einen weiteren Gegensatz: die rechtsliberalprogressive Position, an Eigentum und Offentheit gleichzeitig ausgerichtet. Denn Kernstädte wie Bern und Umländer wie Uitikon bewegen sich, bei Volksabstimmungen, ganz anders als das Land, für das Unteriberg in extremis steht!

Claude Longchamp

Stadt und Land müssen sich bewegen: die Fakten zum Konflikt im Kanton Bern

Geladen hatte das Forum „Universität und Gesellschaft“ in Bern. Gekommen waren wohl 200 interessierte Personen, um vier Experten-Vorträge zum Thema „Kanton Bern: Stadt und Land müssen sich bewegen“ zu hören. Meine Eindrücke vom informativen Abend.

Den Provokateur spielte Politgeograf Michael Hermann von der Universität Zürich. Er entwickelte ein Profil der Schweizer Mentalitäten, wie man es seit seinem politischen Atlas der Schweiz kennt. Neben Verteiliungsfrage polarisieren vor allem Herausforderungen der Modernisierung die Schweiz. Bern, meinte Hermann, sei heute die links-progressivste Stadt der Schweiz. Dennoch, die Reurbanisierung der 00er Jahren des 21. Jahrhunderts habe sie verpasst. Wenn es gelungen sei, beim Stellenwachstum mit anderen Grossstädten Schritt noch mit anderen mitzuhalten, habe man das Bevölkerungswachstum verschlafen. Dieses finde nun anderswo statt, zum Beispiel in der benachbarten Agglomeration Freiburg und führe zu starken Pendlerströmen Richtung Bundesstadt. Ursachen der Fehlentwicklung seien höhere Steuern und restriktive Einzonungen, weshalb sich Bern nicht als zeitgemässer Wohnort profilieren könne. Vielmehr verharre man in einer Mischung aus rotgrüner Gemütlichkeit und fortschrittskritischem Konservatismus. So hatte Hermann es vor Wochenfrist schon in der BernerZeitung gesagt und prominente Kritik geerntet.

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Auf Hermanns These mochten die drei anderen Referenten am Vortragsabend nicht einmal auf dem Podium wirklich eintreten; zu stark unterschied sich ihre Diagnose, wonach nicht das Zentrum, aber die grosse Peripherie des Kantons das Problem sei.

Adrian Vatter, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern, leitete den Stadt-Land-Konflikt historisch her. Entstanden im 19. Jahrhundert aufgrund der verschiedenen Wirtschaftsinteressen der urbanen und ruralen Gebiet, sei er im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts angewachsen. Zwischenzeitlich habe er sich bei Volksabstimmungen zum tiefsten Graben in der Schweiz entwickelt. Wie anderswo auch, bevorzuge man in städtischen Ballungsräumen heute postmaterialistische Politiken, derweil die ländlichen Gebiete materialistische Präferenz hätten. Die Tramlinienführung von Bern nach Bümpliz, an der sich der Kanton beteiligte, habe gezeigt, dass es ohne Entgegenkommen beider Seiten nicht gehe: Stadt/Land-Gengensätze liessen sich vermeiden, wenn man Mass halte bei eingesetzten Kantonsfinanzen für eine bestimmte Reegion einerseits, Direktbetroffene mit partizipativen Politikgestaltung anderseits miteinbeziehe. Was die regionale Polarisierung des Grossen Rates betreffe, relativierte Vatter: Die Parteigrenzen seien wichtiger als Allianzen der Landesteile. Wenn jedoch die Regionalzentren im Kantonsparlament das Hinterland mobilisierten, stehe die Stadt isoliert da, unter unterliege aller meistens mit ihren Positionen. Die Hauptstadt, schloss er, habe keine Freunde im Kanton Bern.

vatter
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Genau dieses Verhältnis interessierte Adrian Studer vom kantonalen Wirtschaftsamt aus ökonomischer Sicht. Zunächst hielt er fest, die Schweiz und der Kanton Bern seien europäische Top-Standorte, wirtschaftlich gesehen spielten beide in der Champions League. Im Vergleich zu anderen Kantonen gehöre Bern aber nicht zur Top-Gruppe in der Schweiz; der Kanton führe das breite Mittelfeld beim BIP pro Kopf an. Hauptgrund sei, dass der Flächenkanton wirtschaftlich bedingte Nachteile habe. Entsprechend änderten sich die Verhältnisse, wenn man auf die Verwaltungseinheiten abstelle. Bern-Mittelland liegt klar über dem Mittel der Schweiz, weit vor allen anderen Kantonsteilen, die unterdurchschnittlich abschneiden würden. Das Ende bilden das Oberland, das schlechter dastehe als Uri, aber auch das Emmental, zwischen beiden Appenzell positioniert. Berücksichtige man auch qualitative Elemente der Standortqualität, verringerten sich die Gegensätze: Die Agglomeration Bern sei an 14. Stelle von 110 Einheiten in der ganzen Schweiz, das Oberhasli immerhin auf Rang 26. Hauptgrund für die Annäherung sei die innerkantonal geübte Solidarität, die den Kanton koste, ihn aber zusammenhalte.

studer
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Den schwierigsten Part des Abends hatte Gerhard Engel von der Finanzdirektion des Kantons. Ausgangspunkt seiner Ausführungen zum Nationalen Finanzausgleich war, nicht das BIP sei die Referenz, sondern das Ressourcenpotential. Dieser Index stelle nicht auf allen volkswirtschaftlichen Leistungen ab, sondern auf die ausserhalb der Verwaltung und der staatsnahen Betriebe. Da sei der Kanton Bern nicht mehr siebter, sondern sechstletzter unter den schweizerischen Kantonen, was ihn zum Netto-Bezüger mache. Finanziell habe das Vorteile, imagemässig werde es zur Belastung. Auch bei den Steuern unterscheide sich auch die innerkantonale Situation von der volkswirtschaftlichen, fuhr der Referent fort. So tragen Teile des Oberlandes dank Pauschalbesteuerungen reicher AusländerInnen und Energieproduktion mehr bei als man erwarte, während das Emmental und der Berner Jura die fiskalischen Sorgenkinder seien. Denn sie würden am meisten von den innerkantonalen Finanzflüssen profitierten. Nach allen Umverteilungen sei der Kanton in der Lage 85 Prozent seiner Ausgaben zu decken; die Differenz bezahle er mit überdurchschnittlichen Steuern oder einem Abbau staatlicher Dienstleistungen.

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Klar wurde an diesem Abend, dass der Kanton Bern mit anderen Kantonen nur schwer vergleichbar sei. Studer symbolisierte die Fläche so: Würde man die Südwestecke des Kanton auf den Gotthard verschieben, läge das Haslital teilweise in Liechtenstein und die Spitze des Berner Jura würde bis nach Süddeutschland reichen. Auch Hermann sprach von der kleinen Schweiz, denn im Kanton fänden sich fast alle Mentalitäten wieder, die man aus der Schweiz kenne. Studer schliesslich zeigte, dass der Kanton bevölkerungsmässig etwa der ganzen Ostschweiz mit Thurgau, St. Gallen, Appenzell, Glarus und Graubünden entspreche, die etwa gleich viel vom Nationalen Finanzausgleich erhalten würden.

Mit diesen Fakten und ersten Einschätzungen hat das Forum „Universität und Gesellschaft“ erst die Auslegeordnung gemacht. Das weitere Programm sieht am 5. Juni einen Abend zu künftigen Herausforderungen zwischen Stadt und Land, 14 Tage danach zu Visionen, welche die Gegensätze bewegen könnten, vor.

Claude Longchamp