Wahljahr im Zeichen der Schuhe

Diese Woche war ich jeden Abend unterwegs. In Wahlsendungen, auf Podien und als Vortragsredner. Um über Wahlen, Wahlkämpfe und Wahlanaysen zu sprechen. Hier meine Einleitung zum Hauptreferat.

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“Meistens seien meine Analysen relevant, schrieb jüngst die BernerZeitung. Seltene Abweichungen davon bestätigen die Regel, füge ich bei. Dennoch bin ich vorsichtiger geworden als ich auch schon war: Um mich zu vergewissern, ob ich nur mit dem Kopf arbeite oder auch mein ganzer Körper mitgeht, achte ich auf meine stillen, bisweilen auch unbewussten Veränderungen.

Im Wahljahr 2011 ziehe ich nach 9 Monaten folgende Bilanz: Noch nie habe ich so viele Schuhe gekauft!

An den Schwestern Penelope und Monica Cruz kann es ja nicht liegen. Deren Kampagne für Vögele Schuhe wurde wegen offensichtlichem Misserfolg vorzeitig eingestellt. Wahrscheinlich gehörte ich auch nicht zur anvisierten Zielgruppe. Denn dafür bin ich dann doch zu politisch.

Die ersten Schuhe, die im Wahljahr meine Aufmerksamkeit erheischten, kamen am 1. Januar 2011 mit der Neujahrskarte von Micheline Calmy-Rey. Sie zierten, als offensichtlicher eye-catcher, die Neujahrsgrüsse der Bundespräsidentin. Mancher Genossin dürfte die Atem stecken geblieben sein, denn das Bild hätte auch der Lauterkeitskommission der Werbung zustellt werden können – wegen sexistischer Reduktion einer Frau auf ihre Füsse und Schuhe.

Man hat in der welschen Presse spekuliert, es sei MCR selber gewesen, die in verführerischen Pumps an uns vorbei ging. Genau genommen: aus dem Bild lief. Im Nachhinein könnte man meinen, sie kündigte ihren Rücktirtt aus der Bundesregierung auf ihre Art und Weise an. Dabei verpasste sie es nicht, eine Botschaft zu hinterlassen: Die Kugeln am Boden deutete die Sozialdemokratin wie folgt: “Die Konkordanz ist zerbrechlich, tragen wir ihre Sorge!” Für viele überraschend, die zertretenen Kugel lagen links, rechts bestanden sie noch.

Auf solche Eleganz in der Kommunikation verzichtet das zweite Bild zu meiner These, wir befänden uns im Wahljahr der Schuhe. Dabei geht es nicht um feine Highheels, nein, es dreht sich alles um mächtige Stiefel. Gemeint ist das Wahlplakat, das die SVP laudauf, landab schalten lässt, um die Wähler zu mobilisieren. Da läuft auch niemand davon, nein, da wird eingewandert. Massenhaft. Man glaubt auch zu erkennen, es seien keine Frau daruntern, nur Männer, wohl direkt aus …

Lassen wir das! Fakt ist, verwendet wird eine faschistische Symbolik – von einer nicht-faschistischen Partei. Die Grenzüberschreitung hat System: Es geht um Provokation, an die Adresse der Gutmenschen, die hysterisch aufschreien sollen. Damit sich die Presse dem Ganzen annimmt, damit die Geschichte bis zu den Wahlen weiter erzählt werden kann, wibei man genau weiss: Kein Schweizer Gericht wird auf denkbare Klagen wegen Verletzung der Rassismusnorm eintreten.

Meine Damen und Herren: Beide Bilder bewegen, aber unterschiedlich. Das ein kleidet die Haut, damit wir uns fragen, wo wir stehen. Das andere geht unter die Haut, damit wir keine Fragen mehr stellen, sondern handeln. Herrn Segert, dem Werber der SVP, rufe ich zu: Bingo! Ihr Bild kam selbst in meinen Träumen vor, was beweist, dass sie eine meiner Emotionen getroffen haben, auch wenn mein Kopf das nicht zugehen will. Das beweist, dass man Veränderungen in Kampagnen gefühlmässig mindestens so klar erkennen kann wie verstandesmässig. Wer Kampagnenanalysen vor Wahlen betreibt, sollte das nicht vergessen. Und nun zu Sache selber!

Claude Longchamp

Wahlkampf in den Online-Medien

Das Projekt Chronik-ON des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Bern analysiert die Online-Berichterstattung in elektronischen Print- und sozialen Medien. Erste Resultate zeigen, dass die wahlkampfbezogene Berichterstattung steigt, prominente Personen der Parteien diesen helfen und Online-Medien vor allem den ereignishaften Wahlkampf verstärken.

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Intensitäten der Parteiberichterstattung gemäss dem neuen Forschungsprojekt “Chronik-ON” des Instituts für Politikwissenschaft an der Uni Bern

Seit Anfang Juni werden RSS-Feeds von über 60 Schweizer Online-Print- und sozialen Medien aus drei Sprachregionen gesammelt.Aehnlich wie die Nachrichtenticker liefern sie Titel und Textanrisse sowie Links zu Originalartikeln. Untersucht werden dabei sechs zentrale Wahlkampfthemen (EU, Migration, Energie und Umweltschutz, Verkehr, Steuern und Abgaben sowie Sozialwerke).

Die bisherige Auswertung (Kalenderwochen 24 bis 36) verdeutlicht den Trend zu stärkerer Parteiberichterstattung. Die Analyse bringt insbesondere drei erfolgreiche Muster der Berichterstattung zu Tage:

Erstens wird häufig über Parteihandlungen berichtet, wobei die Parteien die mediale Aufmerksamkeit mitbeeinflussen können. Ein solches Parteiereignis kann ein Wahlfest, ein Bundesratsrücktritt oder die Einreichung einer Initiative sein. Die Rücktrittserklärung von Micheline Calmy-Rey sowie die Einreichung der Cleantech-Initiative bescherte beispielsweise der SP in Kalenderwoche 36 hohe mediale Aufmerksamkeit.

Zweitens steigern Auftritte von Parteiexponenten wie Bundesräte oder Parteipräsidenten die mediale Aufmerksamkeit. Ob die Aushängeschilder dabei überlegt vorgehen oder sich eher ungeschickt verhalten spielt für die Medienpräsenz vorderhand keine Rolle. Die Ergebnisse von Chronik-ON zeigen beispielsweise eine überraschend hohe onlinemediale Präsenz des Freisinns, welche grösstenteils Fulvio Pelli zu verdanken ist.

Eine besondere Herausforderung ist drittens das Erzeugen von Ereignissen, die sich über längere Zeit in den Medien halten und Reaktionen von anderen politischen Akteuren provozieren. Letztere kommen einer Multiplikation des Medienechos gleich, von der insbesondere die provozierende Partei profitiert: Ohne ihr Zutun wird über sie berichtet. Auch Negativberichterstattung verhilft zu Medienaufmerksamkeit und mobilisiert – so das Kalkül – mindestens die eigene Wählerschaft.

Die verschiedenen Parteien sind in den drei Mustern unterschiedlich erfolgreich. Während kleinere Parteien kaum eigene Medienereignisse produzieren können, deckt die SVP alle drei Muster ab. Durch sehr rasche Reaktionen auf aktuelle Geschehnisse und provokative Zuspitzungen erreicht die Partei Reaktionen von allen Seiten. Zwar haben auch die SP und die FDP Strategien entwickelt, um in den Medien präsent zu sein, jedoch gelingt ihnen dies nicht im selben Ausmass wie der SVP.

Das Chronik-ON Projekt ist gegenüber dem einfachen Google-Rating, welche die Sonntagszeitung präsentiert, sicher ein Fortschritt. Nicht unproblematisch am neuen Projekt ist aber der Vorgriff, auf das, was Wahlkampf-Themen sind. So fehlt mit der “Starke Franken” als explizite Kategorie: Es fehlt die Offenheit gegenüber dem Unbekannten im Wahlkampf – was nachgerade sein konstitutives Element im Jahre 2011 geworden ist.

Claude Longchamp

PolitologInnen in der Medienöffentlichkeit

Ich bin seit der BZ-Publikation über PolitologInnen im Wahlkampf mehrfach angegangen worden, weshalb es PolitologInnen in der Oeffentlichkeit brauche. Nicht nur von PolitologInnen, auch von PolitikerInnen, JournalistInnen und BürgerInnen. Hier mein Versuch einer allgemeinen Antwort.

Im deutschen Sprachraum hat sich keiner so gründlich mit Sprechern in der modernen Oeffentlichkeit auseinander gesetzt, wie der Soziologe Friedhelm Neidhardt. Oeffentlichkeit, bestimmte der ehemalige Präsident des Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, müsse Transparenz herstellen, Fakten spiegeln, Meinungen prüfen, um dem Publikum Orientierungshilfen anzubieten. Da etablierte Positionen wie jene des Staates oder der organisierten Akteure in der Medienöffentlichkeit tendenziell mainstreaming seien, komme SprecherInnen in Medien die Aufgabe zu, untervertretene Standpunkte zu artikulieren: Sie repräsentieren mitunter das Volk, statt das den Behörden zu überlassen; sie sprechen für die Minderheit statt für die Mehrheit; sie sind Fachleute, wo Laienstandpunkte vorherrschen; und sie moralisieren, wo der Eigennutzen im öffentlichen Auftritt seine Begrenztheit übersieht.

Bezogen auf PolitologInnen als Sprecher in der Oeffentlichkeit schliesse ich auf drei mehr oder minder akzeptierte Medienrollen:

Sie informieren als ExpertInnen,
sie intervenieren als Intellektuelle, und
sie handeln als FürsprecherInnen.

ExpertInnen unter den PolitikwissenschafterInnen haben Routinen im Umgang mit neuen Gegebenheiten, kennen die Sache aus eigener Erfahrung und sind zu Abstraktionen fähig, welche es ihnen erlaubt, ihr überdurchschnittliches Wissen mit Erfolg auf neue Situationen anzuwenden. ExpertInnen sind auf ihrem Gebiet Spitze; sie haben sich als Instituts-, Forschungs- oder Projektleiter etabliert. Sie haben sich durch Literaturkenntnisse und eigene Publikationen nicht nur eine interne Reputation erworben; sie verfügen auch über Kommunikationskompetenzen, die ihnen externe Reputation bring. In der Milizkultur der Schweiz, sind ExpertInnen angesichts globaler Phänomene, welche die Oeffentlichkeit beschäftigen, internationaler Trends, die vor den Grenzen nicht halt machen, aber auch der Spezialisierung der Diskurs gefragter denn je. Voraussetzung dafür ist allerdings, sehr gute Sprachfertigkeiten haben, live im Fernsehen zu bestehen, de persister en direct à la radio, or to be active as wellknown blogger. ExpertInnen in der Oeffentlichkeit sind sachorientiert, können schnell denken, sind verständlich in ihrer Argumentation, und rheorisch gewandt in der Diskussion.

Intellektuelle PolitologInnen haben ihr Fenster der Gelegenheiten. Denn sie leben davon, dass es in der Medienöffentlichkeit immer wieder übervertretene Standpunkte gibt, zu denen sie Gegensteuer geben. Schon deshalb sind sie parteiisch, verfolgen sie ausgewählte Themen, haben sie ein Projekt. Intellektuelle Politologen misstrauen den Mächtigen, haben eine republikanische Gesinnung, sind die Sachwalter der Moral, wenn sie vor die Hunde zu gehen droht. Intellektuelle emören sich, um Widerstand zu organisieren. In der Oeffentlichkeit intellektuell zu intervenieren, darf indessen nicht zur Routine werden; im Zweifelsfalle gilt: Hättest Du geschwiegen, wärst Du eine oder ein Intellektuelle(r) geblieben! Intellektuellen unter den PolitologInnen geht es ähnlich wie denen unter den Schriftstellern: nicht jede(r), der sich dazu zählt, taugt als dazu. Intellektuelle Bücher dürfen uns nicht einfach unterhalten, sie müssen uns zu Veränderungen inspirieren.

Fürsprecher unter den PolitwissenschafterInnen haben Mandate, vertreten aber nicht einfach ihren Mandanten, vielmehr ihre eigene Sache, die zu der ihrer Mandaten werden kann. Fürsprechen müssen Transparenz walten lassen, wen sie vertreten,. ohne dass sie deshalb zu schlechten Sprechern werden. Da sind die AnwältInnen den PolitologInnen noch voraus. Fürsprecher arbeiten meist als Selbständige für den Staat, für die Verbände, für die Parteien, für Bewegungen oder Denkfabriken, um ihre Mandaten auf Konflikte vorzubereiten oder sie in einer öffentlichen Debatte zu stärken. Letztlich sind sie BeraterInnen. Man erwartet, dass sie klare Standpunkte einnehmen, dafür Positionen beziehen, Interessen vertreten. Doch müssen sie akzeptieren, dass auch das Gegeninteresse mit Fürsprechern auffährt. Das fordert von ihnen eine professionelle Selbstbeschränkungen, von ihren Mandaten eine gewisse Selbstbegrenzungen, und von den Medien minimale Fairness.

Ich weiss, AbsolventInnen eines Politologiestudium können auch ganz anderes machen. Sie können ihre Ausbildung als GeneralistInnen-Training verstehen und danach irgend einen Beruf ergreifen. Oder sie werden GeneralsekretärInnen von Parteien, LeiterInnen von Public Affairs Abteilungen in Verbänden, oder in Denkfabriken für Bewegungen arbeiten. Wenn sie als das in der Oeffentlichkeit auftreten, sind sie vor allem RepräsentantInnen ihrer Organisationen. Das gilt weitgehend auch für PolitologInnen, die in die Medien gehen, zu PublizistInnen werden, sich als Meinungsführer betätigen, oder in Regierungen gewählt werden. Ihr Status als ausgebildete PolitikwissenschafterInnen in Medien- und Politikberufen qualifizert sie nicht als PolitologInnen in der Oeffentlichkeit – ausser auch sie nehmen eine der drei Rollen ein, die ich zu den spezifischen und akzeptierten gezählt habe.

Claude Longchamp

Mein Spinnennetz

Sieben BundesrätInnen hat die Schweiz – und sieben medienwirksame PolitikwissenschaftInnen. Das jedenfalls suggeriert die Bernerzeitung mit ihrem heutigen Rating (Bericht auf newsnetz, Rating selber leider nicht) zu unserer Berufsgilde unter dem Titel “Das Schattenregime der Politologen”.

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Die Auslegeordnung, die BZ-Journalist Jürg Steiner mitten im Wahlkampf riskiert, liesst sich gut. Denn sie kommt im richtigen Moment, und sie ist nicht ohne Augenzwinkern gemacht. Verwendung findet nämlich das Spinnennetz von smartvote, das Instrument also, das Politwissenschafter gebrauchen, um Politiker zu bewerten, ausser dass nun der Medienschaffende die Politologen bewertet.

Als “Vermessener” danke ich zuerst: Denn selten wurden die Kriterien, nach denen wir PolitologInnen in der Praxis von JournalistInnen taxiert werden (können), so klar und deutlich offen gelegt, wie in diesem Zeitpunkt-Beitrag. Und selten konnte man sich so klar in Beziehung setzen zu den medialen Mitbewerbern.

So entnehme ich den Spinnennetzen, Wissenschaftlichkeit, Prägnanz, Unterhaltungswert, Originalität, Parteilichkeit, Geschwindigkeit, Relevanz und Präzision sind von journalistischem Belang, um im Wahlkampf an unsere Gilde zu gelangen. Ich weiss jetzt auch, dass Michael Hermann in Sachen Geschwindigkeit, Prägnanz und Wissenschaftlichenkeit besser sei als ich, Regula Stämpfli wieder origineller und unterhaltsamer, und Adrian Vatter präziser. Meine Gesamtbilanz ist durchaus robust, und ich selber werde, was mich freut, als der relevanteste taxiert!

Doch: Warum fehlt Andreas Ladner, der Politologe von TeleZüri, auf der Liste, kommt dafür Hans Hirter vor, der Pensionär. Und warum ist die Verständlichkeit unserer Analysen kein Beurteilungskriterium? Schliesslich: Was macht es aus, das Politgeograf Hermann für einen Medienschaffenden der wissenschaftliste Politologe ist? Zu gerne würde man auch solches erfahren, denn die BZ kritisiert unsere Berufsgilde mitunter wegen mangelnder Transparenz – ohne selber offen zu legen, wie sie zu ihren Schlüssen kommt.

Als “Doyen des politologischen TV-Auftritts” erlaube ich mir eine Methodenkritik: Sieben der acht Kritierien im Rating sind so ausgerichtet, dass es positiv ist, je mehr Ratingpunkte man bekommt. Beim achten versagt diese Logik. Es betrifft die Parteillichkeit, bei der Regula Stämpfli in der BZ auf den Idealwert kommt, dafür aber regelmässig gescholten (und bisweilen auch geschnitten) wird! Und so frage ich: Sollen wir parteilich oder unparteileich sein? Das ist nicht nur ein rhetorisches Nachhaken: Die Erwartung des Publikums ist nämlich durchwegs “unparteilich”, die der JournalistInnen nicht wirklich – nicht zuletzt, damit sich die VerfasserInnen von Artikeln oder Interviews dahinter verstecken zu können, wie Roger Blum, emeritierter Professor für Medienwissenschaft, einst so treffend analysierte.

Damit bin ich beim springenden Punkt: In den meisten Zusammenhängen, in denen ich beispielsweise medial zitiert werde, stützen sich Medienschaffende entweder (ohne Nachfrage) auf ältere Aussagen, die in ihrer Mediendatenbank abgelegt sind, oder auf Antworten zu Fragen, welche sie selber formuliert haben. Da kann man nur mitmachen oder absagen; Einfluss nehmen auf die Stossrichtung kann man kaum. Nur im Ausnahmefall setzen wir mit Studien oder Essays die Themen oder Argumente, die schliesslich vermittelt werden. Die Macht der PolitologInnen kleiner als die Macht der Berichte über sie.

Eines sollte man nicht übersehen: Die “Parade der Politologen” wird nicht durch die Politwissenschafter organisiert, sondern von den Medienhäuser bestimmt. Die MedienpolitologInnen sind deshalb auch “Schattenregime”, sondern IndividualistInnen mit Rivalitäten, die sich nie koordinieren werden, um gemeinsame Positionen zu vertreten!

Ueberhaupt: Die “heimliche Macht”, die uns der Aushang unterstellt, kann nur ausserhalb von Oeffentlichkeit entstehen – basiert Macht auf Oeffentlichkeit, wie das bei der Medienpolitologie per definitionem der Fall ist, ist sie nicht heimlich.

Claude Longchamp

Politische Kommunikation – für die Schweizer Praxis

Politische Kommunikation, theoretisch abgestützt, in der Praxis angewandt, ist das Thema des neuesten Buches zur politischen Kommunikation mit starkem Schweiz-Bezug.

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Barbara Günthard-Maier war mal in Bundesbern tätig. Im Umfeld von Politik und Wirtschaft. Dann machte sie sich selbständig. Als Leiterin einer Spezialagentur in Winterthur. Dabei betreute sie auch den CAS an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaft, in dem ich (nebst anderen) unterrichte.

Nun ist die heutige Dozentin am MAZ in Luzern unter die Buchautorinnen gegangen. Dieser Tage erscheint ihr Erstling, “Politische Kommunikation” betitelt, im bekannten Orell Füssli Verlag.

Am Buch überzeugt vor allem die Systematik. Politische Kommunikation ist nicht einfach alles und jedes, es wird aufgelöst in Integrierte Kommunikation, Lobbying und Campaigning. Jeder Buchteil hierzu beginnt mit einem Fallbeispiel, das die Autorin selber bearbeitet hat. Daran wird ausführlich aufgezeigt, was der Lösungsansatz war und was weitere Anwendungen sein könnten. Abgeschlossen werden die Ausführungen durch eine Checkliste, die das Wichtigste für den Schnellgebrauch festhalten.

Selbst die Lösungsansätze werden in diesem Buch stark formalisiert präsentiert. Was ist das Ziel?, was die Strategie?, was die Massnahmen? und aufgrund von was kann man Wirkungen evaluieren?, fragt sich die Kommunikationswissenschaftler mit harter Strenge über 350 Seiten hinweg. Wer das macht und durchhält, ist kein(e) SchaumschlägerIn, wie sie in der Branchen verbreitet sind.

Und was so entsteht, ist beinahe ein Handbuch, allerdings nicht aus der Sicht der Fachwelt, sondern aus der Optik der Fachfrau. Stolz kann sie darauf sein, die Menge der Informationen in ein Modell integriert zu haben, das man seinen Kommunikationsproblemen immer wieder zu Grund legen kann. Für mich eine gelungene Synthese aus Informationen, Erfahrungen und Systematiken.

Ueberhaupt, Barbara Günthard-Maier weiss, wovon sie spricht. Das spürt man auf jeder Seite. Sie weiss auch, von wo sie kommt. Auch das ist unübersehbar: Deshalb leitet sie ihr Buch auch mit einem ausführlichen Kapitel zu den Besonderheiten der politischen Kommunikation in der Schweiz ein, das Fremde kurz und knapp in die Kommunikationskultur unseres Landes einführt. Spannend gemacht ist das, weil sie 10 Fallstricken diskutiert, denen man hierzulande erliegen kann.

Vielleicht hätte allerdings eine 11. gebraucht, von der sich die Autorin selber nicht ganz befreien konnte. Die Begrenzung der politischen Kommunikation auf ein Land macht bei der Integrierten Kommunikation eines lokalen Akteurs noch Sinn. Schwieriger wird es schon, wenn man Lobbying national definiert, denn immer mehr Entscheidungen werden nicht in Zürich oder in Bern getroffen, sondern in Brüssel, Singapur oder weiss wo. Das gilt ganz besonders für das Campaigning, wo ich mit der Autorin im Ansatz nicht übereinstimme. Denn Campaigning ist nicht einfach eine Kampagne ohne zeitliche Begrenzung, wie die Autorin schreibt. Campaigning ist auch thematisch und örtlich entgrenzt. Träger des Campaignings ist, meines Erachten, kaum eine Stadtpartei, eher eine internationale Organisation, die ihre Ziele mit den Mitteln der Kommunikation verfolgt, wo auch immer das nötig ist und zu was auch immer man Stellung nehmen muss.

Der Einwand mindert den Wert des Buches jedoch nur wenig. Denn es ist selber Ausdruck einer Professionalisierung der Kommunikation gerade in und zur Politik, die in den letzten 20 Jahren vielerorts, besonders auch in den Milizstrukturen des Schweiz stattgefunden haben. Diskutiert werden dabei nicht mehr einfach Tricks, wie das weiland Klaus Stöhlker machte, auch nicht vorwiegend die windows of opportunity, wie uns das Iwan Rickenbacher lehrte. Präsentiert werden drei Spezialitäten der heutigen Kommunikationswissenschaft, deren Vorgehensweise in der Theorie abgestützt sind, die sich aber in der Praxis weiter entwickelt haben und durchaus als standardisierte Verfahren des Vorgehens mit Modellen, Methoden und Leitfäden popularisiert werden können.

Genau das hat mich bewogen, das Vorwort zum neuen Meilenstein in der politischen Kommunikation zu schreiben, und Kollege Peter Stücheli-Herlach von der ZHaW hat das Nachwort verfasst. Jetzt ist es an BeraterInnen, BeamtInnen, FunktionärInnen und PolitikerInnen, sowohl die Einsichten als auch Vorschläge zur Lösung von Problemen in den Seiten dazwischen zu beherzigen.

Claude Longchamp

Die Piratenpartei entert in Berlin – und in Bern?

Sicher, der Aufstieg der Piratenpartei in Berlin gehört zu den Besonderheiten der Wahl von gestern. Fast 9 Prozent aus dem Stand sind viel. Die entscheidende Frage dazu ist: Zeichnet sich ein neuer Trend über Berlin oder gar die deutschen Grenzen hinaus ab?

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2006 gegründet, profitierte die deutsche Piratenpartei anfänglich von Debatten im Internet, welche den freien und sicheren Zugang zu e-Infomationen betrafen. 2008 beteiligte man sich an den Bundestagswahlen, blieb aber unter 2 Prozent Wählendenanteil stehen. Schon damals zeigte sich, was Kollege Gero Neugebauer aus Berlin heute mehrfach sagte: Die Piraten sind ein Grossstadtphänomen. Denn auch 2008 erreichten sind verschiedenen Berliner Stadtbezirken einen Anteil von rund 10 Prozent.

Ausgehend von den Berliner Piraten hat die Partei ihr ursprüngliches Profil verändert. Sie hat verschiedene gesellschaftspolitischen Forderungen in ihr Parteiprogramm übernommen. So das Grundeinkommen für alle, so auch die Gratisfahrten im öffentlichen Nahverkehr. Das hat sie bei linken WählerInnen empfohlen.

Die heute präsentierte Wählerwandungsanalyse bestätigt das. Zur Berliner Piratenpartei gibt es vier Zugänge: Man war bisherige(r) NichtwählerInnen, man stimmte das letzte Mal für die SPD, die Linke oder die Grünen. Andere Wanderungsgewinne sind in Berlin deutlich geringer.

Jörg Schönenborn, der Wahlkommentator von ARD, analysierte die gestrige Wahltagsbefragung auf seinem Blog so, dass die Wahl der Piratenpartei in erster Linie altersabhängig ist. Bei den unter 35jährigen machten sie jede 6. Stimme. Je älter die Wählenden sind, desto kleiner wurde der Anteil Piraten unter ihnen. Uebervertreten sind die Piraten auch bei selbständig Erwerbenden und bei Männern. Selbstredend ist eine hohe Internetaffinität die wichtigste Voraussetzung der Wahl.

Die eigentliche Kernwählerschaft der jungen Partei dürfte sehr klein sein. Denn noch im Juli war sie im Berliner Politbarometer kaum erkennbar, stieg dann aber von Woche zu Woche auf knapp 7 Prozent an, um schliesslich bei 8,9 Prozent zu enden.

Und in der Schweiz? Ja, es gibt sie auch, die Piratenpartei. Sie entstand 2009 in der Stadt Zürich. In Winterthur eroberte sie ihren ersten Sitz in einem Stadtparlament. In Bern, wo sie bei den letzten Grossratswahlen antrat, haperte es indessen. Die neue Partei blieb bei 0.7 Prozent der Stimmen stehen.

Programmatisch entspricht man in der Schweiz eher noch der Ursprungsidee der Piraten, die ihren Anfang in Schweden hatten: Unzensurierter Zugang zu Daten, Informationen und Wissen steht in der Schweiz im Zentrum der Forderungen. Förderung der Bürger- und Menschenrechte ergänzt das ganze zaghaft.

Zu den Problemen der Partei zählt, dass sie nur gering ausgeprägte Parteistrukturen hat. Das unterscheidet sie zwar nicht von neuen Parteien. Es erschwert jedoch eine verbindliche programmatische Diskussion und den gezielten Aufbau des politischen Personals.

In der Schweiz kommt hinzu, dass sich mit den Grünliberalen in den letzten 5 Jahren eine neue Partei in zahlreichen Kantonen am etablieren ist, die ebenfalls von der parteipolitisch wenig gebundenen urbanen Wählerschaft lebt. Für Neuwählende ist sie genau so interessant wie für enttäuschte WählerInnen von SP bis FDP. Das macht jeder weiteren Partei, die von vergleichbaren Potenzialen leben könnte, das Leben schwer.

So wäre es meines Erachtens eine Ueberraschung, wenn die Piraten auch im Bundeshaus entern würden, wie man heute auf dem neu eröffneten “Treffpunkt Bundesplatz” spekuliert hat.

Claude Longchamp

Was eine Ständeratskandidatur kostet.

190’000 Franken gibt Adrian Amstutz für die Wahlkampagne im Herbst 2011 aus. Damit verfügt er, gemäss einer Zusammenstellung der Berner Zeitung über das grösste Budget alles BewerberInnen für einen Ständeratssitz aus.

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Betont eigenständig: Adrian Amstutz, der die aufwendigste Kampagne zur den Berner Ständeratswahlen fährt, tritt mit einem Plakat auf, das sich von der visuellen Grundlinie der SVP-Werbung in den anderen Kantonen abhebt. Nichts desto trotz bezahlt die SVP 90 Prozent seiner Wahlkampfkosten.

Zuverlässige Angaben zu Wahlkampfausgaben sind in der Schweiz selten. Kein Wahlrecht verlangt diesbzügliche Transparenz, und von einem Recht, das von den Parteien ein bestimmtes Verhalten verlangt, kann man auf eidgenössischer Ebene gar nicht reden.

Immerhin, es ist üblich geworden, dass Medien die Lücke zu schliessen versuchen. Der häufigste Weg geht über die KandidatInnen selber. Bei Proporzwahlen kann man dem Test durch Antwortverweigerung entgehen. Bei Majorzwahlen, wie es die Ständeratswahlen sind, kann das zu Problemen führen.

Der Berner Zeitung gelang es, von allen namhaften Kandidierenden zu den Berner Ständeratswahlen im Herbst 2011 einige Angaben zu erhalten. Demnach gibt der Bisherige Adrian Amstutz von der SVP am meisten aus: 190’000 Franken sind es in der Selbstdeklaration. Es folgen Werner Luginbühl, BDP, und der Herausforderer der SP, Hans Stöckli. Sie deklarieren ein Budget von je 150’000 Franken. Als Vierter folgt Alec von Graffenried (GPS), der 120’000 Franken zur Verfügung hat. Das ist rund doppelt so viel wie bei Christian Wasserfallen, dem FDP-Kandidaten, der es auf 63’000 Franken bringt. Alle anders BewerberInnen investieren deutlich geringere Summen, haben auch kaum Aussichten auf einen Sitz im Stöckli.

Die individuell zu leistenden Anteile variieren erheblich: Zirka 40 Prozent sind es bei von Graffenried und Wasserfallen. Um einen Drittel macht der Betrag Stöckli und Luginbühl aus. Am meisten aus der Parteikasse bezieht Amstutz, zahlt er doch nur einen Zehntel des Wahlkampfes selber.
Auch wenn detaillierte Angaben fehlen: Alle Berner StänderätInnen sehr ihr Wahlkampf-Budget für Plakate und Inserate ein. Dazu kommen je nach Person Prospekte, Karten, Flyer, Give aways, Apps, eBoards und Online-Werbung. Tyisch ist, dass man einen Grafiker, allenfalls auch einen Werber hat, der bezahlt wird. Das gilt meist auch für den Kopf des Kampagnenstabes.

Ihre Zeit nutzen die Bewerber für den Ständerat vor allem für Wahlveranstaltungen. 100 in den Wochen vor der Wahl können es sein. Das sind dann Podien, Events, Strassenwahlkämpfe. Darüber hinaus setzen alle Kandidaten auf Medienarbeit, vermittelt über JournalistInnen oder direkt via Internet und die Beantwortung von BürgerInnen-Anfragen.

Das alles erscheint mir plausibel. Ganz anders KandidatInnen bei Nationalratswahlen, die meist auf Aktivitäten von Parteien und nahestehenden Interessenverbänden angewiesen sind, setzen StänderätsbewerberInnen auf selbst aufgezogene Kampagnen. Ihre Erfahrung aus früheren Wahlkämpfen hilft ihnen da; aus dieser Zeit nehmen sie meist auch einen Wahlkampfstab mit der Organisatorisches und Kommunikatives besorgt. Gelegentlich ist der mit Partei- und Verbandssekretariaten identisch, häufiger indessen nicht. Auch die Zahlen, welche die BZ publizierte, scheinen mir für einen grossen Kanton in Ordnung. Einzig aus Zürich kennt man Angaben, die das Doppelte oder Dreifache erreichen des hier genannten Spitzenwertes ausmachen.

Auffällig ist diesmal in Bern, dass die beiden Bisherigen viel, ja am meisten ausgeben. Das ist eher speziell, und mit der besonderen Situation begründet. Denn Luginbühl wurde 2007 als SVP-Ständerat gewählt, trat dann zur BDP über, während Amstutz erst bei der Ersatzwahl für Sommaruga im Frühling 2011 reüssierte.

Unklar an den publizierten Angaben ist, ob sich die Frankensummen alleine auf den ersten Wahlgang beziehen, oder auch eine Reserve für den zweiten beinhalten. Das erfährt man in der Regel nicht, denn es würde einiges vom internen Kalkül offen legen.
Wie könnte man das alles verifizieren. An sich recht einfach: Ein Index zum Plakaten, Zeitungsinseraten und Online-Werbung würde helfen, wenigstens die Verhältnisse untereinander, aber auch die Kommunikationsstrategien und Dramaturgiekonzepte zu erhellen. Das liegt Einiges unbeackert, was durch studentsiche Neugier beackert werden könnte.

An der Zusammenstellung in der BZ vom Samstag fand ich eine weitere Information erhellend. Von den NationalratskandidatInnen, die antworteten, investiert Thomas Fuchs von der SVP mit Abstand am meisten in seinen eigenen Wahlkampf. 90’000 Franken sind es nach eigenen Angaben.

Claude Longchamp

Wahlprognose für den Kanton Zürich – durch die Journalistenbrille gesehen

Die Listen und KandidatInnen für den Nationalrat sind in allen Wahlenkreise bekannt. Jetzt beginnt das Rätselraten zu Sitzgewinnen und -verlusten. Die NZZ macht den Anfang – für den Kanton Zürich.

“Nur wenige Verschiebungen in der Zürcher Abordnung für den Nationalrat in Sicht”, übertitelt die NZZ vom Samstag eine ganzseitige Auslegordnung zu denkbaren Sitzverschiebungen im grössten Wahlkreis bei den anstehenden Wahlen. Legitimiert wird das Ganze durch ein Interview mit dem Kantonsstatistiker Peter Moser, das die Seite mit der Schlagzeile “Träges Parteiengefüge” firmiert (beides nicht online).

Da war, vermute ich mal, der Wunsch des Zeitungshauses der Vater der journalistischen Leseweise. Denn die nachgeschobenen Fakten sind anders:

Prognose von Peter Moser (leider auf seiner website nicht dokumentiert) zur Verteilung der 34 Zürcher Sitze im Nationalrat

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Im Detail verrät sich Redaktor Stefan Hotz gleich selber: Denn sollte die GLP bei ihrer zweiten nationalen Kandidatur drittstärkste Kraft im grössten Kanton der Schweiz werden, wäre das auch in seinen Worten “ein historischer Erfolg”. Und sollte die CVP 2 ihrer 3 Sitze einbüssen, was er nicht ausschliesst, nennt er das vorsorglich schon mal “ein historisches Debakel”.

In der Tat: Zeitgenössisch auffällige Veränderungen in der Parteienlandschaft der Schweiz zeigten sich in Zürich meist früher und deutlicher: So der Niedergang des Wirtschaftsfreisinns, so die Polarisierung zwischen SVP und SP, so der Aufstieg und der Zwist der Grünen, so die CVP, die sich im urbanen Raum platzieren will.

Selbst Rene Zeller, Inlandchef der NZZ, nennt die politischen Verhältnisse in seinem Porträt zum Kanton Zürich ganz einfach “volatil” – zu deutsch: veränderlich. Das wäre meines Erachtens die bessere Einschätzung gewesen, und auch Grund, statt Sicherheit zu vermitteln, den Unsicherheiten nachzugehen. Denn die kantonalen Wahlen im Frühling sind verführerisch nahe an den nationalen, sodass man die Ergebnisse nur zu gerne überträgt. Doch gibt es drei Unterschiede, mindestens 2011:

. zunächst die Beteiligung, die national viel höher ist als kantonal, was gerade die Angaben für SVP und SP unsicher macht;
. dann das Wahlrecht, das kantonal und national bezüglich der Sitzverteilungen ungleich wirkt, indem die kleinen kantonal profitieren;
. und schliesslich das politische Klima, dass sich seit dem April erheblich verändert hat, dominiert doch nicht mehr der Reaktorunfall in Fukushima das politischen Klima, während heute der starke Franken, die Aengste zu Arbeitsplatzverlagerungen und die Bocksprünge des Investmentbanking den Rahmen der Wahl abgeben.

So schliesse ich: Besser als journalistisch-auktorial Ruhe verbreiten zu wollen, wäre es gewesen, die dieser Parameter Wirkungen auf grüne, linke, rechte und Zentrumsparteien aufzuzeigen.

Claude Longchamp

Ständeratswahlen: Börsianer legen Zwischenbilanz fünf Wochen vor der Wahl vor.

Wie gut Wahlbörsen bei Schweizer Wahlen funktionieren, weiss man (noch) nicht. Denn Erfahrungen hat man damit bisher nicht sammeln können. Die Wahlbörse von SRF ist das Wagnis 2011 dennoch fast flächendeckend eingegangen. Eine Zwischenbilanz.

Danach analysiert, was die Ständeratswahlen 2011 bringen, setzen die Börsianer auf die SVP. Das die wählerstärkste Partei der Schweiz in der kleinen Kammer untervertreten sei, ist als Botschaft hinüber gekommen. Die Wettbrüder und -schwester rechnen mit drei Sitzgewinnen, zulasten von FDP (-3) und CVP (-2). Stabil sehen sie die SP, GPS und GLP. Das gilt auch für die BDP, während die Einschätzungen zu den beiden restlichen noch nicht gemacht sind. Am ehesten noch geht man von einem Sitzgewinn des Parteilosen Thomas Minder in Schaffhausen aus.

Die Beurteilung der Situation in den 9 Kanton der deutschsprachigen Schweiz sind sehr ungleich. Am wenigsten unsicher ist man in Glarus und Luzern. Im Glarnerland prognostizieren die Börsianer die Wiederwahl der beiden Bisherigen Freitag (FDP) und Jenny (SVP). In Luzern rechnet man mit einer parteipolitischen Stabilität. Graber (CVP) sollte es schaffen, ebenso Theiler, der Neue für die FDP.

Auch im Kanton Solothurn erreichen zwei Kandidaten zwischenzeitlich das absolute Mehr: Zanetti, der Bisherige von der SP und Bischof, der neue von der CVP. Er liegt von Fluri, der für die FDP den Sitzen halten soll, aber auch von Wobmann, dem Herausforderer der SVP. Sicher ist hier nichts, denn die Tagesschwankungen lasse auch einen anderen Schluss zu: Die drei bürgerlichen Kandidaten werden in einen zweiten Wahlgang geschickt.

Eine ähnliches Bild zeichnen die Wahbörsen im Thurgau, in Schaffhausen und in Zug. Ueberall hat es einen Favoriten: Eberle, Germann und Brunner von der SVP, die Hälfte der Stimmen machen könnten. Ueberall ist das Verfolgerfeld recht nahe zusammen, aber unter der 50 Prozent-Marke. Im Thurgau liegen namentlich Häberli-Koller (CVP) und Graf-Litscher (SP) sehr nahe zusammen, in Schaffhausen gilt dies für Minder (Parteilos) und Heydecker (FDP) und in Zug für Bieri (CVP) und Eder (FDP).

Die grösste Unsicherheiten orten die Börsianer in Zürich, Bern, St. Gallen und Aargau. Keine(r) der BewerberInnen erreicht hier das absolute Mehr im ersten Wahlgang. In Zürich (Diener vor Guttwiller vor Blocher vor Hardegger) und St. Gallen (Brunner vor Keller-Sutter vor David vor Rechsteiner) sieht es nach einem Vierkampf aus, in Bern (Amstutz vor Stöckli vor Luginbühl) und Aargau (Bruderer vor Giezendanner vor Egerszegi) nach einem Dreikampf. Dabei könnte es auch zu Nicht-Wiederwahlen kommen, jedenfalls im ersten Wahlgang, der Luginbühl (BDP, BE), Egerszegi (FDP, AG) und David (CVP, SG) liegen je auf dem dritten Rang.

Konkrete Sitzgewinne der SVP halten die Börsianer in St. Gallen und Zug möglich, der einzige Parteilose mit Chancen ist der Schaffhauser Minder, der sich, sollte er gewählt werden, einer grünliberalen Fraktion anschliessen würde. Nicht nur erfreulich sieht es für die FDP in Solothurn und Aargau aus, aber auch in Schaffhausen und Zug. Die CVP könnte in St. Gallen Federn lassen, dafür in Solothurn den Ausgleich schaffen. Umgekehrt liegt es im Bereich des spekulativ Möglichen, den Sitzverlust nach dem Abgang von Sommaruga in der Bundesrat sei es in Bern oder im Aargau wettmacht.

Wie gesagt, zunächst ist das Spielerei, die weder theoretisch gesichert ist, noch mit Erfahrungswerten punkten kann.

Immerhin, die vorgelegte Zwischenbilanz ist nicht einfach unerheblich. Sie legt nahe, dass gerade im urbanen Umfeld der deutschsprachige Schweiz die Fragmentierung der politischen Lager hoch ist, sodass die Allianzbildungen, möglicherweise erst im zweiten Wahlgang den Ausschlag geben werden, wer die Kantone in der kleinen Kammer der Bundesversammlung vertritt. Deshalb füge ich bei: Schade, dass es keine so interessanten Gradmesser für die französisch- und italienischsprachige Schweiz gibt.

Was den generellen Trend angeht, wäre die erwartete Veränderung nicht einfach belanglos. Denn CVP und FDP hätten, auch wenn sie geschlossen gemeinsam stimmen würden, erstmals keine Mehrheit mehr. Diese ergäbe ich nur noch unter Einbezug der SVP, oder aber als Allianz aus CVP, SP, GPS und GLP.

Claude Longchamp

Analyse von Ständeratswahlen – Forschungsseminar an der Uni Bern

Programm Forschungsseminar “Analyse von Ständeratswahlen”
Herbstsemester 2011, Master “Schweizerische und vergleichende Politik”, IPW, Universität Bern

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Zielsetzung
Die Wahlforschung in der Schweiz hat sich weitgehend auf die Analyse von Nationalratswahlen konzentriert. Die Erforschung der Ständeratswahlen blieb weitgehend aus.
Das Forschungsseminar für Fortgeschrittene, das ich im Herbstsemester 2011 im Rahmen des Master-Programms am IPW der Universität Bern anbiete, will dem entgegenwirken.
Ziel des Seminars ist es, ein Modell zur Prognose und Erklärung von Ständeratswahlen zu erarbeiten.
Das soll aufgrund der laufenden und zurückliegenden Wahlen in die kleine Kammer geschehen, durch Fallstudien und vergleichende Analysen über die Kantone, allenfalls auch über die Zeit hinweg.
Das Seminar berücksichtigt den spärlichen Forschungsstand, den die Politikwissenschafter Hanspeter Kriesi und Romain Lachat repräsentieren. Es nimmt aber auch Ansätze der Analyse auf, die Statistiker Peter Moser, Marc-André Röthlisberger und Stephan Tschöpe entwickelt haben, und es will auch einen Zugang zu den Ueberlegungen bieten, die sich PolitikerInnen für ihre Wahlkämpfe machen.
Untersuchen wollen wir den Einfluss von Kontextfaktoren, von Personenmerkmalen und von Kommunikationsstrategien bei Ständeratswahlen. Geleistet werden die Arbeiten in Form studentischer Gruppenarbeiten, die wir gemeinsam diskutieren, welche die Studierenden ausarbeiten, und die am Schluss des Seminars präsentiert werden muss. Die letzte sitzung dient der Sichtung von Ergebnissen, die wir in unser anfänglich postuliertes Modell einbauen wollen, um so einen plausibilisierten Anstoss für künftige Forschungen zu geben.

Zielgruppe
Das Forschungsseminar, das sich an Studierende des Masters “Schweizerische und vergleichende Politik” richtet, setzt grundlegende Kenntnisse der Methoden und Verfahren der empirischen Politikforschung voraus; von Nutzen ist es, Kompetenzen in der vergleichenden Forschung zu haben. Erwartet wird die regelmässige Mitarbeit im Seminar einerseits, die aktive Beteiligung an einem studentischen Forschungsprojekt andererseits. Diese muss mündlichen und schriftlich präsentiert werden. Alles zusammen fliesst in die Note ein. Ein eigentliche Prüfung gibt es nicht.

Termine
23.9. Einführung: Wahlforschung und Modellbildung zur Erklärung und Prognose von Wahlen
30.9. Gemeinsame Entwicklung von Ideen für Forschungsprojekte zu Kontextfaktoren, Persönlichkeitsmerkmalen und Kommunikationsstrategien
7.10. Diskussion Forschungsstand anhand ausgewählter Dokumente
14.10 Beschlussfassung zu studentischen Forschungsprojekte im Rahmen des Forschungsseminars
21.10 Exkurs I: Hochrechnung Ständeratswahlen 2011 im Kanton Bern, Präsentation durch Stephan Tschöpe, Hochrechner gfs.bern

23.10. Wahltag

28.10. Diskussion ausgewählter Erstanalysen der Ständeratswahlen
4.11. dito
11.11. Kampagnenstrategien im Ständeratswahlkampf, Referat von und Diskussion mit Ursula Wyss, Ständeratskandidatin SP im Frühling 2011
18.11. Exkurs II: Prognose von Ständeratswahlen
10 Uhr Prognose der Ergebnisse erster Wahlgänge, Präsentation Peter Moser, Kantonsstatistiker Zürich
11 Uhr Prognose der Ergebnisse zweiter Wahlgänge aufgrund der Resultate im ersten Wahlgang, Präsentation Martin Röthlisberger, Mathematiker Bern

27. 11. Nachwahltag für Ständeratswahlen

2.12. Präsentation der Gruppenarbeiten I: Analyse von Kontextfaktoren
9.12. Präsentation der Gruppenarbeiten II: Analyse von Personenfaktoren
16.12. Präsentation der Gruppenarbeiten III: Analyse von Kommunikationsfaktoren
23.12. Schluss: Modellbildung zur Ständeratswahl für Theorie und Praxisbesprechung: Was wir neu über Ständeratswahlen in der Schweiz wissen