Wie aus WutbürgerInnen Citoyen(ne)s werden

Er ist der optimistischste Politikwissenschafter, den ich kenne. Seine Karriere begann mit einer Habilitation über das gütliche Einvernehmen in der Schweizer Politik. Dass es damit nicht mehr weit her ist, bestreitet der emeritierte Berner Professor nicht. Doch sucht Jürg Steiner via deliberativer Politik nach einen Ausweg Richtung mehr Verständigung.

Wenn es Sommer wird und ich nach dem klingelnden Telefon greife, ahne ich, was kommt: “Claude, das esch dr Jürg”, heisst es in akzentreiem Berndeutsch. Was auch immer für eine Geschichte danach folgt, sie endet mit einer Einladung zum Mittagessen. Letzte Woche war es wieder soweit. Wir trafen uns im Della Casa, einem Berner Traditionsrestaurant.

Jürg Steiner lebt in Thun, wenn er nicht auf Achse ist. Einmal, als er mich am Bahnhof seiner Heimatstadt abholte, fragte er: “Was ist schöner als Thun?” – “Nichts t(h)un”, antwortete er gleich selber – und lachte über den gelungenen Witz.

Dass Steiner in seinem Forscherleben nichts getan hätte, kann man wahrlich nicht behaupten: Seine Habilitation in Mannheim widmete er der Konkordanzkultur der Schweiz nach der Einführung des Zauberformel für die Wahl des Bundesrates. Es war die hohe Zeit des gütlichen Einvernehmens, der Verständigung politisch unterschiedlicher Kreise untereinander. Seit es keine Einigkeit mehr gibt, wie der Bundesrat richtigerweise zusammengesetzt sein soll, ja, seit die Polarisierung die politisch-mediale Szenarie beherrscht, ist es damit nicht mehr weit her. Es herrscht, auch in der Schweiz, meist der Machtkampf, bis klar ist, wer in der Mehr- und wer in der Minderheit ist!

Das ist auch Jürg Steiner, der zwischenzeitlich Professor in Chapel Hill und Florenz war, nicht entgangen. Dennoch hat er nicht aufgegeben: In den letzten Jahren hat er sich ganz dem Projekt der deliberativen Demokratie gewidmet. Gemeint ist damit, dass Demokratie vom Diskurs über politischen Themen lebt, den möglichst viele BürgerInnen ganz im Sinne der partizipatorischen Demokratie miteinander führen. Und genau darin sieht Steiner neue Chancen, den Blockierungen durch das Schwarz-Weiss in der Mediendemokratie etwas gegenüberstellen zu können.

Bei all seinen Treffen in der Schweiz weibelte Steiner für sein neues Buch zur deliberativen Demokratie, das Ende Juni im Cambridge-Verlag erscheint. Vor dem Essen mit mir, war er bei der NZZ-Gruppe – und das nicht ohne Erfolg: Die NZZ am Sonntag widmete zu Pfingsten mit einem grossen Artikel Steiners Thema.

“Weisst Du”, sagte mir Jürg, “auf der ganzen Welt interessiert man sich für Deliberation. Die EU fördert sie mit viel Geld, und selbst die Kommunistischen Partei Chinas experimentiert damit. Nur in der Schweiz bleibt sie ein Unding”. Hauptgrund hierfür sieht der weltgewandte Berner Politologe in der Konzentration auf die hiesige direkte Demokratie, gemeinhin als Spezialfall verstande, der auf dem Globus Seinesgleichen sucht. Dabei übersehe man, dass gerade die Verlagerung der direkten Demokratie von der Versammlungs- zur Abstimmungsdemokratie Vor- und Nachteile habe, ist Steiners Credo: So sei es möglich, dass 5 Millionen Stimmberechtigte gemeinsam kommunizieren und entscheiden können; doch könne man nicht verhindern, dass mit der Medialisierung der Politik eine neue Logik Einzug halte.

Wenn zufällig ausgewählte BürgerInnen wieder in kleinen Gruppen in einem offenen Prozess miteinander diskutieren und einen gemeinsamen Entscheid fällen sollten, verschwinde der Kampf, kehre das Gespräch zurück, würden aus den WutbürgerInnen wieder Citoyen(ne)s.

Es ist eine bemerkenswerte These, die Jürg Steiner mit sich herumträgt. Er weiss sie mir Verve zu vertreten, und er ist nicht um Argumente verlegen, was auch in der Schweiz besser werden müsste. Der unermüdliche Debattierer mit gut 70 Lenzen empfiehlt Deliberation als Gegengewicht nicht nur zu Entscheidungen, die durch Abstimmungskämpfe bestimmt würden, nein, er sieht sie auch als Erweiterung der behördlichen Willensbildung, die zunehmend durch Lobbyismus bestimmt werde.

Forderungen nach mehr Partizipation waren immer das Gegenstück zu Technokratie, bleibt mir in Erinnerung, als wir uns verabschieden. Bis in einem Jahr … Und wer solange nicht warten mag, lese den Artikel der “Aus Wutbürgern werden Citoyens”, den Wissenschef und Physiker Andreas Hirstein in der NZZaSo publiziert hat, derweil fast alle hiesigen PolitologInnen rund um den prominenten Zeitgenossen aus Thun nichtstun, um die Welt zu verbessern.

Claude Longchamp

Die Wirkungen von Volksinitiativen – neu beurteilt

Dieses Buch muss man einfach loben! Denn es erweitert das Kleinklein über (Miss)Erfolge von Volksinitiativen durch einen bisher unbekannten Weitblick in Geschichte und Jurisprudenz. Eine Neubewertung des innovativsten Volksrechts der Schweiz ist angezeigt.

Gabriela Rohner, heute am Aarauer Zentrum für Demokratie tätig, hat einen überwältigenden Ueberblick über die Wirksamkeit von Volksinitiativen vorgelegt. Ihr Zeithorizont ist so umfassend wie nur möglich: Für 162 Jahre Schweizer Bundesstaatsgeschichte ist sie den vielfältigen Wirkungen von Volksinitiativen auf die Rechtssetzung nachgegangen.

Die Standardantwort zur aufgeworfenen Fragestellung lautete (auch in meinen Vorträgen): Rund 10 Prozent der Volksinitiativen werden in der Volksabstimmung angenommen. Der Rest scheitert, führt im besten Fall zu einem Gegenvorschlag, ohne dass man eine gesicherte Uebersicht über Erfolgswerte hätte.

Genau damit hat sich die Juristin Rohner nun beschäftigt, und sie legt, nach qualitativen Fallstudien, eine quantifizierende Uebersicht vor. Ihre neue Antwort ist: In 14 Prozent der Volksinitiativen führt ihre Einreichung zu einem direkten Gegenvorschlag. In weiteren 39 Prozent kommt es zu einem indirekten Vorschlägen. Zusammen sind das die Hälfte aller Fälle. Bei der Hälfte dieser Hälfte führte Verhandlung zwischen Behörden und InitiantInnen zum Rückzug der Volksinitiative – und damit (möglicherweise) zu gar keine Abstimmung.

Rohner nimmt dieses Ergebnis zum Anlass einer weit positiveren Würdigung der Wirkungen von Volksinitiativen als das bisher üblich war: „Diese Zahlen belegen, dass der Dialog mit den Initianten – soweit vertretbar – gesucht wurde mit dem Ziel, eine für alle Parteien akzeptable Lösung zu finden. Die Volksinitiative ist somit ein wichtiges Verhandlungspfand und stelle damit verbunden ein bedeutsames politisches Instrument zur Konfliktlösung dar. Die Kompromissbereitschaft hat massgebend damit zu tun, dass sich der Ausgang einer Volksabstimmung nie definitive voraussagen lässt.“

Die revidierte Lehrmeinung untermauert Rohner mit einer neuartigen Typologie der inhaltlichen Wirkungen der Volkinitiativen, die legislatorisch etwas ausgelöst haben. In einem knappen Drittel spricht sie von einem weitgehenden Erfolg der Initianten, in gut einem Drittel von einem mittleren und im letzten Drittel von einem kleinen Erfolg. Beispiele dafür zitiert sie zuhauf.

Natürlich, fast alles von dem, was hier wiederholt wird, hängt von den Kategorienbildung ab. Die Autorin selber sagt, eine gereifte Methode dafür gibt es (noch) nicht. Ihr ist aber zu Gute zu halten, dass sie die bisher aufwendigste Datenbeschaffung vorgenommen und eher konservative Kriterien verwendet hat. Damit schützt sie ihr optimistisches Urteil vor Einwänden. Ihr Schluss ist nicht das Ergebnis einer subjektiven Wertung; vielmehr kommt er zustande, weil die bisherige Optik, von Wirkungen auf Verfahren in der Abstimmungsdemokratie ergänzt wird durch einen tiefen Einblick in die Gesetzgebung.

Vielleicht ist eine ihrer Begründungen für Politikwissenschafter etwas blauäugig. Denn Rohner glaubt, das Parlament verhandle nur, weil es nicht wisse, wie allfällige Abstimmungen ausgingen. Das weiss das letztlich niemand genau, Annahmen hierzu werden aber sehr wohl ins Positionierungskalkül zu Volksinitiativen miteinbezogen. Dafür ist Politik letztlich auch zuständig.

Dennoch: Nicht nur die 300 Textseiten der Dissertation, die von Andreas Auer betreut wurde, lohnen sich. Es kommt ein fast 100seitiger Anhang hinzu, der bestehende Uebersichten wie bei Swissvotes erhellend erweitert. Da steckt nicht nur unheimlicher Fleiss dahinter, auch Unvoreingenommenheit, die miteinander kombiniert ein neues Bild des Funktionierens der direkten Demokratie erscheinen lässt. Wünschenswert wäre eigentlich nur, das alles wäre via Internet elektronisch verfügbar.

Claude Longchamp

Volkswahl des Bundesrates: Warum die Regierungsratswahlen keine Vergleichsbasis sind

Es ist ein innovatives Gutachten zu den Auswirkungen der Volkswahl des Bundesrates, welches das Justizdepartement vergangene Woche veröffentlichte. Zu deterministisch sollte man es allerdings nicht interpretieren. Denn Wahlen auf Kantons- und Bundesebene sind nicht vergleichbar.

Auf die Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat reagierte die SVP mit der Initiative zur Volkswahl des Bundesrates. Diese ist zustande gekommen, wird aber, wie der Bundesrat letzte Woche entschied, dem Parlament zur Ablehnung empfohlen: Bundesräte seien keine Parteisoldaten, der permanente Bundesratswahlkampf müssten vermieden werden, es gälte Stabilität und Ausgewogenheit des Bundesregierung zu sichern, sind die amtlichen Beweggründe.

Ein gleichentags veröffentlichtes Gutachten der Politologen Adrian Vatter und Thomas Milic zu den voraussichtlichen Folgen einer Volkswahl des Bundesrates entwarnt: zerst, Bisherige würden mit hoher Wahrscheinlichkeit wiedergewählt; sodann, ein parteipolitischer Umsturz sei nicht zu befürchten. Die wahrscheinlichste Zusammensetzung wäre – nach einer Uebergangsfrist – gleich wie zwischen 1959 und 2003, nämlich je 2 FDP, CVP, SP und 1 SVP. Unsicher ist gemäss den Politikwissenschaftern der siebte Sitz: um den würden sich CVP, SVP und GPS streiten. Je nach Mobilisierung sind die die Chancen des Zentrums resp. der Pole. Eine tiefe Beteiligung nützt der CVP, bei hoher Beteiligung am ehesten die SVP.

Die Kollegen der Uni Bern betonen in ihrem Gutachten, die Bundesratswahlen durch das Volk aufgrund von Erfahrungswerten bei kantonalen Exekutivwahlen simuliert zu haben – für den Normalfall. Nun kann man die Ansicht vertreten, dass es für den Normalfall keinen Systemwechsel braucht. Volksinitiativen für eine Volkswahl des Bundesrats sind vielmehr ein Zeichen der Krise –mindestens aus der Optik einer Partei. Im aktuellen Fall ist das die SVP, allenfalls ergänzt durch die GPS.

Solange es jedoch keinen Konsens über die parteipolitische Sitzverteilung unter relevanten Akteuren gibt, ist bei Bundesratswahlen durch das Volk mit Kampfwahlen zu rechnen. Was dabei geschieht, weiss man letztlich nicht.

Meine Wette ist: Von den heutigen Mitglieder des Bundesrates hätten Simonetta Sommaruga (bundesweit sehr bekannte KonsumentInnen-Schützerin) Doris Leuthard und Ueli Maurer (national bekannte ParteipräsidentInnen) die Voraussetzung erfüllt, dass sie auch ohne grossen Wahlkampf vom Volk hätten beurteilt werden können. In Majorzwahlen wären die beiden Frauen wohl auch gewählt worden, während der polarisierende Maurer am ehesten gescheitert wäre. Eveline Widmer-Schlumpf, Didier Burkhalter, Johann Schneider-Ammann und Alain Berset hingegen wären ohne einen aufwendigen Wahlkampf kaum je Bundesrat oder Bundesrätin geworden. Denn bei einer gesamtschweizerischen Wahl hätten sie den MitbürgerInnen ausserhalb ihres Wohnkantons, insbesondere aber auch in anderen Sprachregionen einer breiten Oeffentlichkeit zuerst vorgestellt werden müssen.

Damit sind wir beim springenden Punkt, wenn Bundes- und Regierungsratswahlen miteinander verglichen werden. Kantonales Exekutivmitglied wird in der Regel, wenn man Parlamentarier im Kanton, Präsident einer wichtigen Stadt war und häufig in den lokalen Medien präsent war. Der Schritt zu höheren Weihen ist meist ein relativ klein. Der Schritt vom National-, Stände- oder Regierungrat ist auch für die meisten fähigen PolitikerInnen ein grosser. Denn keiner von ihnen wäre zuvor national gewählt worden!

Ohne eigentliche Medienpartnerschaft, ohne finanziell aufwendigen Wahlkampf geht das für die allermeisten Politikerinnen nicht! Ausser man würde auch das Wahlsystem für den Nationalrat ändern – zum Beispiel, dass die eine Hälfte vom den KantonsbürgerInnen, die andere von den SchweizerbürgerInnen gewählt würde. Solche Zwischenschritte scheut man im Bundesstaat seit seinem Bestehn, selbst für ParlamentarierInnen. Bei Bundesräten will man aber im Nu von Null auf Hundert!

Da bin ich mir ganz sicher: Der/die „erfolgreiche“ PolitikerIn würde nach Medieneignung und finanzieller Potenz gewählt, nicht nach dem Kompetenzprofil.

Das wissen letztlich alle, die sich eingehend mit PräsidentInnen-Wahlen durch das Volk beschäftigt haben. Sie akzeptieren das, denn sie wissen, dass ein Staats- oder Regierungschef mit sachkundigen MinisterInnen umgehen wird. Wenn man, wie in der Schweiz auf diesem Weg Mitglieder einer Kollektivregierung auf nationalstaatlicher Ebene sucht, hat das auf der ganzen Welt kein Vorbild.

Das Argument, in den Schweizer Kantonen habe man das auch, sticht meines Erachtens nicht. Denn Grösse macht etwas aus; und eine Bundeswahl muss sieben Mal mehr Leute involvieren als eine Regierungsratswahl im Kanton Zürich, dem noch einwohnerstärksten Kanton der Schweiz.

Mit der Grösse verändern sich Struktur und Kultur. Nicht zu unrecht, argumentiert man, die Konkordanz funktioniere auf Kantonsebene von Ausnahmen abgesehen gut, auf Bundesebene dominierte dagegen das Alternanz-Denken. Das hat mit einer anderen Medienlandschaft zu tun, mit differenter Interessenartikulation durch Verbände und mit einer Parteienlandschaft, die bundesweit klar polarisierter ist als in den Kantonen.

Genau deshalb sollte man noch so überzeugende Analysen von kantonalen Regierungsratswahlen nicht zu schematisch auf Bundesratswahlen übertragen.

Claude Longchamp

Wahljahr 2011: Bisher unbekanntes Hoch für Volksinitiativen

VertreterInnen des Bundeskanzlei, der Wissenschaft, der Forschung, der Kampagnenführung und des Lobbyings gingen diese Woche an der NPO-Tagung zu Volksinitiativen mit zahlreichen Initiativkomitees in sich: um zu lernen, aber auch zu diskutieren, wo sinnvollerweise Grenzen der Volksrechte sein könnten.

Zum Beispiel Barbara Perriard. Sie ist die amtliche Hüterin der Volksrechte in der Schweiz. Die Basler Juristin leitet seit 2010 die Sektion Politische Rechte der Bundeskanzlei. An der NPO-Tagung zu Stolpersteinen und Erfolgsfaktoren von Volksinitiativen legte sie neue Statistik offen, welche den Gebrauch des Instruments im Wahlumfeld beleuchtet:

. Ergebnis 1: Nie zuvor wurden mit 23 Stück so viele Volksinitiative gestartet wie 2011. Bisheriger Rekordwert war 15.
. Ergebnis 2: Seit den Wahlen 1983 steigt die Zahl lancierter Volksinitiative im Wahljahr- und/oder Vorwahljahr markant an.
. Ergebnis 3: Mindestens seit 1995 gilt, dass die Zahl neulancierter Volksbegehren im Nachwahljahr deutlich sinkt.

Das alles kann man nur so interpretieren: Volksinitiativen sind (mitunter) zu Vehikel von Parteien (und weiteren Gruppierungen) geworden, die sich im Wahljahr profilieren wollen.

Mustergültig vorgeführt wurde dieses Konzept 2007 von der SVP. Symbolträchtig lancierte sie am Bundesfeiertag, dem 1. August des Wahljahres, die Volksinitiative zur Ausschaffung krimineller AusländerInnen. Damit setzte sie im Wahlkampf eines der Hauptthemen, das sie werberisch für sich zu nutzen wusste. Wie kaum eine andere Affiche wurde das Schäfchen-Plakat zur Icon gegen Migration angesichts geöffneter Grenzen, mindestens im nationalkonservativen und rechtsextremen Umfeld. Damit nicht genug: Auch das Parlament stieg unter Führung der FDP auf die Problematik ein, und formulierte ein Gegenprojekt; 2010 kam es zur Volksabstimmung über beides; just ein Jahr vor der nächsten Nationalratswahl präferierten die Stimmenden die härtere Version in Form der Volksinitiative. Lanciert war damit der neuerliche Wahlkampf, der wohl ebenso Erfolg gehabt hätte wie jener vier Jahre zuvor, wäre da nicht der politischen Klimawandel gewesen, ausgelöst durch den Atom-Unfall in Fukushima und den hohen Frankenkurs im unmittelbaren Vorfeld des Parlamentswahlen.

Klar, bei weitem nicht alle im Wahlumfeld lancierten Volksinitiativen sind so wirksam, denn die wenigsten treffen den Zeitgeist so genau wie das bei der SVP-Ausschaffungsinitiative war. Dafür spricht auch, dass die Kopie des gleichen Konzepts 2011 mit der Masseneinwanderungsinitiative trotz grossem werberischen Aufwand versagte.

Betrachtet man die übrigen Initiativen, erkennt man zahlreiche weitere Gründe; zu ihnen zählen:

. Die aufgegriffene Thematik keine keinen wirklichen Problemdruck, der das Projekt befördert.
. Der Lösungsansatz, allenfalls die Trägerschaft sind zu umstritten, um eine genügend breite Masse zu mobilisieren.
. Die Unterschriftensammlung scheitert an der Zahl und Frist für die einreichung gültiger Unterschriften.
. Das Volksbegehren ist ungültig, oder es wird zurückgezogen.

Die Beobachtung legt nahe, dass vor allem deren Zahl rasch ansteigt, nicht zu letzt wegen der vermehrten Marketing-Ausrichtung verschiedener Parteien und Komitees vor Wahlen. Die erhöhte mediale Aufmerksamkeit, aber auch die gesteigerten BürgerInnen-Sensibilitäten sprechen dafür, sich mit Volksrechten ins Szene zu setzen. Nur, das Instrument ist eigentlich dafür gedacht gewesen, verfassungswürdigen Anliegen, welche Regierung und Parlament nicht teilen, Gehör zu verschaffen. Mit der aktuellen Entwicklung bewegen wir uns in Richtung tagesaktueller Probleme, die mit einem Instrument bewirtschaftet werden sollen, das sich dafür kaum eignet, aber als Plattform der Selbstdarstellung gebraucht werden kann.

Mehr noch, selbst die Ankündigung eines entsprechenden Volksbegehrens schafft es bisweil bis in die Top-Spalten der Medien, die nur auf Aufmerksamkeit aus sind, die Frage der Relevant indessen gar nicht mehr stellen. Die vermeintliche Lancierung einer Volksinitiative zur Wiedereinführung der Todesstrafe war der Höhepunkt dieser (unrühmlichen) Entwicklungen.

Im Vorfeld der Tagung habe ich versucht, mit einer Gratiszeitung, die jeden Abend erscheint und viele LeserInnen hat, zu besprechen. Erfolglos – man schnitt die Tagung!

Claude Longchamp

Twittern befördert Blog-Nutzung

Blogs wie meiner sind keine Waschplätze (mehr), eher elektronische Wandzeitungen, deren Nutzung durch gezieltes Twittern steigt.

Rund vier Jahre betreibe ich den Blog “Zoonpoliticon”. Die pageviews hatten sich in den letzten Monaten recht konstant bei 2000 je Tag eingependelt.

Seit gut einem Monat nun twittere ich; vor allem zu Themen, die ich auch dem Blog bearbeite. Das blieb nicht ohne Wirkung auf die Seitenbesuche. In den letzten vier Wochen hatte ich im Schnitt 3000 pagesviews je Tag, mit Spitzen bis an die 6000er Grenze.

Der letzte Monat hat den traffic auf zoonpoliticon um knapp die Hälfte gesteigert!

Spitzenwerte erreichten die jüngsten Artikel über Schweizer Wahlen, aber auch die Erfolgskritierien von Volksinitiativen. Aehnliches konnte ich bei der Publikation der SRG-Umfrage zu den kommenden Volksabstimmungen feststellen.

Mit anderen Worten: Blog-Aktivitäten, die mit twitter beworben werden, lassen eine stark erhöhte Nutzung erkennen. Der Effekt wird besonders dann sichtbar, wenn ich zum Kerngeschäft meiner Oeffentlichkeitsarbeit schreibe und twittere.

Sehr nützlich waren diese Woche mehrere prominente retweets, bisweilen in Oesterreich, welche die Bekanntheit des Blog gesteigert haben und auch zu punktueller Nutzung führten. Optimistisch gedeutet, bringt mir das bald auch ein Wachstum bei der (Stamm)Kundschaft. Diese liegt aktuell bei rund 500 BesucherInnen täglich.

Für einen Fachblog zu Schweizer Politik ganz beachtlich!

Auf die Diskussionsfreudigkeit auf dem Blog hat sich das alles indessen nicht vorteilhaft ausgewirkt. Diese ist, wie bei so vielen Blogs, rückläufig; sie findet entweder auf facebook statt oder gar nicht mehr.

Immerhin, so rasant wie in den letzten Wochen ging es mit Zooonpoliticon noch nie (nachhaltig) bergauf.

Claude Longchamp

Was Ständeratswahlergebnisse bestimmt

In meiner heutigen Vorlesung zur Wahlforschung in Theorie und Praxis werde ich zwei Stunden über Wege der Forschung bei Schweizer Ständeratswahlen sprechen. Majorzwahlen in Zweierwahlkreise sind wenig verbreitet. sodass die Schweiz durchaus als Feldexperiment für die Wahlforschung angesehen werden kann.


Personen- wie Kontextmerkmale bestimmen den Wahlerfolg bei Schweizer Ständeratswahlen. Hier die sechs relevantesten und signifikanten Faktoren, welche die jüngste Studie nachweisen konnte.

„Den Ständeratswahlen wurde seitens der Forschung bisher relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt.” So bilanziert das Handbuch Politisches System der Schweiz den Stand der Dinge.

Zurecht geben sich die Autoren verwundert, denn Ständeratswahlen böten eine ausgezeichnete Möglichkeit, etwas über das strategische Zusammenspiel der Parteien und Wähler zu lernen. Die 20 resp. 26 Wahlkreise bei Ständeratswahlen gäben zudem fast schon ideale Vergleichmöglichkeiten ab, um Einzelbeobachtungen zu verallgemeinern.

Nimmt man den jüngsten Berichts zur grossen Selects-Wahlstudie zur Hand, wir man allerdings erneut arg enttäuscht. Die halbamtliche Wahlforschung zur Schweiz befördert keine nennenswerten neue Befund zu Tage.

Ganz anders beurteile ich eine studentische Gruppenarbeit, im Herbstsemester 2011 ihm Rahmen des Berner Masterprogramms “Schweizerische und vergleichende Politik” erstellt. Carole Gauch, Simon Hugi, Raphael Jenny und Joel Weibel heissen die vier findigen Nachwuchsforscher, welche den Bericht “Der Weg in den Ständerat” verfasst haben.

Die Stärke der Arbeit liegt darin, alle (1. Wahlgänge) der Wahlen im Herbst 2011 in die kleine Kammer untersucht zu haben. Dokumentiert wurden Wahlergebnisse einerseits, Personen- und Kontextmerkmale anderseits. Gestest wurde ein neues Modell zur Erklärung der Stimmanteile, das anschliessend, soweit bewährt, als Prognose verwendet wurde.

Erstaunlichster Befund: In 140 von 145 Fällen kann man heute korrekt voraussagen, ob eine Bewerbung (in der ersten Runde) erfolgt hat oder nicht.

Das schrittweise erarbeitete Modell berücksichtigt sowohl Personen- wie Kontextmerkmale. Signifikant miteinbezogen werden müssen mindestens 6 Variablen:

. ob der/die AmtsinhaberIn wieder kandidiert
. ob die Partei der/des AmtinhaberIn wieder antritt
. wie intensiv die Medien über eine Kandidatur bericht
. die Stärke der Partei einer Kandidatur
. die Stärke der Allianz, die eine Kandidatur unterstützt und
. das Wahlrecht, insbesondere ob die Leerstimmen in die Berechnung des absoluten Mehrs miteinbezogen werden oder nicht.

Vielleicht kommen noch zwei weitere Bestimmungsgründe hinzu: ob man ein Ratspräsidium hatte oder Regierungserfahrung mitbringt. Die Fallzahl ist hier zu gering, um verallgemeinernde Aussagen zu machen; indes die Wirkung ist positiv. Eindeutig nicht der Fall ist dies, wenn man im Nationalrat sitzt; dafür hat es zwischenzeitlich viel zu viele Alibi-Ständeratskandidaturen, deren einziger Zweck ist, die Wiederwahl in die Volksvertretung zu sichern.

Selbstredend gibt es eine gesicherte siebte Variable: ob es sich um einen Zweier- oder Einerwahlkreis handelt.

Das neue Modell ist elaborierter als alle Faustregeln aus der Praxis, aber auch als die einzige wissenschaftlichen Annahme, nach den 1995er Wahlen von Hanspeter Kriesi formuliert.

Vorentscheidend ist (und bleibt), ob der/die Bisherige erneut kandidiert. Ist dies der Fall, bestehen gut Aussichten, dass er oder sie wieder gewählt wird. (Amtsdauer könnte sich zwischenzeitlich als negative Einflussgrösse erweisen.) Ist dies nicht der Fall, hat die Partei des bisherigen Amtsinhabers einen Vorteil. Der ist allerdings nicht mehr so ausschliesslich, wie man das bisher annahm. Vielmehr wirkt sich die Medienpräsenz der (neuen) KandidatInnen bereits halb so stark auf das Wahlergebnis aus. Modelliert wird das Ganze durch die kantonal verschienenen Definitionen der Berechnung der Mehrheit, denn das hat auch Auswirkungen, ob KandidatInnen aus mittelgrossen Partei(allianz)en ein Chance haben. Das Neue an der Analyse besteht eindeutig in der Bedeutung des Medieneinflusses. Bisher ging man davon aus, dass die Absprachen unter den Parteien alleine das Wahlergebnis determinieren. Nun konnte gezeigt werden, dass die wachsende Aufmerksamkeit der Regionalzeitungen, der Lokalradios, ja selbst des Fernsehens von Belang sind.

Noch fehlt es an einem Modell für zweite Wahlgänge. Doch sind diese in der Regel besser beurteilbar. Denn da spricht die Primärerfahrung dafür, dass die Grösse und Zusammensetzung des Kandidatenfeldes – und damit die Allianzbildungen von Belang sind.

Der studentischen Forschungsarbeit habe ich entnommen, dass Befragungen wenig geeignet sind, um Ständeratswahlen zu verstehen. Denn die WählerInnen-Präferenzen sind nicht der Input ins Wahlergebnis, sie sind modulieren bloss den Output des Wahlgeschehens. Ohne eine vergleichende Analyse der Voraussetzungen, die sich aus den Eigenheiten des Kantons und der KandidatInnen ergeben, wird man auf diesem Feld nicht weiter kommen.

Die fünf Fälle, welche den vier Studierenden noch entschwappen werden helfen, den eingeschlagenen Weg der Forschung zu verfeinern. 2 bis 3 der Abweichungen erscheinen mir unerheblich, denn sie bewegen sind in einem kleinen Rahmen, wenn auch gleich rund um die Schwelle des absoluten Mehrs; mit solchen Ungenauigkeiten wird man auch in Zukunft leben müssen. Indes, die Differenzen zwischen Prognose und Ergebnis sind bei den heutigen Ständeräten Karin Keller-Sutter in St. Gallen und Pascale Bruderer im Aargau erheblich; beide Bewerbungen wurden durch das Modell unterschätzt.

Es kann durchaus sein, dass hier qualitative Ansätze nötig sind, um Kandidaturen präziser bewerten zu können. Die Bundesratsbewerbung von Frau Sutter im St. Gallischen, aber auch der SwissAward für die beste PolitikerIn des Jahres für Frau Bruderer im aargauischen gaben den beiden neuen Stars der Schweizer Politik den Status einer nationalen Heroin, deren Bewerbungen einen eigenen Zusatzwert hatten.

Claude Longchamp

Die Schweizer Parlamentswahlen – in der Brille der Selects-Wahlstudie

Vor Wochenfrist erschien der Bericht zur Selects-Wahlbefragung, dem grössten Einzelprojekt der politologischen Forschung in der Schweiz. Für meine Vorlesung zu Wahlforschung in Theorie und Praxis an der Uni Zürich habe ich eine Durchsicht der ersten Ergebnisse 2011 vorgenommen, die meines Erachtens zwischen erhellend und verstellend ausfallen.

Am spannendsten in der Selects-Studie 2011 fand ich den Nachweis, dass es auch bei Schweizer Nationalratswahlen taktisches Wählen gibt. Verglichen wurde die effektive Parteiwahl mit den Wahlabsichten kurz vor der Entscheidung. Am klarsten war die Sache für die SVP-Wählerschaft; 87 Prozent blieben bei ihrer Vorentscheidung. Das Gegenstück bildeten die grünen Parteien: 42 Prozent der vormalig GLP-Interessierten wählten schliesslich FDP, BDP oder GPS. Auch bei eben dieser GPS lösten 36 Prozent ihre Wahlabsichten anders als anfänglich geplant ein: Relevanten Stimmentausch gab es hier gegenüber der SP und der GLP. Damit ist nicht das klassischen Wechselwählen gemeint, das heisst der Wechsel von der zurückliegenden zur aktuellen Wahl. Vielmehr geht es um kurzfristige Entscheidungen, die durch allerlei situtative Umstände verursacht sein können. Demnach schwankt ein beträchtlicher Teil der WählerInnen bis am Schluss, wer ihre Stimme bekommt – und wechselt rund eine Viertel auch.

Möglich wurde dieser Test durch zwei Arten von Befragungen, der Vorbefragungen in den 6 Wochen vor der Wahl, und einer Nachbefragung der gleichen WählerInnen, in den Tagen nach der Nationalratswahl. Ueberhaupt, das Methodendesign der Selects-Studie ist umfassender geworden, was weitere spannende Vergleiche verspricht. Denn die bisher dominierende Nachbefragung der InlandschweizerInnen wurde durch eine erstmalige Online-Erhebung bei AuslandschweizerInnen erweitert worden, und die Strukturanalyse der Wählerschaft ex post ist durch eine dynamische Betrachtung der Meinungsbildung von Tag zu Tag ergänzt worden. Und jene, die vorher interviewt wurden, befragte man im Nachhinein nochmals separat. Damit hat die Schweizer Wahlforschung methodisch an die Trends angeschlossen, die in den USA schon länger bekannt sind, neuerdings aber auch in Deutschland etabliert worden sind.

Trotz dieser Verbesserungen in der Datenlage hat das Selects-Projekt gerade im Konzeptionellen auch Schwächen. Zu ihnen gehört, dass die Operationalisierung der Wahlentscheidung fraglich bleibt. Denn die Studie unterstellt, als wählten alle SchweizerInnen Parteien. Effektiv geben sie jedoch ihre Stimmenen KandidatInnen von Parteien. Wählen sie Bewerbungen mehrer Parteien, verteilen sie ihre Stimmen auf die entsprechenden Parteien. Bisherige Schätzungen zeigen, dass rund die Hälfte reine ParteiwählerInnen sind, gut 40-45 Prozent auf der Parteiliste panaschieren, also Parteifremde berücksichtigen, und 5-10 Prozent mit einer Liste ohne Parteibezeichnung KandidatInnen wählen. Genaue Zahlen dazu hat man aber kaum, und vor allem kennt man die Struktur der drei Wählertypen nicht. Schliesslich bleibt es ein Geheimnis, wer – warum – unter den Parteien Nutzniesser und Geschädigter von dieser Eigenheit des Wahlrechts ist.

Weit im Voraus sind solche Differenzierung nicht auszumachen. Denn das Ausfüllen der Wahlzettel (und damit die Personenentscheidungen) geschieht im Wesentlichen in den 3 Wochen vor der Wahl. Indes, die neue Umfragetechnik unmittelbar vor der Entscheidung wurde nicht dazu eingesetzt, dem zentralen schwarzen Loch in der hiesigen Wahlforschung auf die Spur zu kommen. Nicht ausgeschlossen werden kann deshalb, dass ein Teil des beträchtlichen Taktierens, das der Bericht von Georg Lutz nachweist, auf eben solche Effekte zurückgeht: Man wählte effektiv mit der CVP-Liste, schrieb aber zahlreiche KandidatInnen von FDP, ja auch von SVP und SP auf die eigenhändig veränderte Liste.

Damit bin ich bei einem zweiten Mangel der vorgelegten Wahlanalyse. Die Personeneffekte beim Wählen werden in der Studie unterschäzt. Der Ansatz der Selects-Studie bewegt sich ganz auf der Linie der Theorien der rationalen Wahl, wonach Parteien aufgrund von individuellen Präferenzen hinsichtlich ihres Engagements und ihrer Kompetenz in Sachfragen gewählt werden. Das gibt denn auch Hinweise auf die Bedeutung von Migrations- resp. oder Umwelt- oder Energiefragen für einen Entscheid zugunsten der SVP oder einer grünen Partei. Entscheidungen für Parteien, die näher dem Zentrum sind, können in der Regel auf diese Art und Weise weniger gut erklärt werden. (Das gilt besonders für die aktuelle Erhebung, welche die Kompetenz der Parteien in Wirtschaftsfragen gar nicht ausweist). Denn in der Mitte sind Ideologien weniger wichtig, auch eignen sich die Streitthemen weniger für die Parteiprofilierung. Dafür spielen Traditionen eine grössere Rolle, ist der Stil wichtiger, und vor allem kommt es auf die Personenprofile an, die sich bewerben. Dabei geht es nicht einmal um die ganz grossen Alphatiere, die meist nur rechts für die Mobilisierung massgeblich sind; es interessiert mehr die KandidatInnenauswahl der Partei(en), die einen überzeugen soll, für eine Partei zu stimmen. Gerade hier, wo es um eine dem speziellen Wahlsystem der Schweiz angemessene Erklärungen gehen würde, stockt das Selects-Projekt seit längerem.

Dies wird immer problematischer, weil das Wahlgeschehen, wie überall in modernen Wahlkämpfen, auch in der Schweiz stark medialisiert worden ist. Von postmodernen Kampagnen sagt man, dass sie durch medienspezifische Zielgruppenansprache wirken. Das legt auch die KandidatInnen-Befragungen im Rahmen der Selects-Studie nahe, nicht zuletzt durch die eindrücklichen Auflistung, das nur rund 20 Prozent der Wahlkampf-Ausgaben unserer gewählter ParlamentarierInnen von ihren Parteien stammen, während je zirka 40 Prozent aus dem eigenen Sack resp. aus Spenden Dritter kommen – und das gesamte Geld vor allem für persönliche Give-Aways, Plakate und Inserate eingesetzt wird. Eine Uebersetzung dieses löblich dokumentierten Kommunikations-Trends in die Befragungen, welche die Partei- und Personenwahl bei schweizerischen Nationalratswahlen analysieren, blieb indessen 2012 weitgehend aus.

So kann man schliessen: Mit der Selects-Studie 2011 erfahren wir einiges über den Zusammenhang von Themen und Parteienwahl, auch etwas über Kampagnen, Parteientscheidungen und Mobilisierung. Jedoch, die Personalisierung und Medialisierung in und von Wahlkämpfen bleiben in ihren Wirkungen weitgehend unerklärt.

Claude Longchamp

(Miss)Erfolgskriterien von Volksinitiativen


Bilanz meiner Erfahrungen: Der (nachgewiesene) Problemdruck hinter einer Volksinitiative entscheidet, ob aus dem Aufgreifen von Themen politische Programm via Parlament oder Volksabstimmung wird.

Das NPO-Forum lädt ExpertInnen und PraktikerInnen ein, über Stolpersteine und Erfolgsbedingung nachzudenken. Ich will meinen Beitrag zur Schärfung der gegenwärtigen Problematik mit Referat und Podiumsdiskussion leist. Hier meine These für den heutigen Nachmittag.

Ende des 19. Jahrhundert führte man die Volksinitiative ein. Mit ihre wollte man Teilrevision des Bundesverfassung zulassen, um das schweizerische Grundgesetz der jeweiligen Gegenwart anpassen zu können, ohne jedesmal eine Gesamtrevision vornehmen zu müssen. Ein entsprechendes Instrument auf Gesetzesstufe ist auf Bundesebene nie eingeführt worden.

Die Abstimmungsgeschichte seither kennt drei Phase der Initiativ-Nutzung: Zuerst mit relativ wenigen Initiativen, aber beachtlichen Erfolgsquoten von bis zu 50 Prozent (bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhundert), dann eine geringe Verwendung des Instruments mit ebenso geringer Zahl angenommener Begehren (bis Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts), und schliesslich eine Intensivierung des Gebrauchs, dem seit einigen Jahren auch verstärke Erfolgsaussichten folgen.

Das alles hat die Zahl der Initiativkomitees, die ihr Glück versuchen, anschwellen lassen. Besonders in Wahljahren ist es zwischenzeitlich verbreitet, Volksbegehren zu lancieren – oder auch nur anzukündigen. Die Bundeskanzlei weist momentan über 30 Initiativen im Sammelstadium aus. KritikerInnen monieren, der Schweiz drohe eine Initiativflut.

Die Politikwissenschaft hat keinen festen Analyserahmen entwickelt, was Kriterien des Erfolgs sind. Diskutiert werden aber drei Stossrichtungen der Bewertung:

. die Mehrheitsinitiative, deren Erfolg sich letztlich nur daran misst, dass ihre Forderungen zu Verfassungsrecht werden
. die Programminitiative, die darauf ausgerichtet ist, mit dem Parlament in Verhandlungen zu treten, um auf Verfassungs- oder Gesetzesstufe Veränderungen zu bewirken, allenfalls unter Rückzug der Initiative, und
. die Sensibilisierungsinitiative, die darauf abzielt, die Oeffentlichkeit für eine Thema zu sensibilisieren.

Die beiden ersten Zielsetzungen sind weitgehend unbestritten. Mehrheitsinitiative sind genau das, was man den zusätzlichen Politikkanal zur parlamentarischen Entscheidung nennen könnte. Es geht um Themen, die Parlament und Regierung verkennen, für dies gesellschaftlich mehrheitsfähige Lösungen gibt, die politisch aber umstritten sind. Programminitiativen haben wir, weil man bestimmte politische Programme realisieren möchte, für die es angesichts der fehlenden Gesetzesinitiative keine Artikulationskanäle gibt.

Der Anteil Volksinitiativen, die zu diesen beiden Typen zählen, bleibt recht gering. In den letzten 10 Jahren gehören 10 bis 15 dazu. Abgestimmt haben wir über das Mehrfache. Das eigentliche Problem liegt denn auch in der rasch steigende Zahl an Sensibilisierungsinitiativen. Zwar greifen sie bisweilen neue, auch relevante Themen auf, doch sehr häufig nicht solche, wo bevölkerungsseitig ein sehr hoher Problemdruck besteht. Dafür ist das Instrument nicht gedache. Denn wenn es für die Mehrheit von Politik und Bevölkerung nicht zwingend, eine Neuregulierung der Verhältnisse vorzunehmen, scheitertd das Vorhaben in der Volksabstimmung eindeutig.

Mit meinem heutigen Referat möchte ich Ursachen der Initiativfreudigkeit in der Schweiz aufzeigen. Einschränkung auf dem Gesetzeswege werde ich keine vorschlagen, denn dafür ist mein Respekt vor dem Instrument des innovativsten Volksrechtes in der Schweiz zu gross. Indes, es geht mir darum, das Bewusstsein der Akteure zu schärfen, die sich angesichts tiefer Einstiegshürden, um ein Volksbegrehen zu lancieren, schnell einmal überschätzen. Eine saubere Abklärung der Chancen, politische gehört zu werden, allenfalls sogar selber Druck aufsetzen zu können, ist meines Erachtens auf jeden Fall aufgezeigt. Mit meinen Ausführungen ziele ich aber auch auf die Medien (oder Teile davon), die in einem wachsenden Masse selbst auf Initiativankündigung aufsteigen und Vorstösse popularisieren, ohne die Relevanzfrage zu stellen.

Kurz: Wer eine Volksinitiative lanciert, lanciert ein Polit-Unternehmen für meistens 5 anspruchsvolle Jahre. Wer nicht in der Lage ist, eine nationale Volksabstimmung zu seinem Anliegen zu führen, überlegt es sich besser, mit interessierten PolitikerInnen Oeffentlichkeit zu schaffen, einen parlamentarischen Vorstoss einzureichen, als sich und andere während eines halben Jahrzehnts mit einer erfolgslosen Volksinitiative zu beschäftigen.

Claude Longchamp

Paul Rechtsteiners spektakulärer Wahlerfolg 2011 in der Analyse

Seit 1986 politisiert Paul Rechsteiner unter der Berner Bundeskuppel. Sechs Mal haben die St. GallerInnen den heutigen Präsidenten des Gewerkschaftsbundes in den Nationalrat geschickt; 2011 hievten sie das linke Urgestein in den Ständerat. Journalist Ralph Hug hat sich der Aufgabe angenommen, Gründe für die Ueberraschung zu finden und legt wenige Monate nach der Wahl das erste Sachbuch zu einer Ständeratswahl in der Schweiz vor.

Seinen gut lesbaren Bericht gliedert Ralph Hug in vier Teile: in die Analyse der Ausgangslage, in die Kampagne zur ersten Runde, jene zur zweiten und in einen Ausblick, wie linke Politik mehrheitsfähig sein kann. Dabei macht er keinen Hehl, wo er steht. Das wäre auch falsch gewesen, denn der freie Journalist war Teil des Wahlkampfes auf Seiten des Erfolgreichen gewesen.

Am spannendsten sind die Ausführungen beim Uebergang von der ersten zur zweiten Runde. Denn der Entscheid, nochmals anzutreten stand, so der Autor, alles andere als fest. Beflügelt wurde das Ja hierzu durch den Rücktritt des Bisherigen Eugen David, der angesichts der Wahlschlapp noch am Wahlabend das Handtuch warf. Das eröffente die Perspektive, auf eine Polarisierung zwischen dem Präsidenten des Gewerkschaftsbund einerseits, dem SVP-Parteipräsidenten Toni Brunner anderseits zu setzen, bei der Mobilisierung, Bündnisfähigkeit und Entscheidung nach dem Ausschlussprinzip den Ausschlag geben sollten.

Heute weiss man es: Genau das geschah – auch wenn es für Viele unerwartet endete!

Am Anfang eines solchen Erfolges steht, so die Hoffnung, etwas verändern zu können. Anzukämpfen hat man dabei mit der Erfahrung, dass dies meistens scheitert. Entsprechend konzipiert war der erste Teil der Kampagne: “Gute Löhne, gute Kämpfe” ist genau das, was man von einem gewerkschaftlichen Kandidaten normalerweise zu hören bekommt. Verbreitet wurde es im bekannten Strassenwahlkampf mit den eingespielten Werbemitteln. Zu Multiplikatoren machten man vor allem die Kultur- und Kunstszene.

Soweit bekannt, wie auch das Ergebnis: Ansprechend war die Stimmenzahl Rechsteiners, beträchtlich jedoch auch der Rückstand auf Brunner. Ein Erfolg musste, war man sich im Kernteam um den Kandidaten einig, mit neuen Akzentsetzungen gesucht werden: Der Slogan mutierte zu “Einer für alle!”. Das urbane Umfeld wurde Richtung ruraler Umgebung erweitert. Geschickt steigerte man die Aufmerksamkeit mit nationalen Meinungsmachern, um zu kommunizieren, dass da einer ist, auf den man in den Schaltzentralen von Politik und Medien achtet. Entscheidend war aber die Nomination aus der CVP. Als Aufbaubewerbung mochte der Antritt von Michael Hüppi, Präsident des städtischen Fussballclubs, geeignet erscheinen; nur die kurze Dauer bis zum zweiten Wahlgang war zu kurz, um wirklich Aussicht zu versprechen. Das merkte man bald auch im CVP-Umfeld: die CSP rebellierte, was bei den Altkatholiken wiederum für Rumoren sorgte. Faktisch war die katholische Mitte angesichts innerer Streitigkeit lahm gelegt. Nun begann das, was wohl zum Erfolg führte: die erweiterte Mobilisierung ohne politische Anbiederung. Neue Kreise wie die GLP, aber auch JungpolitikerInnen verschiedenster Couleur, schliesslich auch die Frauenorganisation wurden angesprochen, engagierten sich im Wahlkampf und empfahlen den erfahrenen Politiker, der sich bei der Abwehr von Sozialabbau in verschiedensten Lagern einen Namen gemacht hatte.

Das Ergebnis gab den Hoffenden Recht. Politologe Werner Seitz analysiert die Ursachen in einem kurzen Nachwort wie folgt: Voraussetzung war erstens, dass das bürgerliche Lager seine Hegemonie bei Ständeratswahlen durch die Spaltung zwischen Zentrum und SVP verloren hatte. Hinzu kam zweitens, dass die SVP, gestählt in Proporzwahlen, keine Person vorschlug, die im denkbaren Elektorat nicht polarisierte. Drittens, ohne den Nominationsfehler der CVP hätte trotzdem Vieles anders aussehen können. Denn erst mit diesem Faux-pas stand, viertens, mit Paul Rechsteiner “der geeigneter Kandidatur zur Verfügung, dem es gelang, verschiedene Kreise ausserhalb des traditionellen SP-Segmentes zu mobilisieren.”

“Eine andere Wahl ist möglich”, heisst das Buch. Dem stimmt man unter politischen Engagierten wohl immer zu. Skeptischer reagiert man jedoch, wenn man die Zugabe im Klappentext liest, wonach man von St. Gallen lernen könne. Meine Kritik: So einfühlsam das Buch aus Insidersicht gemacht ist, so wenig trägt es zur Verallgemeinerung von Erkenntnissen bei. Denn zu oft bleibt man beim Lesen bei Wendungen stehen, das Ergebnis hing von der Umständen ab, sei situationsbedingt gewesen, und habe viel mit der Person Rechsteiner zu tun. Entsprechend hat man kein Handbuch zum (denkbaren) Benchmark in den Händen, wenn man den Band aus dem Rotpunktverlage kauft. Vielmehr müsste der Bericht die Wahlforschung animieren, nach generellen Zusammenhänge zu fragen, warum die Veränderungen bei Ständeratswahlen seit einiger Zeit ebenso spannend sind wie die bei Nationalratswahlen, indes, das Pendel ganz anders als bei Proporzwahlen bei Majorzwahlen zugunsten der Linken ausschlägt.

Die Antwort ist meines Erachtens noch offen.

Claude Longchamp

Ein politologisch erst- (und wohl ein)maliges Experiment

Was politisch als Zwängerei daher kommen mag, ist politologisch ein spannendes Experiment: Ein Vergleich der beiden Bauspar-Initiativen, über die die SchweizerInnen 2012 entscheiden.

Am 11. März 2012 entschieden die StimmbürgerInnen, die Volksinitiative “Für ein steuerlich begünstigtes Bausparen” abzulehnen. 43,4 Prozent betrug die Zustimmung bei Volksmehr. Damit war die Sache gescheitert. Am 17. Juni 2012 stimmen wir über die “Schwester-Initiative” ab; “Eigene vier Wände dank Bausparen” heisst das Projekt. Die Zielsetzungen beider Volksinitiativen sind gleich: Der Erwerb von Hauseigentum soll steuerlich begünstigt werden. Die Fördermittel sind verschieden: Die erste Bausparvorlage wollte die Kantone ermuntern, fiskalische Begünstigungen einzuführen, die zweite zwingt sie, das zu tun.

In vielen politisch motivierten Kommentaren wurde die zweifache Abstimmung innert dreier Monate kritisiert. Den Initiativkomitees wurde Eigenprofilierung vor Sachfrage vorgeworfen, und an die Adresse des Bundesrates ging die Klage, die direkte Demokratie zu stressen.

Was politisch als Zwängerei daher kommen mag, ist politologisch jedoch ein spannendes Experiment. Warum?

Am Abend des 17. Juni 2012 werden wir die Abstimmungsergebnisse vergleichen können: Wir werden generelle Präferenzen der Kanton zum Bausparen an sich kennen, und wir werden eine Abschätzung machen können, ob gemässigte oder radikalere Initiativen eine höhere Annahmechance haben.

Bereits heute können wir Meinungsbildungsprozesse vergleichen, denn es stehen erste vergleichbare Umfragen zur Verfügung, die jeweils rund 7 Wochen vor der Volksabstimmung erstellt wurden.

Einige findige JournalistInnen zeigen sich heute erstaunt, dass die momentane Zustimmungs zur anstehenden Initiative etwas höher sei als der Ja.-Anteil bei der abgelehnten Vorlage.

Das ist so nicht richtig. Denn man erkennt die Zustimmungsbereitschaft nur, wenn man Aepfel mit Aepfeln vergleicht – sprich Werte aus Vorbefragungen unter einander in Beziehung setzt. Und man darf dabei die variable Beteiligung(sbereitschaft) nicht unterschlagen. Dafür muss man die Ja- und Nein-Prozentwerte aus Vorbefragungen mit den Beteiligungsabsichten in eben diesen Erhebungen multiplizieren. Dann sieht das wie folgt aus:


SB: Stimmberechtigte, TW: Teilnahmewillige (Tabelle anklicken um sie zu vergrössern)

Mit anderen Worten: Geringer als vor drei Monaten sind im Umfragenvergleich

– die Teilnahmeabsichten
– die Zustimmungsbereitschaft und
– die Unschlüssigkeit

Grösser geworden ist dagegen die Ablehnungsbereitschaft. Verschwunden ist damit der scheinbare Widerspruch!

Nun dürfen auch die beiden Ausgangslagen nicht einfach fix auf das erwartete Abstimmungsergebnis vom 17. Juni 2012 übertragen werden, Denn es kommt zweimal auf die Richtung und das Ausmass des Meinungsbildungsprozesse an. Einfacher ist es, ersteres abzuschätzen: Nach aller Erfahrung steigt der Nein-Anteil, und sinkt der Ja-Anteil – jeweils unter den Teilnahmewilligen- Diese werden während eines Abstimmungskampfes etwas zahlreicher. Konkret: Zu erwarten ist, dass die Beteiligungsbereitschaften bis Mitte Juni leicht zunehmen, dass der ausgewiesene Nein-Anteil in den Umfragen stark wächst, und allenfalls auch der Ja-Anteil noch etwas sinkt. Damit ist das Szenario., dass auch die zweite Initiative angelehnt wird, wahrscheinlicher als das Umgekehrte.

Wie gross die Veränderungen sind, weiss man jedoch nicht. Denn sie hängen von den Kampagnen Pro und Kontra und der Mobilisierung durch die Gesamtheit der Abstimmungsthemen ab. Das kann schlicht niemand vorwegnehmen. Diese Beurteilung wird man erst am Abstimmungstag machen können.

Bis dann gilt: Zwei sehr ähnliche Abstimmungen in kürzester Zeit führen dazu, dass die Unschlüssigkeit unter den Teilnahmewilligen sinkt, und zwar Gunsten der Mehrheit in der ersten Abstimmung. In unserem konkreten Fall zugunsten der Ablehnungsbereitschaft. Das ist eigentlich genau das, was man erwarten konnte.

Am Abstimmungstag wird man auch eine Antwort haben, welche Vorlage mehr Ja resp. Nein bekam. Und damit sagen können, ob gemässigtere oder radikalere Volksinitiativen mehr Zustimmung bekommen.

So viel heute zum politologisch erst- und wohl auch einmaligen Experiment!

Claude Longchamp