Föderalismus in der Wahlrechtspraxis ist überholt.

Kantonale Gesetze und Praxen bei der Definition dessen, was ein gültiger Stimm- oder Wahlzettel ist, können die Ergebnisse von Wahlen und Abstimmungen beeinflussen.

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Seit Jahren erzähle ich es allen, die es hören wollen. Die Angaben zur Stimm- und Wahlbeteiligung in der Schweiz sind falsch. Hauptgrund: Das Auszählen ist kantonal geordnet, und die Regelungen lassen unterschiedliche Praxen zu.

Vor Jahren kam ich darauf. Ein Beispiel zum Stimmbeteiligung zeigte mir, wie trickreich die Sache sein kann. Bei nur einer Abstimmung ist alles ganz einfach. Die Zahl der gültigen Zettel entspricht der Zahl der gültig Stimmenden. Bei mehreren Abstimmungen kommt es aber darauf an, wie man vorgeht. Werden die Bulletins nicht getrennt, ist es wieder gleich wie bei einer Abstimmung. Die Probleme beginnen aber, wenn die Zettel getrennt werden. Denn von da an geben die gültigen Zettel keine genaue Auskunft mehr über die gültig Stimmenden. Hauptgrund: Man kann in einem Fall gültig, im anderen Fall ungültig votiert haben. Die Folge ist, dass die Zahl der (einmal) gültig Stimmenden grösser ist als die Zahl der gültigen Stimmen je Vorlage. Oder anders gesagt, die Stimmbeteiligung ist höher als höchste Vorlagenbeteiligung.

Spätestens seit den diesjährigen kantonalen Wahlen in Zürich kursieren via e-mails Hinweise, dass es weitere Probleme gibt. Denn die Zahl der ungültigen Wahlzettel nimmt zu. Dies nicht nur neuerdings oder einmalig, sondern seit den Wahlen von 1995, den ersten, bei denen man brieflich Stimmen konnte. Vermuteter Hauptgrund hier: Die Praxis des brieflichen Stimmens sei zu kompliziert. Denn zulässig sind nur die korrekt ausgefüllten Wahlzetteln, denen der persönlich unterschriebene Wahlrechtsauswahl beigelegt wurde. Das ist ein rechtlich nötiger Schutz, womöglich aber zu anspruchsvoll für die Masse der Wählenden. Die neuesten Schätzungen, die nicht mehr von 1, sondern 5 Prozent effektiver Ungültigkeit sprechen, sind ein deutlicher Hinweise darauf.

Die heutige Sonntagszeitung von heute nimmt das Thema, wie ich meine, zu Recht auf. Denn die Indizien sind Fachkreise schon länger bekannt und von Belang. Ein grösseres Forschungsprojekt hierzu ist angezeigt.

Für unangezeigt halte ich dagegen, die WählerInnen zu beschuldigen, wie es das Blatt heute macht. Vielmehr ist das Wahlrecht hinsichtlich der Gültigkeit zu wenig einheitlich und zu wenig klar formuliert ist. Hauptgrund hier: die föderalistischen Regelungen, welche den Kantonen zu grosse Interpretationsmöglichkeiten einräumen. Die Vereinheitlichung nicht nur der Wahlrechtsgrundsätze, auch die Wahlrechtspraxen vor Ort ist viel effektiver, als der Staatskunde neue Aufgaben aufzubürden.

Denn die BürgerInnen sind zuständig für politische Entscheidungen. Die Behörden wiederum müssen unzweideutig feststellen, was mitgeteilt wurde, was gültig ist und damit auch was zählt.

Das ist die unabdingbare Arbeitsteilung für das Funktionieren der Demokratie.

Claude Longchamp

Die kleine Regierungsreform

“Krise der Konkordanz. Ideen für eine Revitalisierung”, heisst das neueste Buch zu Regierungsreform in der Schweiz. Eine erste Würdigung.

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Noch vor Jahresfrist war Politbeobachter Michael Hermann ein glühender Vertreter der Volkswahl des Bundesrates. Das verschaffte ihm Sympathien bei Thomas Held, dem vormaligen Direktor von avenir suisse. Ueber eine solche Aenderung der Wahl von Bundesräten erhoffte sich dieser eine generelle Umkrempelung der Schweizer Politik.

Heute legt Wissenschafter Hermann das Buch vor, das aus dieser Verbindung hervorgegangen ist. Schon die rasche Durchsicht legt nahe, dass es keine Auftragsarbeit mit vordefiniertem Ausgang ist. Entstanden ist aber auch keine Kampfschrift für eine bessere Schweiz.

Propagiert werden mit dem Buch “Krise der Konkordanz” drei konkrete Reformprojekte:

. ein Vertrauensvotum zugunsten der amtierenden BundesrätInnen;
. ein Bundesratspräsidium, im Notfall ausgestattet mit dem Kompetenzen eines Regierungschefs, bei gleichzeitiger Erweiterung des Gremiums auf acht Mitglieder, und
. eine zusätzliche Form der Differenzbereinigung zwischen dem National- und Ständerat durch ein Referendum.

Gerhard Schwarz, der heutige Direktor der Denkfabrik der Schweizer Wirtschaft, der das Buch eng begleitet hat, bringt es im Vorwort auf den Punkt: “Diese Vorschläge sind nicht revolutionär.” Das neue Referendum und das Vertrauensvotum sind zwar neu; entwickelt wurden sie als Versuch, das Parlament, das in Sach- wie auch Personenfragen nicht immer auf Verhandlungsbereitschaft aufgerichtet ist, zu zähmen. Die Aufwertung der Bundeskanzlei zu einem Präsidialdepartement hingegen ist nicht unbekannt, denn es ist bereits in den Papieren zur Regierungsreform in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts vorgeschlagen worden, ohne sich wirklich durchgesetzt zu haben.

Reicht das für die anvisierte Revitalisierung der Konkordanz? Ich neige zu einem “Nein”, denn die Probleme liegen tiefer. Die Krise des Regierungssystems wurde zunächst im gewandelten internationalen Umfeld sichtbar, mit dem die Berechtigung des nach Innen gerichteten Sonderfall Schweiz schwindet. Man realisiert sie in der Dynamik der inneren Räume, auf die der hergebrachte Föderalismus keine Antworten mehr gibt, und in der direkte Demokratie, die nicht mehr für Konfliktregelung, sondern zur Konfliktförderung beiträgt. Ganz zu schweigen von den Veränderungen in der politischen Kommunikation, mit der die Medien zu täglichen Treibern auch für die Regierungsarbeit geworden sind.

Mein Bild der Schweiz heute ist anders: Ich nenne es anomisch, in dem sich Ziel und Mittel von einander abgekoppelt haben. Da nützt es nichts, Retouchen vorzunehmen, da braucht es grössere Würfe. Die Regierungsreform, wie sie der Bundesrat vorsieht, ist auf Klein-Klein ausgerichtet; das Buch von Hermann ist etwas mutiger, aber nicht mutig genug.

Beim Lesen von “Konkordanz in der Krise” bekam ich den Eindhatte ich den Eindruck, ein flüssig geschriebenes Buch in den Händen zu halten, das in vielem informativ ist, konstruktiv-abwägend voranschreitet, aber nicht wirklich auf den Punkt kommt. Symptomatisch dafür ist das Schlusskapitel von genau 2 Seiten Länge: denn da, wo man von einem jüngeren Politbeobachter die Entfaltung der Zukunft Schweiz erwartet hätte, bekommt man institutionelle Verfahrensfragen zu den vorgeschlagenen Reformen serviert.

Claude Longchamp

Was für und was gegen einen allgemeinen Fukushima-Effekt spricht

Nach dem Reaktorunfall in Fukushima war gerade auch in der Schweiz viel von einem entsprechenden Effekt die Rede. Vier Monate nach dem Ereignis, aber auch vier Monat vor den eidgenössischen Wahlen lohnt es sich, hierzu Bilanz zu ziehen.

Wahlbarometer vom 01.07.2011

Heute erscheint das 4. Wahlbarometer. Es hält Gewinne für die GLP und BDP sowie Verluste für die FDP fest. Seit Fukushima gibt es namentlich bei der SVP eine Trendumkehr. Sie entwickelte sich von einer möglichen Sieger- zu einer denkbaren Verliererpartei. SP und CVP konnten zwar etwas zulegen, aber die Verluste seit den letzten Wahlen nicht wirklich ausgleichen. Die GPS-Grünen erscheinen stabil.

In dreierlei Hinsicht kann man von einem Fukushima-Effekt sprechen: Zuerst der Schock, dann die mediale und schliesslich die politische Reaktion. Aus der Sicht der politischen Kommunikation war der Reaktorunfall ein Ereignis – sprich: eine verdichte Handlungsabfolge, erheblich medialisiert, die zu einer Konsequenzerwartung führte. Das hat dem Thema hohe Medienaufmerksamkeit gebracht und es hat die politische Weichenstellung beeinflusst. Die (Kern-)Energiepolitik der Schweiz ist heute nicht mehr die gleiche wie noch vor einem halben Jahr.

Die mediale und politische Aufmerksamkeit haben auf den Wahlkampf ausgestrahlt, ihn jedoch nicht einfach umgestülpt. Zu nennen ist, dass die Migrationsfrage, die das politische Klima der letzten Jahre prägte und seit der angenommenen Ausschaffungsinitiative dominierte, abgelöst worden ist. Bevölkerungsseitig ist die Umwelt- und Energiefrage von der sechsten auf die erste Stelle gerückt und sie ist im aktuellen Wahlbarometer dort geblieben.

Die Wahlabsichten wurden dadurch aber nicht fundamental verändert. Am ehesten noch lassen sich Effekte auf die Mobilisierung nachweisen. Links bis in die Mitte ist sie etwas stärker geworden, rechts etwas schwächer. Zuerst hat es der FDP geschadet, dann hat es sich aber auch auf die SVP ausgewirkt. Beide Parteien mobilisieren heute schlechter als noch vor vier Monaten, als sie von der nationalkonservativen Grundstimmung profitierten.

Eine parteipolitische Nutzniesserin kann man nicht wirklich eruieren. Die GLP und die BDP legten vor allem vorher zu, die positiven Auswirkungen auf die SP und CVP werden durch anhaltende Wechslerverluste an die GPS respektive an die GLP und BDP neutralisiert.

Das alles relativiert den Fukushima-Effekt auf die Schweizer Wahlen. Allzu überraschend ist es nicht, denn die wichtigste Entscheidung trifft der Bundesrat und der hat nur bedingt ein parteipolitisches Profil. Die Bürgerinnen und Bürger wiederum wählen bei Wahlen Parteien und Personen – Sachfragen entscheiden sie via Sachabstimmungen. Machtfragen, wie sie in Baden-Württemberg mit Blick auf einen Wechsel in Berlin gestellt wurden, stellen sich in einem Konkordanzsystem nicht im vergleichbaren Masse.