Zum Beispiel Baden.

Das Staunen war gross, als der grüne Nationalrat Geri Müller neuer Stadtammann von Baden wurde. Im Windschatten davon eroberte die Linke die Regierungsmehrheit in der aargauischen Kleinstadt. Nun erlaubt eine Uebersicht über die parteipolitische Zusammensetzung der Schweizer Städte eine Einordnung.

Der Vorgang ist keine Einzelfall, vielmehr typisch für das, was in den urbanen Zentren der Schweiz leit längerem abgeht, wie der Schweizerische Städteverband in einer jüngst publizierten Bericht zur parteipolitischen Zusammensetzung der städtischen Exekutiven (im Vorjahr) darlegt.

Vor dreissig Jahren besetzten FDP, CVP und SVP in den Städten mit mehr als 50’000 EinwohnerInnen drei von fünf Sitze in den Regierungen. Seit rund 10 Jahren sind die Verhältnisse umgekehrt, sind doch SP, GPS und kleine Linksparteien in der Mehrheit. Am meisten gelitten hat dabei die FDP. Ueberblickt man alle Städte bleiben die Liberalen indes die führende Einzelpartei, sowohl in den Exekutiven wie auch in den Stadtpräsidien.


Quelle: Schweizerischer Städteverband, Grafik NZZ

Allerdings, nicht nur strukturelle Verhältnisse sind entscheidend, vielmehr gibt es auch erhebliche kulturelle Unterschied. So kennt Carouge 100 % linke StadträtInnen, derweil ihr Anteil in Wetzikon bei 0 liegt. Ueberhaupt resultiert ein auffälliger Unterschied zwischen Westen und Osten. Was westliche der Linie eine Mehrheit für die Linke fast schon Normalität ist, findet sich das östlich davon gerade Zürich, Schaffhausen und Winterthur – und seit 2 Wochen in Baden. Das Gegenteil zeigten die jüngsten Wahlen in St. Gallen, wo die Linke in der Stadtregierung gar nicht mehr vertreten ist.

Zum urbanen Umbruch gehört auch, dass der Frauen-Anteil in städtischen Exekutiven zugenommen hat. Auslöser war hier die Nicht-Wahl von Christiane Brunner in den Bundesrat im Jahre 1993. Das liess insbesondere in der grossten Städten der Frauenanteil sprunghaft ansteigen, mit der Folge, dass er auch in mittleren und kleineren Städten kontinuierlich zunahm. Aktuell haben sich die Werte zwischen 25 und 30 Prozent eingependelt.

Ueberhaupt, scheint der Links-Trend in den Schweiz-Exekutiven eine Sättigung erreicht zu haben. Höhepunkt in der Parteienstärke war bei Nationalratswahlen das Jahr 2003. Seither entwickelt sich der Anteil bei (nationalen) Parlamentswahlen wieder leicht zurück. Hauptgrund ist die Neuformierung der Parteienlandschaft, wobei insbesondere die GLP seit 2007 eine Konkurrenz darstellt und 2011 ist auch die BDP hinzu gekommen ist. Seither wächst die Mitte in urbanen Gebieten zu Lasten der Pole, und die GLP befindet sich da jetzt schon in der Leadrolle.

Baden ist damit das jüngste Beispiel in einer Kette von politischen Veränderungen im urbanen Raum, keinesfall ein Trendsetter, sondern vollzieht nach, was in den 90er Jahren im grossstädtischen Raum entstanden ist und heute zum urbanen Phänomen geworden ist.

Claude Longchamp

Wie das Schweizer Konkordanzsystem effektiv funktioniert

“Wer regiert die Schweiz?”, ist eine der beliebtesten Fragen in Wissenschaft und Publizisitik. Eine variable Allianz die sich namentlich bei offenen vorparlamentarischen Prozessen, aber auch angesichts der Europäisierung der Schweizer Politik aus unterschiedlichen Akteure aus dem Mitte/Rechts resp, Mitte/Links-Spektrum zusammenfindet, ist die Antwort einer jüngst erschienen Genfer Dissertation.

Machtteilung und Kompromissfindung sind wohl die berühmtesten Stichworte, wenn es gilt, das politische System der Schweiz zu umschreiben. Konsensdemokratie, der dritte Begriff im Bund, ist bis heute in der politikwissenschaftlichen Literatur geläufig, wenn man theoretisch über unser Land spricht.

11 Fallstudien als Basis
Und wenn man genauer hinschaut, wie es Manuel Fischer in seiner jüngst erschienen Doktorarbeit gemacht hat? 11 Fallstudien, die wichtigsten Sachfragen zwischen 2001 und 2006 betreffend, hat er mittels Interviews bei Handelnden, Berichterstattenden und AnalytikerInnen dokumentiert und mit Netzwerkanalysen seziert, um zum Schluss zu kommen, dass gerade eine der untersuchten Entscheidungen dem besagten Ideal entspricht. Fünf scheinen widersprechen ihm offensichtlich, weitere fünf bestätigen die Theorie teilweise, widersprechen ihr aber auch ebenso.

Dennoch zieht Fischer einen erstaunlich positiven Schluss über die Funktionsweise der Konkordanzdemokratie in der Schweiz. Kritisiert wird auch bei ihm der Mangel an Innovation, gelobt wird dagegen die anhaltende Fähigkeit zur Integration. Das Referendum, die Vielzahl an Minderheitsparteien, die historische Erfahrung mit der Vermittlung zwischen kulturell gespaltenen Teilgesellschaften nennt er als Gründe, warum angelsächsische Vorstellungen der Demokratie mit klar geteilten Aufgaben zwischen Regierung und Opposition hierzulande versagen würden.

Typologie der Entscheidungsstrukturen
Seine eigens für die Dissertation entwickelte Typologie der Entscheidungsstrukturen unterschiedet zwischen Machtverteilung einerseits, Akteurskonstellationen anderseits. Ist die Macht in einer Entscheidung verteilt und wird zwischen den Akteursallianzen vermittelt, spricht er von Muster des Kompromisses. Bilden sich dagegen Koalitionen, zwischen denen polarisiert wird, nennt er den Entscheidungsstil den der Dominanz. Dazwischen figurieren die Konkurrenz und der Konsens. bei denen es entweder verteilte Macht, aber keine Annäherung der Akteure gibt, oder aber eine vorherrschende Koalition existiert, die von der Minderheit nicht bekämpft wird.


Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

In den 11 Fallstudien ist die Dominanz eine Koalition als Entscheidungsstruktur am häufigsten. Das war beispielsweise der Fall, als es um den Neuen Finanzausgleich, um das Entlastungsprogramm 2003, das Ausländergesetz, die Erweiterung der Personenfreizügigkeit und um den Beitritt zu den Abkommen von Schengen/Dublin ging. In allen Fällen etablierte sich im Verlauf des Prozesses eine Gruppe mit ähnlichen Präferenz und hoher Interaktion rund um einen Lösungsvorschlag, der so mehrheitsfähig wurde und auch gegen Minderheiten bis hin zur Referendumsabstimmung durchgesetzt werden konnte.

Wer regiert die Schweiz?
Die fünf Fälle sind es denn auch, die Fischer aufgreift, um die Frage zu beantworten, wer die Schweiz heute regiere. In allen fünf Fällen waren Bundesbehörden, das parteipolitische Zentrum, bisweilen von der Wirtschaft geführt in der Mehrheitskoalition vereint. Doch hätte das nicht gereicht, wenn es nciht zu einer relevanten Ausdehnung gekommen wäre. Bei den beiden Europa-Entscheidungen war das die Linke, bei den anderen Vorlagen die Rechte.

EU-Fragen, Infrastrukturthemen, insbesondere im Verkehrsbereich und Bildungspolitik sind denn auch die Bereiche, in denen gemäss Fischer eine Allianz aus Mitte/Links die Schweiz führt, derweil in Finanz- und Migrationsfragen eine aus Mitte/Rechts das tut. Ausgesprochen konfliktreich sind dabei die EU-Fragen, denn hier kommt es in der Regel zu Volksabstimmungen, bei denen sich die SVP als Opposition profilieren will. In anderen Fällen scheint ihr das wenig wichtig zu sein, selbst wenn sie nicht Teil der Koalition war, welche die Gesetzesarbeit bestimmte.

Opposition von links gibt es nach Fischer vor allem dann, wenn die Macht zwischen Koalitionen einigermassen gleichmässig verteilt ist. In Fischers Untersuchung war das beim Kernenergiegesetz der Fall, aber auch bei der 11. AHV-Revision. Bei letzterem kam es schliesslich zu einer Referendumsabstimmung, mit der die Gesetzesarbeit der Behörden schliesslich aufgehoben wurde.

Weiterführung der Pionierarbeit aus dem Jahre 1980

1980 legte Hanspeter Kriesi erstmals ein Standardwerk zu Entscheidungsstrukturen und Entscheidungsprozessen in der Schweizer Demokratie vor, das sich ebenfalls mit der Netzwerkanalyse der Sache näherte. Fischer nimmt auf diese Pionierarbeit ausdrücklich Bezug, nicht ohne die Unterschiede zu betonen. Denn in den 70er Jahren dominierten die sozio-ökonomischen Verteilungsfragen, welche meist eine Polarisierung mit bürgerlicher Mehrheit und linker Minderheit hervorbrachten.

Das hat sich zwischenzeitlich gründlich geändert, denn Fischer spricht sich klar für eine Dreiteilung der Akteurslandschaft aus. Hauptgründe für diese Veränderungen arbeitet er zwei heraus: ein geöffnetes vorparlamentarisches Verfahren und die Europäisierung der Schweizer Politik. Beides habe nicht einfach ein neues System hervorgebracht, wie machen meinten, aber die Entscheidungsstrukturen verändert. Denn als Folge beider Wirkkräfte kann der Autor zeigen, dass eine Koalitionsbildung befördert werde, deren parteipolitische Zusammensetzung durch die Themenstellung bestimmt sei. Denn die Oeffnung von Entscheidung bevor sich Regierung und Parlament festlegten, erlaube es, Netzwerke mit gemeinsamen Präferenzen zu identifizieren und sie gezielt zu organisieren, um die eigenen Durchschlagskraft zu verbessern. Bei der Europäisierung führt der meist geringen Handlungsspielraum der Schweiz dazu, dass sich die Kräfte zusammenfinden, die konsequent für die Bilateralen sind, derweil die anderen in die Sachopposition wechselten.

Meine Würdigung
Die Untersuchung, 2012 beim Politikwissenschafter Pascal Sciarini von der Uni Genf angenommen, erhielt diesen Januar 2013 den Preis für die beste politikwissenschaftlichen Dissertation, die im Vorjahr an einer Schweizer verfasst worden war. Die Stringenz der Analyse, die sich auch in einer vorteilhaften sprachlichen Darstellung wiederfindet, berechtigt die Auszeichnung durchaus. Nicht alles, was aufgezeigt wird, ist allerdings neu; zahlreiche quantifizierende Untersuchungen über Mehrheitsbildung namentlich im Parlament legen seit einigen Jahren nahe, was jetzt anhand schwergewichtiger Entscheidungen klar ersichtlich belegt worden.

Der eigentliche Wert der Arbeit kommt vor allem in der gelungenen Einbettung empirischer Ergebnisse in die Theoriebildung zum Ausdruck. Diese erweitert unser Verständnis von Konkordanzdemokratien, mindestens, das für das Beispiel der Schweiz. Bezogen auf die Mehrheitsbildung von Fall zu Fall ist man nach der Lektüre der Arbeit mit aktuellen Beispiele ausgerüstet und von der Vorstellung geheilt, in der Schweiz gebe es ein Demokratiemuster mit einer Entscheidungsstruktur. Vielmehr lernt man bei Fischer, dass es auch heute ein erstaunlich gut funktionierendes System gibt.

Zwar sieht auch Forscher Fischer in den Veränderungen im Parteien- und Mediensystem Gründe für eine wachsenden Konflikthaftigkeit der Schweiz Politik. Anders als Skeptiker ist das für ihn aber kein Grund, vom Ende der Konkordanz zu reden. Vielmehr ortet der Optimist gerade darin neue Chancen der flexiblen Problembewältigung mit Pendelausschläge von Mitte/Rechts bis Mitte/Links.

Realistischerweise wird man etwa nach der gescheiterten Gesundheitsreform „Managed Care“ oder dem Gegenvorschlag zur Abzocker-Initiative nachhacken und sich die Frage stellen müssen, ob die zwischenzeitlich noch mehr relativierte Stärke von CVP, FDP und Economiesuisse, dem Kern der Entscheidungsstruktur, auch zu Null-Entscheidung durch unheilige Allianzen spätestens bei Volksabstimmungen führen müsse. Sollte sich dieser neue Befunde aus der Praxis verallgemeinern, müsste man die wissenschaftliche Analyse der Entscheidungsstrukturen in der Schweizer Politik zu Beginn des 21. Jahrhunderts bald neu schreiben. Bis dahin ist dem Grundlagenwerk zur Gegenwartspolitik der Schweiz zu wünschen, dass es in vielen Kursen als Lehrbuch eingesetzt und bald schon neu aufgelegt werden muss.

Claude Longchamp

Der Kanton Zürich analysiert sich selber

Das statistische Amt des Kantons Zürich hat die Analyse von Gemeindedaten bei Volksabstimmungen am weitesten entwickelt. Das zeigt auch die bereits gestern vorgelegte Untersuchung der Resultate zu den Volksabstimmungen vom letzten Wochenende.

Peter Moser vermisst den Kanton Zürich berufeshalber. Der Politikwissenschafter stützt sich dabei auf die amtlichen Gemeindedaten, die er mit hoher Fertigkeit interpretiert. Aufgrund der Unterschiede zwischen den Gemeinden hat er ein Raster entwickelt, um gesellschaftlichen und weltanschauliche Einflüsse in den Abstimmungsergebnissen schätzen zu können, ohne sich dabei auf die üblicherweise verwendeten Umfragen stützen zu müssen.

Gesellschaftliche Einflüsse unterscheidet der Statistiker zwei: die Urbanität und den Status. Ebenso geht er von zwei relevanten weltanschaulichen Einflüsse aus: die nationalkonservative und die Markt-Ideologie. Gerechnet wird mit multivariaten Verfahren, sodass die Bedeutung der Einflussfaktoren untereinander bestimmt werden kann, ohne dass dabei feste Prozentwerte entstehen, wie gross die Zustimmung oder Ablehnung war.


Quelle: Kanton Zürich, Statistisches Amt: statistik.info 2013/01, eigene Drstellung
Lesebeispiel: Die Prozentwerte sind keinen Angaben zum Stimmverhalten, sondern zur Bedeutung der Faktoren in der Erklärung der räumlichen Unterschiede. Faktoren, die keinen eigenständigen Erklärungsbeitrg leisten, sind nicht signifikant.
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern.

Moser folgert, der Familienartikel wurde in erster Linie aus weltanschaulichen Gründen abgelehnt. Je intensiver eine Gemeinde durch eine nationalkonservative Wählerschaft geprägt wird, desto eher lehnte sie die Vorlage ab. Umgekehrt, je urbaner eine Gemeinde ist, desto eher war sie dafür. Zweiteres erklärt aber weniger als Ersteres, zusammen kann man 83 Prozent der Gemeinderesultate so erklären. Nicht signifikant ist der Einfluss der anderen geprüften Faktoren.

Ganz anders ist das Profil der Gemeinderesultate bei der Abzocker-Initiative, die er zu 71 Prozent erklären kann. Gesellschaftliche und weltanschauliche Einflüsse sind dabei etwas gleich stark. Bei den Gesellschaftlichen dominiert der Status: Je wohlhabender die Gemeinden sind, desto eher stimmten sie gegen die Vorlage, je ärmer, desto eher dafür. Davon unabhängig signifikant bleibt der Stadt/Land-Gegensatz von Belang, denn auf dem Lande war die Zustimmung höher als in der Stadt. Weltanschaulich polarisierte die Vorlage auf der Staat/Markt-Dimension. Je mehr eine Gemeinde von einer Wählerschaft geprägt wird, die für Marktwirtschaft ist, desto eher votierte sie ablehnend, und umgekehrt. Der Grad an Nationalkonservatismus ist hier nicht signifikant.

Das Gemeindebild bei der Raumplanung erklärt sich aufgrund eines Mixes der Analyse bei den beiden anderen Vorlagen: Alles bestimmend war der Faktor nationalkonservativ, den die Ablehnung geht mit genau damit einher. Minimal von Belang sind die gesellschaftlichen Einflüsse, stimmten doch arme Gemeinden etwas vermehrt gegen das neue Raumplanungsgesetz.

Die Befunden bestätigen im Wesentlichen, was unsere Erstanalyse vom Sonntag Abend für die gesamte Schweiz ergeben hatte:

Sie zeigte insbesondere beim Familienartikel einen starken Zusammenhang mit dem Indiviudalisierungsgrad einer Region: Je mehr Menschen in einer Region ausserhalb traditioneller Familienformen leben, desto eher war diese dafür. Auch Moser interpretiert sein Ergebnis zum Einfluss des Urbanitätsgrades entsprechend. Klar war am Sonntag auch, dass die parteipolitische Aufladung der Vorlage im Abstimmungskampf ihre Wirkung nicht verfehlt hatte. Gleiches gilt für die Raumplanung, die letztlich ein weltanschaulich bekämpft wurde, wobei es mit Ausnahme des Kantons Wallis dabei blieb, sodass exemplarische gesellschaftlichen Einflüsse die Ablehnung nicht verstärkten.

Profilierter als noch am Sonntagabend fällt das Ergebnis im Kanton Zürich bei der Abzocker-Initiative. Das hat dürfte mit der klareren Position der SVP im Kanton zu tun haben, deren Ja-Empfehlung einfacher zu vermitteln war als das Nein auf Bundesebene. Entsprechend kommt das nationalkonservative Element im Zürcher Ergebnis besser zum Ausdruck.

Man kann das auch so zusammenfassen: Die Analyse von Dimensionen im Abstimmungsergebnissen ist zwar limitiert, liefert aber robuste (und durchaus vernünftig) interpretierbare Resultate. Für die Vermittlung bleibt einschränken, dass Aussagen mit Zustimmungs- und Ablehnungsraten in bestimmten Gruppen ausbleiben müssen.

Vielleicht ware es, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, im Fazit konsequenter gewesen, keine Evaluierunng der SVP-Parolen zu den Vorlagen vorzunehmen, denn dies bleibt mit dieser Methode und der vorlegten Analyse letztlich spekulativ.

Claude Longchamp

Wobin treibt das Politsystem Schweiz?

Nächste Woche halte ich im thurgauischen Berlingen ein Referat an der Seniorenakademie zum Thema “Sachpolitik und der Kampf um WählerInnen-Anteile“. Hier schon mal die generelle These, auf der ich das Referat aufbauen werde.

Zwischen 1960 und 1990 wurde die Sachpolitik in der Schweiz durch das Konkordanzsystem gut geregelt und breit abgestützt, wobei der CVP die Schlüsselrolle zukam. Im Bundesrat konnte sie normalerweise mit der FDP koalieren, ausnahmesweise mit der SP; in den beiden Parlamentskammern ergaben sich einfache Mehrheiten namentlich mit der FDP, die fallweise durch Einbezug der SVP oder SP verstärkt werden mussten.

Das hat sich zwischenzeitlich gründlich geändert: 2003 verlor die CVP ihre zentrale Stellung im Bundesrat durch den Wechsels eines ihrer Sitze zuzr SVP. Im Bundesrat hätten seit 2003 nur FDP und SP zusammen die nummerische Macht, um Entscheidungen gegen den Willen anderer durchsetzen zu können; inhaltlich macht das aber nur in ausgewählten Themen Sinn; faktisch braucht es deshalb Bündnisse von drei Parteien, um in der Schweiz von regieren zu können. Diese varrieren sehr wohl, von Mitte/Links bis Mitte/Rechts. Das gilt auch für die Arbeit im Nationalrat, abgeschwächt selbst für die im Ständerat.

Meine These ist: Sachpolitik wird dadurch nicht verunmöglicht, aber verändert. Lösungen werden weder von CVP nicht FDP vorgespurt, sondern von den Polen her im Wettbewerb entwickelt, wobei es gilt, flexible Mehrheit zu finden, die im Parlament tragen, allenfalls in einer Volksabstimmung. Hierbei sind wir noch bei Weitem nicht am Ziel.

Immer mehr zeichnet sich eine Dreiteilung von Allianzen im Parlament und in Volksabstimmungen ab: eine linksliberale Tendenz, eine rechtsbürgerliche und eine Mitte-Position. Eine klare Dominanz der Mitte gibt es dann, wenn diese koordiniert auftritt; fällt sie auseinander, weil die Parteien der Mitte (CVP, BDP, GLP) bewusst keinen Block formiert haben und die FDP Vorbehalte hat, sich auf eine Zentrumsposition festlegen zu müssen. Das eröffnet der Sachpolitik bisher unbekannte Möglichkeiten, wobei die Polparteien den Ton angeben, die beiden neuen Parteien jedoch die Möglichkeit haben, bisher undenkbare Mehrheiten zu schaffen.

Indes, für die Politikformulierung sind nicht nur die Parteien zuständig, denn das Konkordanzsystem besteht nebst Regierung und Parlament auch aus den vermittelnden Kräften, insbesondere den Verbänden, und es wird durch die Medien gespiegelt, bisweilen auch verändert. Hinzu kommt ein Wiedererwachen der Bürgergesellschaft, beschränkt bei Wahlen, vor allem aber bei Volksabstimmung, die noch wenig gefestigt, aber in der Lage ist, vom Parlament abweichende Entscheidungen insbesondere bei umstrittenen Behördenvorlagen und oppositionellen Volksinitiativen zu fällen.

Damit wächst die Zahl der neuralgischen Themen, in denen Kompromissfindung erschwert ist. Angeführt wird die Liste durch ungelöste Migrations- und Umweltfragen, immer mehr finden sich aber auch weitere Bereiche wie Gesundheitspolitik, ja selbst auch Wirtschaftsfragen.

Politikwissenschaftliche Analysen der Polit-Systems Schweiz legen nahe, dass wir mit Föderalismus und direkter Demokratie unverändert wichtige Rahmenbedingen für ein Konkordanzsystem haben. Die Schweiz muss zwischen Sprachregionen, Stadt/Land-Gegenden, Links/Rechts-Gegensätzen und Wertekonflikten namentlich zwischen einer offenen und geschlossenen Schweiz immer wieder von Neuem integriert werden. Kantone und Volksabstimmungen sind dabei Anlässe, um diese Konflikte aufleben zu lassen, weshalb es darüber hinaus unveränderte Brückenbauer braucht.

Genau dies ist heute kompliziert geworden, weil der Unterbau der Konkordanz bröckelt:

. zuerst durch die Medialisierung der Politik, mit der eine Polarisierung der Sachthemen und eine Personalisierung der LösungsvertreterInnen Einzug gehalten hat;
. dann die Erneuerung des Parteiensystems, mit dem neue Konflikte wie das Verhältnis zur EU, aber auch die Verhinderung gesellschaftlichen Probleme angegangen werden;
. schliesslich ein Verbandssystem, dass die Willensbildung im Staat nicht mehr gleich stark bestimmen kann wie zu Zeiten des Korporatimus, weil es auf immer mehr pluralisierte Interessen Rücksichtnehmen muss.

Zur Debatte steht heute auch eine Reform des Bundesrates, dem wichtigsten Garanten für Sachpolitik in der Schweiz. Die institutionellen Kräfte scheinen nicht in der Lage zu sein, ein handlungsfähiges Regierungssystem zu schaffen, denn der grosse Wurf mit der Neuen Bundesverfassung ist gescheitert, und das Parlament hat jüngst die Staatsleitungsreform ganz beerdigt. So erstaunt es nicht, das radikale Reformvorschläge die öffentliche Arena erobern, namentlich die Volkswahl des Bundesrates. Diese könnte die Regierungsarbeit besser legitimieren, sie würde die hier aufgezeigte Tendenz jedoch nicht schwächen, sondern eher stärken.

Das dürfte die Sachpolitik angesichts des wachsenden Kampfes um Anteile in der Oeffentlichkeit und Prozentwerte der Parteien nicht erleichtern. Wichtiger erscheint mir deshalb, das “Modell Schweiz” mit seinen offensichtlichen Stärken unter den veränderten Bedingungen neu zu erfinden.

Claude Longchamp

Von den Mutbürgerschaft

Ich sag’s gleich vorneweg: Der Begriff „MutbürgerInnen“ stammt nicht von mir. Erfunden hat ihn Barbara Supp 2010 in der 42. Ausgabe des deutschen Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“. Reagiert hat sie damit auf Dirk Kurbjuweit, der eine Woche zuvor, an gleichen den Wutbürger aus der Taufe gehoben hatte. Beide Wortschöpfungen entstanden aus journalistischen Analyse der Demonstrationen gegen “Stuttgart21”; der Wutbürger aus Antipathie, die Mutbürger aus Sympathie.

Mich hat seit längerem beschäftigt, weshalb der eine Begriff in Deutschland und darüber hinaus Karriere machte, ja, selbst zum Wort des Jahres gekürt wurde, derweil der andere gerade in Deutschland, aber auch hier ausserhalb, in weitgehende Vergessenheit geriet.

Max Kaase, ein führender deutscher Politikwissenschafter, definierte politische Kultur als ein schwer fassbares Gemisch aus Einstellungen der BürgerInnen zum politischen System, seinen Leistungen, den Partizipationsangeboten und den Bildern, die man von sich von sich selber als BürgerIn macht. Genau um Letzteres geht es mir, denn ich vermute, dass aktive BürgerInnen in der obrigkeitsstaatlichen Politkultur Deutschlands negativ konnotiert sind, derweil die Schweiz mit ihrer direktdemokratischen Kultur des Politisierens geradezu von Aktiven ihre Legitimation bezieht und deshalb eher auf der Seite der MutbürgerInnen steht.

Zu ihnen soll man über eine Sachentscheidung hinaus Sorgen haben, und sie nicht leichtfertig verunglimpfen.

Natürlich kann kritisieren, dass die ausgebauten Beteiligungsmöglichkeiten in der Schweiz Rechte sind, deren simple Nutzung sprachlich nicht überhöht werden sollte. Realistisch betrachtet braucht es aber für den Widerspruch bei Abstimmungen eindeutig mehr Mut als für die Zustimmung zu vorherrschenden Meinungen. Genau das hat sich noch verschärft, seit das Schüren von Emotionen, insbesondere von Aengsten, zum gängigen Bestandteil von Wahl- und Abstimmungskampagnen geworden ist. Denn Furcht ist eine natürliche Reaktion auf Gefahr, die einem das richtige Handeln anzeigt, ohne dass man lange nachdenken muss.

Genau diese angeborene Logik des Alltagsverhaltens bei politischen Entscheidungen zu durchbrechen, brauch Mut. Es braucht ihn, um seine Meinung eigenständig zu entwickeln, zu behaupten und danach zu stimmen, wenn die Tenöre der Oeffentlichkeit rundherum das Gegenteil erzählen und mit negativen Konsequenzen drohen, sollte man bei der Stimmabgabe von ihnen abweichen. Denn das engt die Entscheidungsfreiheit ein. Diese ist nicht nur eine simple Forderung an die Demokratie, es ist auch der Ausdruck der gewünschten Orientierung der Politik, wenn die Institutionen dazu nicht mehr in der Lage sind.

Nun ist mir in vielen Analysen, die ich zu Volksabstimmungen gemacht habe, mit schöner Regelmässigkeit aufgefallen, dass es im Normalfall einfacher ist, gegen ein Volksbegehren Kampagne zu führen als dafür. Es ist einfacher, mit Abstimmungskämpfen gegen Volksinitiativen die Gegnerschaft zu verstärken als die Befürwortung aufzubauen. Und es ist einfacher, Unschlüssige von einem Nein als von einem Ja zu überzeugen.

Soziologisch gesprochen wirken entsprechende Kampagnen vor allem in unteren Bildungsschichten, die es meist mit der Angst zu tun bekommen, wenn sich die öffentliche Meinung entsprechend entwickelt, und bei RentnerInnen, die keine Experimente wollen und deshalb eine unsichere Zukunft ablehnen. Das Spannende an der Entscheidung zur Abzocker-Initiative ist, dass genau diese Phänomene nicht auftraten. Untere Bildungsschichten bewegten sich, je länger es ging, desto eher Richtung Zustimmung, derweil in den oberen genau das Gegenteil geschah. Und auch pensionierte BürgerInnen verschrieben sich mit dem Andauern der Kampagnen der Ja-Seite, während jüngere vermehrt ins Nein wechselten. Das Konträre zum Ueblichen ist denn auch das Kennzeichen der Entscheidung ausmacht, welche die Schweiz am Sonntag gefällt hat. Das war nicht einfach Routine, sondern bewusste Abweichung davon: bei Linken nicht überraschend, denn man kennt das bei fast allen sozialen und ökologischen Anliegen; bei Rechten schon, denn es gint nicht um Migrationsfragen, sondern um eine Angelegenheit der Schweizer Wirtschaft.

Nun habe ich mich an diesem Sonntag spontan an den Mutbürger, die Mutbürgerin aus dem „Spiegel“ erinnert, um mit einem Wortspiel auf eine Journalistenfrage zu antworten, denn die zitierte den zwischenzeitlich weit gereisten Wutbürger, während sich der Mutbürger verkümmert in einer Ecke verzogen hatte.

Meines Erachtens verkennt man über die Entscheidung zur Abzocker-Initiative hinaus die aktuelle Situation, wenn man die Pöbelherrschaft, gemeinhin die schreckliche Form der Herrschaft der Vielen heraufbeschwört, um die unliebsame Volksentscheidung zu diskreditieren. Das Spezielle an der jüngsten Volksabstimmung ist – ähnlich wie bei der Verwahrung von Sexual- und Gewaltstraftätern, der Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern, dem Bauverbot für Minarette und der Ausschaffung krimineller AusländerInnen, aber auch der Forderung nach Lebensmittel aus gentechfreier Landwirtschaft resp. dem Stopp des Zweitwohnungsbaus –, dass eine Mehrheit der Aktiven so gestimmt hat, wie sie es für sich selber für richtig hält, und nicht wie die Behörden an ihrer Stelle entschieden hätten. Hauptgrund in meiner Analyse ist die erhebliche Diskrepanz zwischen erlebtem Alltag einerseits, politischen Vorentscheidungen in Regierung und Parlament anderseits. Als Folge davon kann man schweigen und der Abstimmung fern bleiben, was letztlich mutlos ist. Man kann sich anpassen und hoffen, alles werde irgendwann wieder besser, was auch nicht viel Mut braucht – oder man kann sein Mut sammeln und Behörden, wichtigen Verbänden und der Mehrheit der Parteien widersprechen.

Das alleine ist kein Garant für gute Entscheidungen in der direkten Demokratie – das will ich hier ausdrücklich sagen. Die Demokratie lebt davon, das BürgerInnen ihre Stimme abgeben, um das System mit Leben zu erfüllen. Das ist der Fall, wenn sie bewusst zustimmen, aber auch, wenn sie bewusst ablehnen. Das gehäufte Auftreten solch negativer Volksentscheidungen wie in den letzten 10 Jahren via 9 Volksinitiativen, verbunden mit der massiven Ausprägung der Zustimmung am letzten Sonntag, sollte aber Anlass sein, über das Wiedererwachen der Bürgergesellschaft ausserhalb von Institutionen, behördlicher Willensbildung, interessenbezogenen Stellungnahmen und parteiischen Urteilen vertieft nachzudenken, und mit ersten Schritten aufeinander zuzugehen.

Denn vielleicht ist genau das der tiefere Grund, der zu unangenehmen BürgerInnen-Entscheidung führt: dass man hie und da Probleme zu lange negiert; dass man, wenn das nicht mehr funktioniert, nur sehr zögerlich und harzig Lösungen entwickelt, und dass man BürgerInnen, die sich getrauen, einen anderen Standpunkt zu haben, schnell mal diskreditiert. Zur Mutbürgerschaft aller DemorkatInnen gehört, nach einer Entscheidung zu sagen, ich habe mich getäuscht, und ich bemühe mich mitzuhelfen, das Problem zu beseitigen resp. ich hatte Recht, brauche aber euren Widerspruch, um klar zu sehen.

Claude Longchamp

SP und GLP politisieren bei Volksabstimmungen neuerdings am nächsten bei den Stimmenden

15 eidgenössische Volksabstimmungen gab es seit den Parlamentswahlen 2011. SP und GLP fanden für ihre hierzu bestimmten Positionen am meisten Gehör. Mehrheitlich verloren hat dagegen die SVP. Hauptgrund für die Verlagerung der Abstimmungsentscheidungen Richtung Mitte/Links sind die beiden angenommenen Volksinitiativen 2012 und 2013.

Ich weiss, man kan in dieser Sache verschiedene Ansichten haben. Parteien können von sich und ihren Programmen so überzeugt sein, dass sie keinen Milimeter davon abweichen, selbst wenn sie so in Volksabstimmungen regelmässig verlieren. Sie können umgekehrt das Ziel verfolgen, immer zu den Siegern gehören zu wollen, mit dem Risiko, kein erkennbares Profil im politischen Spektrum zu haben. Mein Eindruck ist, dass es bei der Parolenfassung zu Schweizer Volksabstimmungen unter den politischen Parteien beides gibt, aber nur beschränkt. Keine politische Partei ist rein opportunistisch, keine rein fundamentalistisch. Entsprechend gibt es keine, die immer gewinnt oder immer verliert.

Das war auch gestern so: Ein makelloses Abstimmungsblatt trug niemand nach Hause. Zweimal in der Mehrheit waren SP und GPS mit ihrem Ja zur Abzocker-Initiative und zum Raumplanungsgesetz. Beim diesem waren auch GLP, CVP und BDP auf der “guten Seite”, während SVP und FDP das Nein zum Familienartikel vorgezeichnet hatten.


Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Dass linke Parteien zwischenzeitlich näher bei Volksentscheidungen politisieren als die Mitte, hat mit zwei Veränderungen zu tun: Einmal gewinnt das Zentrum bei Behördenvorlagen nicht mehr automatisch, was ihre Bilanz schwächt, während die Linke von den angenommenen Initiativen zu gegen den Zweitwohnungsbau und “Gegen die Abzockerei” profitieren konnte.

Die aktualisierte Bilanz lautet: SP und GLP bekamen in den letzten 15 Abstimmungen 11 Mal Support für ihre Parolen, bei der GPS war es 10 Mal der Fall. Es folgt die CVP und BDP mit je 9 Mehrheits-Uebereinistimmungen, während dies bei der FDP 8, bei der SVP 6 Mal der Fall war.

Die Analyse muss allerdings zweigeteilt erfolgen, separiert nach Behördenvorlagen und Volksinitiativen.


Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

In Referendumssituationen ist die CVP die treueste Regierungspartei. Sie positionierte sich in Abstimmungskämpfen stets gleich mit Bundesrat und Parlament. Beschränkte Zahl an Abweichungen gibt es Mitte/Links und bei der BDP, erheblich ist dies aber im rechtsbürgerlichen Lager: Die SVP scherte 6 Mal aus, die FDP 4 Mal. Die Rechte hatte damit unterschiedlichen Erfolg: Gemeinsam trug man zum Nein einer Behördenvorlagen bei der Buchpreisbindung und beim Familienartikel (indes nur wegen des Ständemehrs) bei; bei der Jugendmusigkeitvorlag und der Raumplanung scheiterte das Duo aber. Ungleicher Meinung war man bei der Managed Care Vorlage, wo sich die SVP mit der opponierenden Mehrheit platzierte, derweil die FDP die Behördenposition erfolglos verteidigte. Das Parlament selber unterlag in drei der sieben Volksabstimmungen – eine bemerkenswert magere Bilanz. Häufiger mit der stimmenden Mehrheit positionierten sich die SP, GLP und BDP, die je fünf Mal obsiegten, während alle anderen Parteien in vier Fällen mit der Mehrheit der Stimmenden obsiegten.


Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

In der laufenden Legislatur wurde über je 4 Volksinitiativem mit rechtem und linkem Unterstützungsprofil abgestimmt. Alle vier “rechten” Volksbegehren scheiterten, zwei der vier “linken” kamen durch, was ein eigentliches Novum ist. Das platziert SP und GPS an der Spitze der Parteien, gleichauf mit der GLP, die bei zwei linken Vorhaben die Nein-Parole herausgab und deshalb ebenfalls sechs Mal in der Mehrheit war. Hier ist die Bilanz der SVP auffällig negativ. Den bei zwei “linken” Abstimmungen war sie in der Minderheit, und auch bei allen “rechten” Vorlagen, denn sie befürwortete diese einhellig. Dazwischen positionieren sich hier die CVP, FDP und BDP, bei denen Siege und Niederlagen gemischt sind.

Das alles lässt den Schluss zu: Die durchschnittliche Volksentscheidung entspricht heute einer Mitte/Links-Position in der parteipolitischen Landschaft. Der neue mainstream ist linksliberal, konkurrenziert wird er durch eine rechtsbürgerliche Oppositon. Von der “neuen Mitte”, die auch ich vor zwei Jahren erwartet hatte, ist angesichts der geringen Koordination von CVP, GLP und BDP nicht mehr viel übrig, was sich auch in der relativen Schwäche der Behörden in gegenwärtigen Volksabstimmungen ausdrückt.

Claude Longchamp

Die 20. Volksinitiative, die angenommen wurde – ein Kommentar zu den möglichen Gründen

Es brauchte gut 100 Jahre, bis die ersten 10 Volksinitiativen Verfassungsrealität wurden. Die nächsten 10 Zustimmungen kamen in weniger als 20 Jahren zusammen. Das ist eine bemerkenswerte, fast schon exponentielle Beschleunigung der Erfolge von Volksinitiativen. Eine Spurensuche der Ursachen.

Das Initiativerecht des Volkes wurde in der Schweiz 1891 eingeführt, um die Bundesverfassung nicht nur von oben bestimmen, sondern von unten ändern zu können. Seither sind sehr viele Volksinitiativen gescheitert, aber auch 20 mit Volks- und Ständemehr angenommen geworden. Eine Spurensuche der Erfolgsursachen.

Zwei institutionelle Reformen standen bisher auf dem Podium der populärsten Volksinitiativen, und ein Geschenk, dass sich die SchweizerInnen selber machten. Konkret: Der arbeitsfreie Bundesfeiertag am 1. August kam 1993 mit mehr als 84 Prozent Zustimmung durch. Aehnlich erfolgreich waren die Erweiterung des Referendumsrechts auf Staatsverträge (71 Prozent 1921) und die Einführung des Proporzwahlrechts für den Nationalrat (67 Prozent 1918).

Neu hat die Abzocker-Initiative von Ständerat Thomas Minder den dritten Rang inne, denn 67,9 Prozent stimmten seinem Vorstoss für die Stärkung der Aktionärsdemokratie heute zu. Die Frage sei erlaubt: Leben wir in einer Krisensituation, wie am Ende des 1. Weltkrieges?

Zum Glück erleben wir heute keinen Abend eines verheerenden Weltkriegs. Aber wir sind mitten in einer turbulenten Umbruchszeit von geschlossenen Nationalstaaten und global ausgerichteten Gesellschaften, die Verdruss erzeugt, was dabei alles passiert, und Unsicherheit weckt, wie es mit der Schweiz weiter gehen.

Das Ja zur Verwahrungsinitiative für Sexual- und Gewaltverbrecher (2004), zur Unverjährbarkeitsinitiative für pornografische Straftaten (2006) sprechen für ungelöste Probleme in den genannten Umständen. Sie haben das Klima entstehen lassen, in denen die BürgerInnen ein Zeichen setzen wollen, wie beim Ja zur gentechfreien Landwirtschaft (2006), zum Bauverbot für Minarette (2009), zur Ausschaffung krimineller AusländerInnen (2010) und zur Limitierung des Zweitwohnungsbaus (2010).

Drei Gemeinsamkeiten haben diese Erfolgsbeispiele für Volksinitiative in der Gegenwart: Genauso wie die Abzocker-Initiative griffen sie eine weit verbreitetes Bevölkerungsproblem auf, dem sie mit dem Volksrecht Einhalt gebieten wollen. Egal, wer die Trägerschaft ist, sie alle fanden partei- und lagerüberfreifend Zustimmung, weil die Behörden das Problem verkannten oder ungenügend regelten. Und, sie alle sprachen die BürgerInnen direkt an, nicht vermittelt über Verbände oder Parteien, die im Parlament gut vertreten oder verankert sind. Heute machen mit den Möglichkeiten der Volksinitiative BürgerInnen für BürgerInnen Politik.

Die Behörden tun gut daran, ihre Ohren neu auszurichten, wenn sie Volksinitiativen beurteilen. Denn sie haben das vormals treffliche Augenmass verloren, was Minder- und was Mehrheitsanliegen sind. Auch in der Mittelwahl gegen erfolgversprechende Initiative gibt es kein Rezept mehr: Weder indirekte, noch direkte Gegenvorschläge sind eine sichere Waffe, um Mehrheiten zu spalten. Und auch die Kampagnenkommunikation mit BundesrätInnen an der Spitze, Verbänden und Parteien im Rücken tragen nicht mehr im gewohnten Masse, wie die Gegner der Abzocker-Initiative rund um economiesuisse heute exemplarisch erfahren musste.

Die Initiatenten haben eine gute Weile experimentiert; heute treten sie mit bunten Rezepten auf, wenn sie ihre Anliegen vortragen: Die einen setzen ganz aufs ungelöste Thema, die anderen vermitteln mit starken Fahnenträgern. Sie leichtfertig zu negieren oder politisch zu diskreditieren, hat sich als fatal erwiesen. Denn wenn die Sache gravieren genug ist, prallt die personalisierte Kritik ganz einfach ab. Mehr noch, die neuen PolitikerInnen aus dem Volk avancieren zu den massgeblichen Kampagnekommunikatoren.

Bisher kamen bei Volk und Ständen vor allem Volksinitiativen durch, die Ueberfremdungsgefühle ansprechen konnten. Hinzufügen musste man jüngst auch ökologische Anliegen. Und seit heute können sogar wirtschaftspolitische Forderungen mit mehrheitlichem Sukkurs aus dem Volk rechnen. Das ist nicht nur eine Erweiterung der Problempalette. Es hat mit ökonomischen Fragen eine Schwelle erreicht, von der man bisher glaubte, sie sei in der Schweiz sakrosankt.

Der heutige Sonntag lehrt, dass es in den bewegten Zeiten der Gegenwart keine Tabus mehr gibt. Die Konkordanzdemokratie, fein austariert zwischen Behörden, Verbänden und Parteien, ist mächtig in Bewegung geraten. Sie wird getrieben von BürgerInnen, welche verdrängte Themen aufgreifen, ihre Lösungen mit Volksinitiativen geschickt umsetzen und von einer Mehrheit anderer BürgerInnen dafür belohnt werden, dass sie Orientierungen anbieten, wie sich die Schweiz von Problemen befreien kann, um sich selber neu zu orientieren, wenn die Politik versagt.

Claude Longchamp

Wahlforschung in Theorie und Praxis (2): Die Grillini in der politikwissenschaftlichen Analyse

Beppe Grillo ist der neue Star und Schreck der italienischen Politik zugleich, denn der Populist weiss einen Viertel der Wählenden hinter sich und schränkt mit seinen Positionen die Regierungsbildung entscheidend ein. Der italienische Politikwissenschafter Giovanni Sartori hat vor 35 Jahren ein Instrumentarium entwickelt, um die Kennzeichen solcher Wahlergebnisse wissenschaftlich umreissen zu können.

Giovanni Sartoris Idee war es, den parteipolitischen Pluralismus, der beim Uebergang vom Zwei- zum Mehrparteiensystem entsteht, einschätzen zu lernen. Denn anders als in Zweiparteiensystemen mit in der Regel klarem Wahlsieger, können Wahlen in Mehrparteiensystemen zu Regierungsbildungen führen, die von geregelt bis ungeregelt ablaufen. Konkret differenzierte der italienische Experte zwischen gemässigtem, polarisiertem und segmentiertem Pluralismus. Ersteres liegt dann vor, wenn ein Mehrparteiensystem Parteien mit ungleicher Stärke, aber geringer ideologischer Spaltungen kennt; zweiteres wird durch weltanschauliche Distanzen zwischen den relevanten Parteien definiert, und vom dritten Typ kann man dann sprechen, wenn relevante Parteien eine Regierungsbildung mit anderen Gruppierungen ausschliessen. Im ersten Fall ist Regierungsbildung normalerweise ohne Probleme möglich, im zweiten ist sie erschwert, im dritten wird sie verunmöglicht.


Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Die Lage in Italien
Ohne Zweifel, Italiens Parteiensystem der Gegenwart ist pluralistisch, ja pluralistischer geworden Drei Parteien-Bündnisse, eine weitere Einzelpartei Partei und drei Regionallisten schafften den Einzug in Kammer und Senat. Zwischen 1994 und 2013 dominierten zwei Bündnisse, das Rechte und das Linke, die sich in der Regierung abwechselten. Seit Neuestem funktioniert das nicht mehr, um gesichert regieren zu können. Hauptgrund ist die 5-Sterne-Bewegung des Politkomikers Beppe Grillo. Denn seine gut 25 Prozent Wählende will er in keine Regierungskoalition einbringen, und auch keine Minderheitsregierung will er auf Dauer dulden. Einzig Uebereinstimmungen in der Sache lässt er mit links und rechts zu, wenn es dem Volk diene.


Beppe Grillo, Chef des Movimento5stelle

Der ausdrückliche Bezug auf das ungeteilte Volk ist typisch für Populisten aller Art. Dazu gehört, dass die neue politische Partei kein entwickeltes Programm vorgelegt hat. Versprochen hat siee, ein Grundeinkommen für alle einzuführen. Zudem will sie sich für ein Referendum einsetzen, mit dem man über den Verbleib Italiens in der Euro-Zone entscheiden will. Seit der Wahl lässt man durchblicken, die Schulden nicht abbezahlen zu wollen, da der jetzige Staat sowieso zusammenkrachen werde.
Ein solches Programm ist nicht ohne Grund: Die Wirtschaftsleitungen Italiens sind klar rückläufig. Die Märkte haben die Regierung Berlusconi ausgehebelt, und die EU führte die Regierung Monti. Denn mit der Entwicklung der drittgrössten Wirtschaft innerhalb der Europäischen Union steht auch die Zukunft des Euros auf dem Spiel. Erschwert werden die institutionellen Reformen in Italien durch ein Parteiensystem, das ausgeprägt dem folgte, was die Politikwissenschafter Richard Katz und Peter Mair “Kartellparteien” genannt haben: politische Gruppierungen, die als Kompensation für ihre verringerte gesellschaftliche Verankerung in erhöhtem Masse vom Staat leben, mit der Folge, dass die Habenden Nichthabende ausgrenzen, derweil die Konsequenzen von Sieg und Niederlage bei Wahlen verringert sind, denn staatliche Unterstützung wird ganz unabhängig davon gewährleistet. Genau dagegen wehren sich die „Grillini“, beispielsweise mit ihrer Forderung, mit einer schnellen Wahlrechtsreform die Zahl der ParlamentarierInnen zu senken.
Dafür das Anhalten des innenpolitischen Drucks auf die kommende Regierung sorgt Beppe Grillo selber. Für ein Parlamentsamt hat sich schon gar nicht beworben. Er zieht es vor, wortgewaltig ausserparlamentarisch Bewegungen auszulösen oder zu stoppen; beispielsweise mit seinen Tiraden auf den Staat, die Institutionen und die Mitbewerber in der Politik, lanciert oder unterstützt via Twitter, wo er auf eine Million Follower zählen kann! Diese neuartigen “Parteiengemeinschaft” vermittelt er erfolgreich das Gefühl, Teil der relevanten Arena der italienischen Politik zu sein.

Nach Giovanni Sartori erfüllt der gegenwärtige Parteienwettbewerb in Italien wichtige Bedingungen, dass das Parteiensystem heute nicht mehr nur extrem fragmentiert ist, und es auch nicht nur durch eine starke Polarisierung prägt wird, sondern eigentliche Antisystemparteien Wahlerfolge feiern. Diese segmentieren die parteipolitische Landschaft so, dass Mehrheitsbildungen und damit Regierungsfähigkeit weitgehend ausgeschlossen werden. Statt stabile Verhältnisse zu gewährleisten, wie es die Theorie vorsehen würde, befördert die Praxis entsprechender Wahlen die Instabilität. Und so zeichnet sich immer deutlicher ein Szenario ab: Pier Luigi Bersani bildet eine Minderheitsregierung, welche die Regierung Monti ablöst, ein Jahr lang ein Notprogramm realisiert, zudem auch ein neues Wahlrecht gehört, auf dessen Basis spätestens 2014 ein gänzlich erneuertes Parlament gewählt wird.

Der Vergleich zur Schweiz

Um mit dem Instrumentarium der Parteisystemanalyse umgehen zu lernen, habe ich meine Studierenden in der gestrigen Vorlesung gebeten, die Schweizer Parteienlandschaft nach den Wahlen 2011 zu beurteilen. Es lag auf der Hand, dass wir keine italienischen Verhältnisse hatten. Zwar ist die Regierungsbildung auch hierzulande etwas erschwert, aber nicht verunmöglicht. Gelegentlich finden sich Spuren der besagten Segmentierung, beispielsweise 2007, als die Grünen den möglichen Eintritt in den Bundesrat mit dem Ausschluss der SVP zu verbinden suchten; oder wenn die SVP, wie 2011 geschehen, damit droht, die Regierungsbildung unter Ausschluss der Linken selber an die Hand nehmen zu wollen, sollte die Mehrheit des Parlaments ihre Wunschkandidaten für den Bundesrat nicht berüchsichtigen. Allerdings, anders als die 5-Sterne können weder die SVP, noch die Grünen die Bildung einer Regierung sperren.


Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Typisch für das heutige Parteiensystem der Schweiz ist indessen die Polarisierung geworden. Seit den 90er Jahren haben angesichts neuer Konflikte die weltanschaulichen Differenzen zwischen den Parteien an Bedeutung gewonnen. Wie zahlreiche Studien der letzten Jahre zu WählerInnen-Präferenzen, Parteiprogrammen, Kandidatenpositionen und Fraktionsverhalten belegen, ist die ideologische Distanz insbesondere zwischen der SVP auf der einen, der SP und der GPS auf der anderen Seite gewachsen. Verringert haben sich damit die Gemeinsamkeiten der Bundesratsparteien, wobei FDP und CVP, die sich sachlich noch am nächsten stehen, gemeinsame Positionen im Nationalrat nicht ohne weiteren Partner durchbringen können. Anders als in Italien hat die Schweiz nicht eine blockierende Mitte, sondern eine blockerte.


Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Etwas veränderlich ist die Zahl der effektiven Parteien, wie Sartori das Produkt aus Parlamentsparteien und ihrer Wählerstärke nannte. 1991 erreichte unser Parteiensystem den bisherigen Höchstwert an Fragmentierung, der sich angesichts der Konzentrationsbewegungen rund um die SVP vorübergehend verringerte, mit dem Entstehen von GLP und BDP jedoch wieder etwas erhöhte. Unabhängig davon, die Fraktionalisierung des schweizerischen Parteiensystems ist, gerade auch im europäischen Vergleich überdurchschnittlich hoch.

Auch in meiner Analyse passen diese Befunde zum polarisierten Pluralismus. Ich weiss, dass nicht alle Schweizer PolitikwissenschafterInnen das so akzentuiert sehen. Meines Erachtens ist es aber genau das, was auch Wahlforschung hierzulande spannend macht: Die Differenz beispielsweise bei Wahlen zu bestimmen, die entsteht, weil wir ein politisches System haben, das auf Machtteilung angelegt ist und bleibt, derweil für das Parteiensystem Machtkonzentrationen typischer geworden sind, die zur Konkordanz nicht wirklich passen wollen.

Claude Longchamp