Was die Parteienforschung für die Wahlanalyse zu bieten hätte.

Meine dritte Vorlesung zur Wahlforschung an der Universität Zürich beschäftigte sich mit der Parteienanalyse. Zur Sprache kamen drei sozialwissenschaftliche Ansätze mit unterschiedlicher Sichtweise. Damit schloss ich den Einstieg ins Thema ab.

parteien
Stufen in der Entwicklung des Parteiensystems der Schweiz (1848-2011)

Konfliktlinien
Der eigentliche Klassiker der (makro)soziologischen Analyse von Parteiensystem stammt aus dem Jahre 1968, verfasst von Seymour Lispet und Stein Rokkan. Die Polity eines Landes, sprich das Parteiensystem, aber auch das Wahlrecht und die politische Kultur, sahen sie, in Europa, bestimmt durch zurückliegende Konflikt ökonomischer und kultureller Natur, entstanden während der Reformation, der französischen, bürgerlichen und russischen Revolution. Daniele Caramani hat das für das zwanzigste Jahrhundert nachgezeichnet, und er fügte die Parteiwandlungen angesichts der Totalitarismen, den postmateriellen Wertewandel und den Konflikt zwischen offener und geschlossener Gesellschaft der Gegenwart bei.
Auf die Schweiz angewandt heisst das, der Konfessionalismus durch die Glaubensspaltung prägte lange die politischen Kulturen als geschlossene Räume, die Industrialisierung polarisierte zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern und der Postmaterialismus hat neuen Lebensweisen Platz gemacht. Namentlich mit der Oeffnung der Schweiz unter den Bedingungen der Globalisierung entstand der Gegensatz zwischen modernen, aussenorientierten und traditionellen binnenorientierten Werten. Letzteres hat den Aufstieg der SVP bewirkt, der Postmaterialismus die Grüne Partei entstehen lassen. Die herkömmlichen Polarisierung zwischen Links und Rechts hat die SP der FDP gegenübergestellt, während der Gegensatz zwischen FDP und CVP weitgehend durch die Konfession bestimmt wurde.

Organisationstypen

Anders setzten die Parteienforscher Richard Katz und Peter Mair an. Sie analysierten die verschiedenen Organisationstypen der Parteien. Frühe Demokratie kannten vor allem Eliteparteien, auf in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Massen(integrations)Parteien folgten. Nach dem zweiten Weltkrieg machten sich die Volksparteien breit, deren Sammlungskraft indessen nachgelassen hat, weshalb neuen Parteitypen entstehen. Katz und Mair sprachen von Kartellparteien, die sich mit dem Staat verschmelzen, während Analytiker wie Klaus von Beyme das Hauptmerkmal auf professionalisierte Wähleransprache legte.
Mit ihren Strukturen waren CVP und FDP lange die typischen Volksparteien der Schweiz, neigen zum Typ Kartellparteien. Das trifft beschränkt auch auf die SP zu; mindestens in den 90er Jahren zeigt sich auch Ansätze einer professionalisierten Wählerpartei. Dieser Typ wird in der Schweiz am klarsten durch die neue SVP repräsentiert. Kleinere Parteien wie die GPS, die BDP und die GLP lassen sich mit dieser Typologie nicht wirklich beschreiben.
Vielleicht braucht es auch einen fünften Typ, um neue Parteien, wie sie in ganz Europa neuerdings entstehen, zu beschreiben. Die niederländischen Partei der Freiheit jedenfalls passt in keine dieser Schubladen; am ehesten sie sie aber eine (rechts)populistische Protestpartei, die anders als professionalisierte Wählerparteien von der Mobilisierung aus dem Moment heraus auf spektakuläre Wahlerfolge setzten, um Druck auf etablierte Parteien auszuüben.

Systematik der Ursachen für Wahlveränderungen
Last but not least, hat die Wahlforschung im Gefolge von Vladimir O. Key eine interesssante Systematik entwickelt, um Veränderungen im Parteiensystems, wie sie bei Wahlen zum Ausdruck zu kommen, typologisch zu erfassen. Unterschieden wird zwischen einer kritischen Wahl, bei der bisherige Wahlentscheidungen namhaft geändert werden, sei es wegen Personen oder Themen, säkularen Dekompositionen aufgrund veränderter Bedingungen des politischen Sozialisation, systemischen Aenderungen, namentlich durch Veränderungen im Wahlrecht, und parlamentarischen Veränderungen, die sich aus der Regierungsbildung ergeben.
Auch das kann man anhand der Schweiz exemplifizieren. Die grossen systemischen Veränderungen waren die Einführung des Proporzwahlrechts einerseits, des Frauenwahlrechts anderseits. Sie bleiben nicht ohne Folge für das Parteiengefüge. Säkularen Veränderungen unterworfen sind namentlich die FDP und CVP, deren Wählerschwund langanhaltend ist; ähnlich kann man auch die Mutation der Linken interpretieren, bei sich sozialdemokratische und grünen Parteien auseinander entwickelt haben. Die BDP wiederum ist die Folge der Bundesratswahlen von 2007; ihr Wahlerfolg von 2011, vor allem aber auch der der GLP kann als kritische Wahl angesehen werden. Das gilt selbstredend auch für die SVP-Erfolge zwischen 1995 und 2007.

Vorläufiges Fazit
Meine (selbstkritische) Meinung dazu ist: Die Wahlforschung in der Schweiz ist zu sehr auf einzelne Phänomene und ihre momentanten Auswirkungen auf Parteistärken ausgerichtet. Sie vernachlässigt den Wert solche übergeordneter Analysekategorien in der Wahl- und Parteienanalyse zu sehr. Das gilt indessen nicht nur für Forscher, es trifft auch auf Parteifunktionäre zu. Ihre Wahlanalysen in eigener Sache abstrahieren weitgehend vom (perspektivischen) Angeboten der sozialwissenschaftlichen Forschung.

Claude Longchamp

Warum die SVP Mühe bekommen hat, Wahlen zu gewinnen

Zwar sind am Wochenende kantonale Wahlen in St. Gallen, der Waadt, in Schwyz, im Thurgau und in Uri; und einige diese Kantone sind, seit der EWR-Entscheidung von 1992, zu eigentlichen Hochburgern der SVP avanciert. Doch musste die stärkste Partei der Schweiz beim den letzten nationalen Wahl gerade in diesen Regionen herbe Niederlagen beklagen.

svp
Uebersicht über die kantonalen Entwicklungen der SVP-Stärke bei den Nationalratswahlen (Grafik anklicken, um sie zu vergrössern)

Der Tages-Anzeiger von heute setzt zum Schweigen zu dieser neuartigen Herausforderung einen Gegenpunkt. Er rechnet mit Verlusten für die SVP in St. Gallen, Schwyz und Uri, kaum jedoch in der Waadt. Vier Gründe nennt er dafür:

. Zunächst den Gripen-Kauf, den SVP-Bundesrat Ueli Maurer beantragt hat, der jedoch ein Sparprogramm auch in der Landwirtschaft zur Folge hat.
. Sodann die Attacke auf Nationalbank-Präsident Philipp Hildebrand, sie doch eine autonome Nationalbank vielen SVP-WählerInnen heiliger als man gemeint habe.
. Weiters die weitgehend unterbliebenen Blutauffrischung in der Parteispitze, mit der kein Gegengewicht zum Machtzirkel rund um Christoph Blocher geschaffen worden sei.
. Schliesslich die Initiative gegen Masseneinwanderung, die Forderungen enthalte, die bis weit in Gewerbekreise hinein verpönt sei, was sich auch im Wirtschaftsflügel der SVP bemerkbar mache.

Mark Balsiger, Berner Politberater fasst das so zusammen: Die SVP habe nach der Wahlniederlage im Herbst Glanz- und Ausstrahlung verloren, wenn auch auf hohem Niveau. Und Michael Hermann, Zürcher Politgeograph, doppelt nach: Viele hätten die SVP wegen ihrer klaren Position in Migrationsfragen gewählt, und nicht unbedingt wegen ihrer Sparpolitik.

Meiner Meinung nach greift das alles ein wenig zu kurz. Das Besondere an der SVP, der grösste neuen Rechtspartei Europas, die (fast ununterbrochen) in der Regierung ist, besteht darin, gleichzeitig

. eine typisch nationalkonservative Partei zu sein, die vernachlässigte Themen besetzt hat, und so während Jahren für Unzufriedene wählbar wurde,
. die auch einen rechtspopulistischen Auftritt pflegt, mit dem regelmässig Neuwählende jeden Alters mobilisiert werden, die einen eigentlichen Systemwechsel mit der SVP als starke Kraft in einer rechten Regierung wollen.

Die Partei hat dabei sowohl auf ein professionalisiertes Management der Wähleransprache gesetzt, wie es auch ausserhalb der Schweiz bekannt ist. Sie hat Maximierung an Wählerstimmen betrieben, liberalkonservative Themen besetzt und personalisierte Identifikation angeboten. Gleichzeitig hat sie, anders als als konservative Parteien in Europa, auf die bewusste Diskreditierung der gewählten Herrschaft und etablierten Politinstitutionen gesetzt, das mit dem bekannten Freund/Feind-Schema arbeitet, Schuldige bei den anderen benennt, statt nach mehrheitsfähigen Lösungen zu suchen.

Meine These ist nun die: Ersteres macht die SVP weitgehend unverändert gut, letzteres ist ihre jedoch abhanden gekommen. Das ist nicht nur ein Phänomen in St. Gallen, es ist eine umfassende Erscheinung. Insbesondere seit dem Attentat von Anders Breivik ist Oslo sind die rechtspopulistischen Provokateure ihrerseits diskreditiert worden; sie verlieren seither flächendeckend Wahlen.
Wenn es um Migrationsfragen geht, bleibt die Aufmerksamkeit für die SVP hoch; einfach politisierbar bleiben Asylthemen. Trifft es dagegen auch die einheimische Wirtschaft oder das Land als Ganzes, werden Widerstände aus der (aussenabhängigen) Wirtschaft sichtbar, macht sich aber auch Widerspruch bei konservativen Bürgerlichen bemerkbar, die den Populismus verabscheuen.
In diesem Dilemma ist die SVP neuerdings gefangen. Denn BDP und der neu etablierte rechte Flügel von FDP und CVP haben gelernt, konservativen Bürgerlichen eine Alternative anzubieten resp. die WählerInnenverluste einzugrenzen. Je die SVP auf diesem Terrain punkt will, umso mehr verliert sich an Zugkraft im Populismus-affinen Wählersegment. Da ist es ihr bis jetzt zwar gelungen, national eine rechte Konkurrenz zu verhindern, nicht aber ihre Mobilisierungsfähigkeit zu halten. Genau das nagt an ihrem einzigartigen Amalgam.

Claude Longchamp

Konkordanz in Theorie und Praxis

Die zweite Vorlesung zur „Wahlforschung in Theorie und Praxis“ an der Uni Zürich bot Anlass, über die Eigenheiten der Konkordanz-Diskurse in Politik und Politikwissenschaft und den Reformvorschlägen, die daraus resultieren, nachzudenken.

„Ich kandidiere zur Wiederherstellung der Konkordanz“, sagte Bruno Zuppiger kurz nach seiner Nomination als Bundesratskandidat 2011. Faktisch meinte er, mit seiner Bewerbung gegen Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf antreten zu wollen. Den Rest der Geschichte kennen wir. Zuppiger musste wegen Anschuldigungen seine Kandidatur zurückziehen; der nachnominierte Hansjörg Walther wurde nicht gewählt; die SVP ist unverändert mit nur einem Sitz im Bundesrat vertreten; sie hat, vorübergehend lautstark, den „Bruch der Konkordanz durch die andern“ beklagt, um dann doch mit nur einem Vertreter im Bundesrat zu bleiben.

PolitikwissenschafterInnen, die sich wie amerikanisch-niederländische Politikwissenschafter Arend Lijphart ein Leben lang mit dem Thema „Consociationalism“ auseinander gesetzt haben, kommen zu einem ganz anderen Verständnis. Konkordanz sei eine Form der Regierungsweise in tief gespaltenen Gesellschaften, um Gewalt in der Politik zu vermeiden, Demokratie zu gewährleisten und Stabilität der Regierung zu garantieren. Ausdruck der Konkordanz seien Proporzwahlrecht für das Parlament, grosse Koalitionen für die Regierung, Minderheitenschutz und Föderalismus.
Konkordanz, könnte man es zuspitzen, bestimmt sich nicht einfach nach der personellen oder parteipolitischen Zusammensetzung der Regierung; sie ist ein Demokratiemuster, der Umstände wegen.

Eben dieses Demokratiemuster der Schweiz bestimmte Adrian Vatter, Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Bern, wie folgt:
. Erstens, grundlegend sei, dass nicht die Parteien die Interessenvermittlung dominierten, sondern den Verbänden eine zentrale Rolle in der Willensbildung zukommt; das versachliche den möglichen Parteienstreit.
. Zweitens, Machtteilung werde durch die hohe Bedeutung der Kantone im schweizerischen Politsystems nachhaltig garantiert; das relativere die Möglichkeit, zentral eine Politikrichtung vorzugeben.
. Drittens, die durchdeklinierte direkte Demokratie in der Schweiz begünstige die BürgerInnen-Partizipation auf allen Stufen; sie wirke mässigend auf politische Einseitigkeiten aus, die sie durch Volksentscheidungen korrigiere.
Mit letzterem geht typischerweise einher, dass Konkordanz auf einer Mehrparteienregierung basiere, die mehr als die knappest mögliche Mehrheit integriere. Nicht entgangen ist Vatter, dass Konkordanz heute auf kantonaler und Bundesebene unterschiedlich gut funktioniere; der Wandel weg vom Spezialfall hin zum Normalfall finde hier schnell statt als in den Kantonen, ohne jedoch schon dort angekommen zu sein.

Wenn Determinanten des politischen Systems auf Konkordanz ausgerichtet bleiben, ein zentrales Element, das Parteiensystem auf Bundesebene mit seiner Aufteilung in neue Akteure und polarisierte Parteien, jedoch in eine andere Richtung weist, stellt sich die Frage, was verändert werden muss. Ich denke, es gibt unter den hiesigen Politologen heute drei typische Antworten darauf:

. Einmal, Regierungskonkordanz bleibt zentral, sie muss aber institutionell erneuert werden, um den veränderten Bedingungen in Medien, Parlament und Regierung Rechnung zu tragen.
. Sodann, das Politsystem ist überholt und muss den neuen Entwicklungen in den Parteien entsprechend in Richtung Alternanz umgebaut werden.
. Schliesslich, die Regierung soll inskünftig alle jene Parteien umfassen, die sich langfristig an konkordanten Regeln ausrichten wollen.

Letzteres vertritt beispielsweise der Genfer Politikwissenschafter Pascal Sciarini; er spricht dabei von der kleinen Konkordanz, die funktionsfähig bleibe, auch wenn auf eine Polpartei im Bundesrat verzichtet werde. Zweiteres ist das Steckenpferd von Hanspeter Kriesi, Politologieprofessor in Zürich, demnächst in Florenz, der die SP auffordert, in die Opposition zu gehen, sich umfassend zu erneuern und so den politischen Kampf mit der erstarkten Rechten in einem veränderten System aufzunehmen. Ersteres wiederum propagierte jüngst Michael Hermann mit seinem Plädoyer für eine Revitalisierung der Konkordanz durch Elemente der Volkswahl des Bundesrates, des Schiedsgerichtes durch das Volk bei uneinigen Parlamentskammern und durch Aufwertung der Bundeskanzlei zu einem Präsidialdepartement mit besonderen Befugnissen.

Ich selber bin ja immer wieder erstaunt zu sehen, wie gut der Sog funktioniert, dass man als grosse Parteien nur in der Regierung Erfolge für die eigene Wählerschaft erzielt, selbst wenn man Probleme auf sich lädt. Denn insbesondere das Kollegialsystem wirkt nachhaltig einschränkend auf die Profilierungsmöglichkeiten einer Regierungspartei.
Konkordanz ist deshalb eine Herausforderung für politische Parteien, die dauerhaft Erfolg haben wollen, die sie nicht unterschätzen sollten. Ohne Anpassungsleistungen der Parteien an die mehr oder weniger garantierte Teilhabe an der Regierung kann das Demokratiemuster nicht überleben, das bei aller Veränderbarkeit der Schweiz durchaus angemessen bleibt.

Claude Longchamp