Krise der Demokratie in Europa?

Wolfgang Merkel referierte am Montag in Bern zum Thema “Krise der Demokratie in Europa”. Seine Auslegeordnung war ganz interessant, indes, sein Beitrag zur aktuellen Debatte blieb weitergehend im Theoretischen.

Die aktuelle Debatte zur Demokratie ist reichhaltig. Verwiesen wird etwa auf sinkende Raten der Wahlbeteiligung. Bemängelt wird das Ungenügen der nationalstaatlich verfassten repräsentativen Demokratie. Kritisiert werden die geringen Einflussmöglichkeiten der BürgerInnen auf EU-Ebene.


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Wolfgang Merkel, Professor für Politikwissenschaft am Berliner WZB, versprach, sich mit dem Thema der Krise der Demokratie in Europa während eines Gastvortrages in Bern systematisch anzunehmen.

Krise habe zwei Bedeutungsgehalte, führte Merkel zu Beginn aus: den aktuten und die latenten. Der akute würde einem kranken Menschen entsprechen, der latente einem alternden, dessen Leistungsfähigkeit nachlasse. Im ursprünglichen Wortsinn bedeute Krise auch Entscheidung, wobei das Ende der Demokratie nicht zwangläufig sei, vielmehr es auch zu einer Transformation der Demokratie kommen könne.

Der gängigen Aufteilung zwischen minimalen und maximalen Konzepten der Demokratie mochte der Referent nicht viel abgewinnen. Vielmehr fasste er gekonnt die Krisendiagnosen vier relevanter Demokratietheoretiker der Gegenwart zusammen: die von Jürgen Habermas mit seiner Legitimationskrise der Demokratie im Spätkapitalismus, die der Trilateralen Kommission mit der Ueberlastung des demokratischen Staates durch nicht-erfüllbare Bürgererwartungen, die von Colin Crouch mit seiner von innen her ausgehölten, nur noch formal bestehenden Postdemokratie und die von Samuel Huntington mit der ethnischen Heterogenität demokratisch verfasster Gesellschaften.

Daraus leitete Merkel sein Konzept der idealen Demokratie mit der Partizipation im Kern, den politischen Rechten, den Bürgerrechten, der Verantwortlichkeit und der Regierbarkeit als Mantel rund herum ab. In Merkels Gesamtdiagnose gibt es im Kern keine wirkliche Krise, im Mantel rund herum jedoch ernsthafte Herausforderungen.

So klar die Ausführungen bis hierher waren, so verworren präsentierten sich die anschliessenden vorgelegten empirischen Belege. Denn die meisten Befunde widersprachen der entwickelten These, ohne das Autor das Wort Falsifizierung auch nur einmal erwähnt hätte.

Zum Beispiel: Die Demokratiezufriedenheit in (westlichen) Demokratie verringert sich bürgerseiteig nicht; auch Expertenratings verweisen zwar auf Unterschiede, nicht aber auf übergeordnete Trends. Wenn schon, habe die subjektive und objektive Qualität der Demokratie in den letzten 25 Jahren eher zu- als abgenommen.

Der wichtigste Krisenbeleg in Merkels Ausführungen ergab sich bei der Legitimation der Demokratie durch (Volks)Parteien, die durch Mitgliedschaft und Wahlbeteiligung zwei wesentlichen Elemente der Partizipation nicht mehr sicher stellen können.

Entsprechend fielen auch die Ausführungen Merkels zu sinnvollen Massnahmen bei der Bewältigung von Demorkatiekrisen eher dürftig aus: Von der Erweiterung der repräsentativen durch die direkte Demokratie mochte der Autor gar nicht sprechen; das tendenzielle Wegfallen der Unterschichten schon in der Wahldemokratie war für den Referenten Warnhinweis genug, dass komplexe Artikulationsforderung zur selektiver Teilnahme führen. Pluralisierungen des Parteiensystem mit neuen Parteien begegnete er ebenfalls mit Skepsis, denn sie würde zwangsweise zu Verhandlungsdemokratien führen, die nichts vereinfachen, eher alles verkomplizieren würden. Eher noch liebäugelte er eine Moment lang mit populistischen Erweiterungen der Demokratie. Seine Abneigung Berlusconis Politikstil blieb alles Zuhörern zwar unverhohlen; die Notwendigkeit, sich verdrängten, von rechtspopulistichen Parteien aufgebrachten Themen anzunehmen, empfahl der Referent schon.

Sicher, man kann Merkel und seinem Forschungsteam zu Gute halten, erst am Anfang eines umfassenden Forschungsprojektes zu stehen. Dennoch, für die zentrale These, die zwischen einem wenig problematischen Kern- und herausgeforderten Kernbereichen unterscheidet, inspirierte theoretisch, aber nicht empirisch, wie die Diskussion zeigte.

Markus Freitag, Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Uni Bern, legte in der Diskussion den wohl interessantesten Kritikpunkt offen. Gerade die politische Kulturforschung verzichte auf letztlich weltanschaulich befrachtete Demokratie-Diagnosen, wie Merkel sie für die Mangel-Regimes propagiere. Vielmehr stelle sie die fundamentale Frage, ob Institutionen und Werte in einer Gesellschaft übereinstimmten und damit Demokratie vor Krise schütze, oder aber ob sich Werte und Normen entwickeln würden, die institutionell nirgends eingebunden seien, und damit auch Demokratie bedrohen könnten. Davon sprach Merkel aber kaum!

Claude Longchamp

Abstimmungsforschung in der Schweiz und in Deutschland im Vergleich

Bereits zum zweiten Mal traf sich der VOX-Beirat, eingeladen von gfs.bern und unterstützt von der Universität Bern, um ausführlich über sich zum Stand der Abstimmungsforschung zu unterhalten. 2012 ging es um den Vergleich der Analysen, wie sie in der Schweiz seit langem und in Deutschland seit kürzerem gemacht werden. Hier eine Auswahl wichtiger Standpunkte.

Exemplarische Ursachen des Meinungswandelns in Abstimmungskämpfen
Am ersten Tag berichteten die Schweizer Kollegen. Ausgewählt wurden Arbeiten, die Vor- und Nachanalysen von Volksabstimmungen kombinieren. Thomas Milic, Oberassistent an den Universitäten Zürich resp. Bern und VOX-Autor, beschäftigte sich mit dem häufig festgestellten Meinungswandel während Abstimmungskämpfen. Zur Erklärung setzte er auf den denkbaren Zusammenhang zwischen Mitteleinsatz in Kampagnen und der Meinugnsveränderung, wie er seit 30 Jahren diskutiert wird. Neu berücksichtigte er selber erhobene Informationen bei den Volksentscheidungen über die Zweitwohnungsinitiative einerseits, den Schutz vor Passivrauchen anderseits. Im Abstimmungsvergleich klassierte er beide Abstimmungskämpfe als unterdurchschnittlich intensiv. Im ersten Fall resultierte kein Mehrheitenwechsel; der Ja-Anteil verrringerte sich aber. Ganz anders verhielt es sich beim zweiten Beispiel, wo die Ja-Werte um exemplarische 24 Prozent zurück gingen, und die Vorlage schliesslich scheiterte. Ein Grund hierfür ortete Milic darin, dass die parteipolitische Polarisierung beim Passivraucherschutz (mit unter wegen parteiabweichenden Stellungnahmen) misslang, sodass die Initiativ-Unterstützung ausnahmeslos in allen Parteianhängerschaften mit der Dauer des Abstimmungskampfes zurückging. Genau das war bei der Zweitwohnungsinitiative anders, denn bei der SP wuchs die Zustimmung, genauso wie bei den Parteiungebundenen, während sie einzig bei der CVP, nicht aber bei SVP und FDP nachliess. Ein zweiter Grund findet sich bei den Argumenten: Jene der Ja-Seite waren bei der Zweitwohnungsinitiative deutlich populärer als jene des entgegengesetzten Lagers, während beim Passivrauchen auch die Nein-Argumente von Beginn weg mehrheitsfähig waren. Schliesslich zeigte auch die Propaganda-Analyse Unterschiede: So konzentrierte sich die Nein-Seite zum Passivrauchen auf die Radikalität der Initiative und übertraf damit die Intensität der Ja-Botschaft, Rauchverbote seien die beste Prävention gegen Lungenkrebs.

Inkonsistenzen in der Stimmabgabe
Alessandro Nai, Oberassistent an der Universität Genf und gleichfalls VOX-Autor, behandelte das Thema der Entscheidungsambivalenz. Zum Vorschein kommt sie beispielsweise dadruch, dass die Argumente beider Seiten mehrheitsfähig sind. Logisch gesehen bedeutet dies, dass es mehr oder minder viele Stimmberechtigte gibt, die sich nicht eindeutige positionieren können und im Abstimmungskampf zwischen den Botschaften beider Seiten abwägen. Im Gegensatz zu andere Untersuchungen interessierte er sich vor allem für Inkonsistenzen in der Stimmabgabe, die gemäss seiner Definition dann vorliege, wenn man anders stimmt, als es die systeamtische Argumentenbewertung erwarten lässt. Er konnte zeigen, dass bei der Staatsvertragsinitiative die Inkonsistenz während des Abstimmungskampfes einzig bei den Parteiungebundenen zunahm, während sie sich bei den Lagerwählern links, in der Mitte und rechts (erwartungsgemäss) zurückging. Bei der Entscheidung zum Zweitwohnungsbau war dies nicht im vergleichbaren Masse der Fall. Insbesondere im rechten Lager vergrösserte sich die Inkonsistenz, indem man, trotz kritischer Bewertung der Argumente, gegen den Schluss vermehrt zustimmte. Die Gründe hierfür vermutet derr Autor in der Rechtsform, dem Thema und der Kampagnenart begründet.

Schweiz als Referenz in einem globalen Prozess
In seinem Abendreferat öffnete Bruno Kaufmann, Präsident iri-europe, die Perspektive von der Schweiz auf den Globus, beschäftigte er sich doch mit der Ausbreitung der direkten Demokratie. Was in der Schweiz seinen Ursprung hatte, findet weltweit Beachtung, sei es auf der rechtlichen, aber auch auf der praktischen Ebene, wie beispielsweise die jüngste Tagung für moderne direkte Demokratie in Montevideo (Uruguay) gezeigt habe. Die Schweiz bezeichnete er weder als Sonderfall, noch als Vorbild. Vielmehr sei sie eine wichtige Referenz. Direkte Demokratie werde dabei mehr und mehr als Bestandteil einer wirklich repräsentativen Demokratie gesehen, die verbessert werde, wenn sie auf unterschiedlichen Artikulationskanälen basiere. Zentral sei, dass beide Form bürgerInnen-freundlich ausgestaltet werden, um eindeutige Entscheidungen zu produzieren.

Stuttgart21: Wut und Aerger dank Volksabstimmung rückläufig

Der zweite Verhandlungstag war Volksabstimmungen in Deutschland gewidmet. Thorsten Faas, Professor für Politikwissenschaft an der Uni Mainz, berichtete über die Entscheidung zur Stuttgart’21, während Harald Schoen, in Bamberg lehrend, zum Nichtraucherschutz in Bayern referierte. Gleich zu Beginn hielt Faas fest, die Entscheidung in Baden-Württemberg sei ein eigentliches Plebiszit gewesen, mit der Absicht, in einer verfahrenen Situation eine verbindliche Entscheidung zu erhalten. Das war denn mit der Annahme des Bahnhofsumbaus auch geschehen. Die Beteiligung, geringer als bei der letzten Landtagswahl, sei in erster Linie durch das vorlagenspezifische Interesse geprägt gewesen, während bei Wahlen das allgemeine politische Interesse von Belang sei. Das habe auch positive Effekte gehabt, indem beispielsweise der Anteil Stimmberechtigter, der entgegen der seiner Präferenz stimmen wollte, mit unter den Stimmenden mit der Zeit zurückgegangen sei. Erreicht worden sei so eine breite Legitimierung, sowohl bei Befürwortern wie Gegnern; zudem seien Wut und Aerger, eigentliche Auslöser der Protestbewegung, mit Dauer der Kampagne zurückgegangen. Zu einer Annäherung der beiden Lager sei es aber nicht gekommen, vor allem wegen des Verdachts, es seien seites der Befürworter relevante Informationen zurückgehalten worden.

Nichtraucherschutz in Bayern: Standpunkte, Unwissen und Beteiligung nicht neutral verteilt

Die Selektivität der Beteiligung stand auch bei Harald Schön im Zentrum seiner Ausführungen. Er konnte aufzeigen, dass Plakate, wie Werbung überhaupt mit der Dauer des Abstimmungskampfes vermehrt genutzt wurden. Beschränkt galt dies auch für Informationsmaterial. Hingegen blieben solche Effekte bei direkten Politikerkontakten aus, mitunter auch, weil sich die grösste Partei, CSU, weder für die eine, noch für die andere Seite aussprach und die Kampagnen der anderen Parteien recht beschränkt blieben. Zu den Problemen, die man sich damit eingehandelt habe, zählte der Referent den Zusammenhang zwischen Abstinenz, Wissen und Position. So konnte er zeigen, je geringer die Information über das neuartige Verfahren war, umso eher beteiligten sich gewisse Gruppen der Vorlagengegner nicht. Eine hypothetische Extrapolation des Egebnisses bei voller Information zeigten denn auch, dass die Zustimmung insgesamt geringer gewesen wäre, immerhin, die Ja-Mehrheit gleich ausgefallen wäre.

Folgerungen für die Forschung in der Schweiz
Pascal Sciarini, Professor für Politikwissenschaft an der Uni Genf, hob in seine Zusammenfassung die unterschiedlichen Forschungsdesigns hervor. In Deutschland habe sich ein kurzfristig interessantes Feld für vertiefte Fallstudien eröffnet, während in der Schweiz der Vergleich zwischen Abstimmungen besser möglich sei. Dennoch leitete er fünf Folgerungen aus der Tagung für die Schweizer Abstimmungsforschung ab. Bezüglich der Untersuchungsdesings postulierte er, die Werbung in Zeitungen miteinzubeziehen, ebenso Vor- und Nachbefragungen stärker zu verknüfpen. Bei letzterem sieht er Verbesserungspotenzial, wenn während der ganzen Kampagnenzeit Vorbefragungen gemacht würden. Zudem plädierte er dafür, vermehrt Teilsegmente der Stimmenden wie Sprachregionen, urbane und rurale Räume zu untersuchen, um Eigenheiten in der Meinungsbildung kennen zu lernen. Schliesslich legte er Wert darauf, Wahlen und Abstimmungen auch hierzulande systematischer zu vergleichen, denn beide Formen der Willensäusserung tendierten angesichts selektiver Beteiligungen dazu, themenspezifische Elektorate zu erzeugen.

Dadurch wird die Bürgerschaft im politischen System nicht mehr eindeutig abgebildet, vielmehr mutiert sie zu einem Hybrid mit konstanten Grundbotschaften und spezifischen Einzelentscheidungen, füge ich bei.

Claude Longchamp