Wider die grassierenden Rezepte für Parteifusionen

Viel ist dieser Tage von Parteifusionen die Rede. Ich halte wenig davon – genauso wie von unbestimmten Holdingstrukturen für Fraktionen. Wenn man die Regierungsbildung stabilisieren will, sieht das Politsystem-Schweiz nur Fraktionsgemeinschaften vor, die unter der Bundeskuppel mindestens so stark sein müssen, dass sie den Gang der Dinge nachhaltig beeinflussen können.

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Der grosse Moment für Parteifusionen waren die frühen 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Wäre man damals bei den Volksparteien dem deutschen Vorbild gefolgt, wäre aus der KK, der Katholisch-konservativen Partei, und der BGB, der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, ein konfessionsübergreifende konservative Partei wie seinerzeit die CDU entstanden. Doch nahm die Geschichte hierzulande einen anderen Verlauf. Entstanden sind mit der CVP und SVP konfessionell getrennte Volksparteien, die sich seit den Wahlen 1995 in den Haaren liegen, weil die eine in den Stammlanden der andern Erfolge verbucht, während die andere in urbanen Wählermarkt der modernen Parteien nicht anzukommen scheint.

Das Thema der Parteienfusionen jedoch ist geblieben. Meist wird es von Intellektuellen hochgehalten, gelegentlich stossen auch einige Parteispitzen hinzu. Urs Altermatt, der emerierte Freiburger Geschichtsprofessor, und Urs Schwaller, der Freiburger Fraktionschef der CVP, sind gegenwärtig ihre Wortführer: Mal empfiehlt man der CVP einen Zusammenschluss mit der BDP, mal versucht man, aus CVP und FDP eine neue Mittepartei zu formieren. Hintergrund ist die Ambition, dass die CVP den verlorenen zweiten Bundesratssitz zurück erhält: Entweder via Nachfolge von BDP-Bundesrätin Schlumpf, oder dann im Tausch zwischen FDP und CVP, die einen je einen eigenen und gemeinsam einen weiteren imTurnus haben sollten.

Das belebt den medialen Diskurs im Wahljahr jenseits der etwas professoralen Konkordanzdiskussion in der NZZ. Doch riecht es für meinen Geschmack zu sehr nach Machterhalt oder Machterwerb, ohne dass dabei geklärt wird, ob es auch sachpolitisch Sinn stiftet. Denn das ist angesichts der organisatorischen Hindernisse eine unabdingbare Voraussetzung.

In den 90er Jahren gehörte auch ich zu jenen, die über neue Parteinformationen in der Schweiz nachdachten, weil die WählerInnen in Bewegung gerieten. Die damalige Analyse sprach für eine Tripolarisierung der Wählerschaft, die meiner Ansicht nach durch drei starke Parteilager hätte repräsentiert sein müssen: durch einen pro-europäisch-linken Pol, durch einen Pol aus weltoffenen Schweizer ModernistInnen, und durch einen nationakonservativen Pol.

Nach den Wahlen 1995 wäre der Moment zum Handeln gewesen, um eine Basis für einen gesicherten Support zu schaffen, der namentlich in der Europa-Frage über den bilateralen Weg hinaus führen sollte. Die damaligen Diskussionen zeigten mir indes klar, dass die Schweizer Parteien dazu ohne grösste Not nicht in der Lage waren – und es wohl auch heute noch nicht sind. Denn sie werden weder durch die nationalen Parteipräsidien, noch durch die Fraktionen geführt, wie die viele JournalistInnen meinen. Vielmehr werden die relevanten Entscheidungen in den Kantonalparteien getroffen und so auf der nationalen Ebene aggregiert.

Der Föderalismus in den Schweizer Parteien ist zwar historisch begründbar, er lebt heute aber vor allem wegen den Karrierplanungen der kantonalen PolitikerInnen, die RegierungsrätInnen werden oder bleiben wollen weiter, tatkräftig weiter. Die sind für Allianzen von Fall zu Fall zu haben; Parteifusionen stehen sie aber sehr distanziert gegenüber. Die einzige Neuformierung bestehender Parteien seit Mitte der 90er Jahre die SVP, die PolitikerInnen von Kleinparteien unter ihrer eigenen Aegide Platz bot, ansonsten auf WählerInnen-Gewinne, nicht Parteifusionen setzte, um stärker zu werden.

Was heisst das alles in der gegenwärtigen Situation?

Erstens, Parteifusionen nach deutschen Vorbild scheitern in der Schweiz, oder sie bereiten den Fusionierten während Jahren Verdauungsprobleme, was sie nur vorübergehend artihmetisch stärkt, nicht aber politisch.
Zweitens, Sinn machen Fraktionsgemeinschaften auf nationaler Ebene – vielleicht nach französischem Muster. Denn nur sie gewähren in der Schweiz der föderalistsichen Vielfalt von Interessen genügend Spielraum.
Drittens, Holding-Spekulationen fehlt das Element der Stabilität, die für eine Regierungssystem unabdingbar ist. Als thematische Allianzen dürften sie taugen, als machtpolitische Pfeiler im Wettbewerb und Exekutivsitze sind sie kaum von Dauer.

Denn eines darf man nicht vergessen: Voraussetzung für eine neues Regierungssystem sind stabile Parteien, die je für sich elektoral Erfolg haben. Selbst eine Fraktionsgemeinschaft aus FDP, CVP, GLP, BDP und EVP nach den Wahlen 2011 kann nicht mit Sicherheit darauf aufbauen, in der Vereinigten Bundesversammlung eine Merheit zu haben. Das spricht dafür, siich soweit in neuen Fraktionen zu einigen, dass genügend innere Kraft entsteht, mit der man Verbündete in anderen Fraktionen sucht.

Claude Longchamp

Die Entwicklung der SVP nach Kantonen

Wo wächst die SVP, und wo schrumpft sie? Kommt es 2011 zu einem Wachstum in der Innerschweiz, dem ein Rückgang in den grossurbanen Räumen entgegen steht? Diese Hypothese kann man aufgrund einer Detailanalyse nach Kantonen mindestens aufwerfen.

Die Erfolgsgeschichte der SVP auf schweizerischer Ebene ist bekannt. 1991 hatte sie mit 11.9 Prozentpunkten einen bescheidenden WählerInnen-Anteil. 2007 erreichte er mit 28.9 Prozentpunkt der bisherigen Höchstwert – nicht nur für die SVP, auch für alle Parteien insgesamt seit Einführung des Proporzwahlrechts.

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Anclicken um zu vergrössern (Quelle: BfS, eigene Darstellung)

Eine Analyse der Trends nach Kantonen zeigt unterschiedliche Stärken und Dynamiken, selbst wenn der Aufstieg fast flächendenkend verlief (sofern man sich auf jene Kantone konzentriert, die mehr als 1 Nationalratssitz haben).

Die höchsten WählerInnen-Anteil kannte die SVP 2007 in den Kantonen Schwyz, Thurgau und Shaffhausen. Da bewegt sie sich im Bereich von 39 Prozent und darüber.
Am schwächsten ist die SVP im Tessin, Jura und Wallis. Da bewegt sie sich zwischen 9 und 17 Prozent WählerInnen-Anteil.

Nahe dem nationalen Durchschnitt sind die Kantone Zug und Basellandschaft. Das gilt mindestens für die Jahre 2003 und 2007 recht gut, für die Zeit davor kann man es annäherungsweise stehen lassen.

Der höchste Zuwachs von Wahl zu Wahl kannt die schweizerische SVP 1999. Damals legte sie um 7.6 Prozentpunkte zu. Seither hat sich das Wachstum von Wahl zu Wahl verringert. 2003 lag das Plus bei 4.2, 2007 bei 2.2.

Gegliedert nach Kantonen, gibt es auch hier Trendsetter. Nachholend war das Wachstum in Schaffhausen, im Jura und im Kanton Bern.
In Baselstadt gab es erstmals sogar ein ganz kleines Minus, derweil die Zunahme in Zürich, Freiburg, Neuenburg und Graubünden unter 1 Prozentpunkt blieb.

Was ist seither in den kantonalen Wahlen geschehen. In Graubünden weiss man gab es einen herben Verlust, letztlich weil die Kantonalpartei ziemlich geschlossen zur BDP übertrat. In Neuenburg und Zürich verlor die SVP etwas an WählerInnenstärke, während Freiburg mit einer Legislatur von 5 Jahren gar keine Wahlen hatte.
Verluste gabe es auch in den kantonalen Wahlen von Glarus, Schaffhausen, Genf und Bern. Teilweise waren hier die Konkurrenzparteien wie die BDP oder das MCG erfolgreich.

Damit wird ein neues Muster in der SVP Entwicklung mindestens denkbar: Sie stagniert in einzelnen Kantonen, insbesondere im grossurbanen Raum, während sie andernorts, namentlich in der Zentralschweiz, nochmals erheblich zulegt.
Ob das am Ende ein Plus oder Minus ergibt, muss auch dieser Vergleich offen lassen. Nur soviel: In den beiden trendigsten Kantonen, Zug und Basellandschaft, steigerte sie ihren Anteil bei den Kantonalwahlen im Schnitt um 2 Prozentpunkte.
Was am 23. Oktober passiert, hängt jedoch weitgehend von der Mobilisierung ab, die national höher ist als kantonal – und von den konkreten Trends in Zürich mitbestimmt wird.

Claude Longchamp

Die SVP als d i e nationalkonservative Themenpartei

Drei Thesen, warum die SVP zur stärksten Wählerpartei der Schweiz geworden ist und im Wahlbarometer recht stabil bei 30 Prozent Wähleranteil bliebt.

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Das neueste Wahlbarometer ergibt: Die höchste Erklärung der SVP-Wahl ergibt sich aus der Tatsache, dass man die Partei und ihr Programm für die beste Kämpferin gegen Arbeitslosigkeit (von SchweizerInnen) hält.

Der Flugsand als erste Basis
Gemäss der ersten These verdankt die SVP ihren Aufstieg, zum Sammelbecken für Unzufriedene nach dem EWR-Nein geworden zu sein.
Bis zu den Wahlen 1991 behielt die Abmachung unter den Bürgerlichen weitgehend ihr Gültigkeit, dass die SVP die Partei der Bauersleute und Gewerbler in reformierten Kanton war. Mit dem Sieg in der EWR-Abstimmung 1992 veränderte sich dies. Die Partei sammelte in populistischer Manier alle Unzufriedenen mit Bundesrat und Parlament, die nach einem ebenbürtigen Ersatz für die verworfene Teilnahme am europäischen Integrationsprozess suchten. Das stärkte zunächst die Partei ein einigen Kantonen mit SVP-Tradition, vor allem aber erweiterte es die Basis der Partei in Kantone, in denen sie bei Wahlen bisher nicht präsent war. Begleitet war der take-off von der Uebernahme ganzer Rechtsparteien, insbesondere der Frieheitspartei. Ende 1998 glaubte man weitherum, die Partei mit dem Durchbruch bei der Neat als Voraussetzung für die Bilateralen entzaubert zu haben, wurde aber durch den unerwarteten Erfolg der Zürcher Partei bei den kantonalen Wahlen 1999 überrascht.
Seither steht eine zweite These im Vordergrund.

Der Erfolg der Blocher-Partei
Die zweite These zum Aufstieg der SVP konzentrierte sich weitgehend auf die Bedeutung Christoph Blocher mit dem die Partei auf- und absteigt.
Ohne die Fähigkeit von Christoph Blocher, der neuen Kraft in der Parteienlandschaft eine Stimme zu geben, wäre die SVP nicht entstanden, ist eine verbreitete Ansicht. Zu ihr gehört, dass die Partei mit ihrem Leader kommt, aber auch gehen wird. Diese These wurde namentlich mit dem Wahlerfolg 1999 populär, und sie diente 2003 als Argument, der SVP einen zweiten Bundesratssitz zuzugestehen, um die Partei mit der Integration ihres Treibers in den Bundesrat zu zähmen. Effektiv geschah das Umgekehrte: Mit der Asylgesetzrevision drückte Blocher der Regierungsarbeit seinen Stempel auf, und blieb in Medien und Bevölkerung dank Interventionsgabe, Sinn für symbolische Kommunikation und Hartnäckigkeit in der Kritik der Institution populär. Mit dem sich abzeichnenden Wahlerfolg 2007 begann im Hintergrund die Arbeit an der Abwahl Blochers, um seine Partei ins Elend zu stürzen. Das schien vorerst aufzugehen, erwies sich in der Folge jedoch erneut als Trugschluss.
Deshalb braucht es eine dritte These, um aufzuzeigen, warum sich die SVP auf bei veränderter Führungsfrage halten kann.

Die nationalkonservative Themenerneuerung
Die dritte These ist, dass die SVP zur Themenpartei für alle Fragen im Gefolge der Personenfreizügigkeit geworden ist.
Spätestens 2010 wurde klar, dass sich die SVP verändert hatte. Sie begann den helvetischen Diskurs in der Krise der globalisierten Wirtschaft zu bestimmen. Sie entfachte und profitierte von einer nationalistischen Grundstimmung, und sie thematisiert erfolgreich alle Probleme mit offenen Grenzen. Die Migrationsfrage ist ihr Leitthema, doch bewirtschaftet sie darüber hinaus auch andere Themenbereiche, die sie medial und elektoral attraktiv macht: den Schutz der Arbeitsplätze und der Sozialwerke für SchweizerInnen, die Bewahrung des Gesundheitswesens vor Einschnitten in den Regionen oder die Stärkung der traditionellen Schule und Familie als Horte des konservativen Denkens. Dabei dient ihr die EU als übergeordnete Projektionsfläche für eine Zukunft der Schweiz, die es zu verhindern gilt. An diesem Ziel hält die Partei eisern fest, auch wenn sich die allgemeine Themenlage durch den Unfall in Fukushima in eine unerwartete Richtung entwickelt.

Bilanz heute
Die SVP ist heute die einzige, soziologisch breit abgestützte Volkspartei. Doch ist sie nicht nur das. Sie ist auch die Partei, welche die nationalkonservative Bruchlinie in der Schweizer Bevölkerung systematisch verarbeitet hat, die Problemdeutungen und präferierten Lösungsvorschläge geformt und in ihrem Programm verarbeitet hat.
Das Wahlbarometer zeigt: Heute traut man ihr in Sachfragen mehr als allen anderen Parteienzu. Ihr Kompetenzprofil ist breiter denn je. Dafür braucht es keine alles überragende Identifikationsfigur mehr. Eine Reihe von ExponentInnen deckt die medialen und regionalen Bedürfnisse nach KommunikatorInnen und Vorzeigefiguren ab.
Unverzichtbar bleibt der dauernde Appells an die Werthaltungen und Stimmungslagen der national und konservativ gesinnten Bürgerschaft, die mit dem Gang der Dinge in der Schweiz und auf der Welt unzufrieden ist. Denn nur dieser garantiert die permanente Mobilisierung, die für Wahlerfolge in der genannten Grössenordnung die unabdingbare Voraussetzung ist.

Claude Longchamp

power ambition – policy ambition

Kein Machterhalt um jeden Preis ist heute gefragt, wenn es um politische Parteien geht. Vielmehr erwartet man zunehmend klare Antworten auf die grossen Herausforderung der Zeit – gerade auch von den Traditionsparteien.

Eine amerikanische Studie aus den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts fragte nach dem Motiven für den Einstieg in die Politik. In der stärksten Vereinfachung unterschieden die beiden Autoren zwischen power or policy ambition. Zu deutsch: Man wird politisch aktiv, weil man an die Macht will (was in der klassischen politikwissenschaftlichen Definition auch die Kernaufgabe von Parteien ist) oder weil mein ein bestimmtes politische Projekt verfolgt (was gemeinhin eher den Bewegungen und Ein-ThemenpolitikerInnen zugeordnet wird).

Wahlbarometer vom 27.04.2011
Die Wahlbarometersendung von gestern, die das hier skizzierte Thema aufnimmt.

Die Unterscheidung ist für mich treffender denn je, wenn es um die zeitgenössische Schweizer Politik geht. Doch darf sie nicht statisch und polar verwendet werden, vielmehr muss sie dynamisch und vermittelnd eingesetzt werden.

Konkordanzsysteme neigen dazu, zentrale Machtfragen zuerst zu lösen, und Sachfragen danach zu beantworten. Das ist in Konkurrenzsystem umgekehrt. An die Macht kommt nur, wer die Mehrheit der WählerInnenwünsche hinter sich hat, sei es ausgehend von Wahlen oder vermittelt über Koalitionsverträge.

Nun gehöre ich nicht zu jenen, die einem Systemwechsel das Wort reden. Ich stelle aber fest, dass die elektorale Erneuerung der Parteien in den letzten 20 Jahren nur beschränkt über Machtbewahrung, dafür in hohem Masse über Politikformulierung erreicht wurde.

Konkret: Seit 1999 steigt die Wahlbeteiligung national an. Hauptgrund ist die politische Polarisierung. Damit verbunden sind kontroversere thematische Auseinandersetzungen, die den Parteien Profil geben.

In den 90er Jahren profitierte die SP, welche die Schweiz europa-kompatbler machte. Danach bestimmten die SVP und Grünen die Themen – rund um Migrations- und Klimafragen.

Heute geht es darum, was politisch im Zentrum passiert: ganz auf power ambition setzen, wie die BDP rund um Eveline Widmer-Schlumpf, oder ganz auf policy ambition machen, wie die GLP, die mittelfristig aus der Atomenergie aussteigen will?

Ich rate beiden Zentrumsparteien auf Vereinseitigungen zu verzichten. Denn dem Erfolg des Neuen steht die Erfahrung des Bewährten gegenüber. Doch dieses darf sich nicht auf Machterhalt beschränken. Wer das macht, franst heute von den Rändern her aus, weil sich Enttäuschte entweder von der Politik ganz abwenden oder zu ThemenwählerInnen werden, die gerade in der Ausländer- oder Umweltfrage mit dem Angestammten nicht mehr einverstanden sind.

Gefragt ist, den inhaltlichen Kern der eigenen Existenz herauszustreichen und darauf aufbauend Antworten auf die Herausforderungen der Zeit zu geben. Zum Beispiel: Warum es die von der Mehrheit der Regierungsparteien befürwortete Personenfreizügigkeit braucht, was sie wirtschaftlich bringt und gesellschaftlich kostet, und wie wir damit umgehen wollen. Oder: Warum ein Land wie die Schweiz auf sichere Art und Weise mit Energie versorgt werden muss, und wie das angesichts der ungemütlichen Lage nach Tschernoybl und Fukushima wirtschafts-, sozial- und umweltverträglich geschehen soll.

Wenn die Anworten darauf einmal klar sind und erfolgreich vermittelt wurden, können die Sitze im Bundesrat verhandelt werden – nicht umgekehrt. Denn die Antwort auf die Machfrage lautet heute: mit den Kräften koalieren, mit denen man inhaltlich übereinstimmt. Und nicht mehr: mit denen Zusammenarbeiten, mit den sich vielleicht Uebereinstimmungen ergeben.

Claude Longchamp

Modellhafte Erklärung der Parteiwahl

Warum wählt man eine bestimmte Partei, und lässt man die anderen Links oder Rechts liegen? Ich gebe hier in aller Kürze das Ergebnis eines modellhaften, multivariaten Erklärungsversuchs wieder.

Diese Frage interessiert die Wahlforschung brennend. Anworten werden immer weniger rein beschreibend gesucht, indem man auf bewusst gegebene Statements setzt. Vielmehr ist man heute bestrebt, Modelle der Parteiwahl zu entwickeln, und diese mittels elaborierter Statistik zu test.en

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Die nebenstehende Tabelle gibt die Uebersicht. Denkbare Erklärungen sind das Image der Parteikampagne (als Kommunikationsfaktor) resp. des Präsidenten (als Personenfaktor), die zugeschriebene Sachkompetenz (als Themenfaktor), die Position auf der Links/Rechts-Achse und den Wertpolaritäten als weltanschauliche Charakteristiken der Parteibindung und die Regierungsvertrauen/-misstrauen (als Indikator für Systemintegration).

Am besten erklärt werden kann so die Wahl der SVP. Der entsprechende Wert (.68) ist ausserordentlich hoch. Recht hoch ist er auch bei der SPS (.43), während er bei GPS, FDP, GLP und CVP im üblichen Bereich liegt. Klar darunter ist er bei der BDP.

Die weiteren Ergebnisse betreffen die Parteienprofile. Die SVP wird zunächst wegen ihren inhaltlichen Positionen gewählt, beschränkt wegen ihrer klaren Position rechts, dem Image von Wahlkampf und Präsident, und nur bedingt aufgrund von Werthaltungen und Systemintegration. Die relevanten Themen ihrerseits können nicht auf die Ausländerfrage reduziert werden. Diese ist zwar für die Klimabildung und Mobilisierung zentral. SVP wählt man aber wegen ihres Programms in Wirtschafts-, Umwelt- und Gesundheitsthemen. Selbstredend gilt dies auch für die Migrations- und EU-Thematik. Verstärkt wird dies durch eine klare Abgrenzung gegenüber Parteien in der Mitte, dem Bundesrat, während der eigene Wahlkampf und der eigenen Parteipräsident zur positiven Identifikation beitragen. Die einzige kleine Unklarheit besteht bei der Ökologie/Ökonomie-Thematik, die wertmässig weder in die eine noch in die andere Richtung für die Wahl der SVP mobilisiert werden kann.

Wer FDP wählt, macht das aus vergleichbaren Gründen, aber mit anderer Reihung und zum Teil mit anderen Vorzeichen. Die programmatischen Aussagen der Partei zu den Sozialwerken sind der Wählerschaft wichtig; das gilt auch für ihre wirtschaftsnahe Haltung in Umweltfragen und neu auch für die Position in Migrationsfragen. Verstärkt wird dies durch den bisherigen Auftritt im Wahlkampf und durch das Bild des Parteipräsidenten. Bei der FDP kommt eine klare wertmässige Identifikation hinzu, sei es als Partei der Eigenverantwortung, der Offenheit oder des Materialismus. Nur beschränkt einen Betrag liefern die Position auf der rechten Seite und das Vertrauen in den Bundesrat. Am überraschendsten ist das weitgehende Fehlen der Wahl wegen ihrer Wirtschaftsprogrammatik. Da zerfällt ein bisheriger Grund der FDP-Wahl zusehends.

Die höchste Identifikation mit der CVP ergibt sich aus der Beurteilung des Wahlkampfes. Wer ihn gut findet, findet auch die CVP gut. Thematisch kann sich die CVP mit der Migrationsfrage, der sozialen Sicherheit und den Umweltfragen profilieren. Zudem schafft der Präsident eine positive Identifikation. Das gilt auch für das Vertrauen in die Institutionen, namentlich den Bundesrat und für eine grundsätzlich offene Schweiz. Hier überrascht, dass die Familien- und Gesundheitsthemen, welche die Partei selber favorisiert, für die Wählerschaft kein Grund sind, die CVP zu unterstützen. Da besteht eine Nachholbedarf.

Auch bei der SP kommt der eigene Wahlkampf gut an. Zudem ergeben sich zahlreiche Übereinstimmungen mit ihren Positionen, zum Beispiel in Fragen der Ausländerthematik, des Gesundheitswesens, der sozialen Sicherheit und der Umwelt. Punkten kann die Partei bei ihrer jetzigen Wählerschaft mit einer linken Position, vertreten durch den Parteipräsidenten und einem Appell an eine solidarische Schicksalsgemeinschaft. Nicht wirksam ist ihr bisheriges Engagement in Fragen der Arbeitslosigkeit, genauso wie die EU-Position. Zudem sind weltanschauliche Identifikationen geringer als programmatische.

Einfacher ist die Erklärung der Erfolge grüner Parteien. Die GPS brilliert mit der Umweltfrage, ihrem Wahlauftritt, der linken Position und der postmaterialistischen Werthaltung. Mit anderen als ökologischen Themen kann sie aber nicht punkten. Bei der GLP findet sich das genau gleiche Profil, einzig dass die Position auf der Links/Rechts-Achse unwichtiger ist. Auch bei ihr gilt, dass die Wählenden in Wirtschafts- und Fiskalfragen anders positioniert sind als bei der GPS; für die Wahl der GLP ist das letztlich aber nicht entscheidend.

Wie gesagt, bei der BDP versagt unsere Analyseschema weitgehend – höchstwahrscheinlich auch, weil die Frage nach der Wiederwahl von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf in diesem Wahlbarometer nicht gestellt wurde.

Claude Longchamp

I had a dream

Vor 20 Jahren träumte ich davon, parallel zu den etablierten Nachanalyse von Wahlen und Abstimmungen in der Schweiz auch Voruntersuchungen machen zu können. An den 3. Demokratietagen in Aarau zog ich vor einigen Tagen Bilanz zu diesem Unterfangen. Hier meine drei wichtigsten Schlüsse.

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“Erstens, Wahlprognosen sind prinzipiell möglich; Parteiwahlen können sicherer vorweggenommen werden als Personenwahlen. Alles hängt aber vom Zeitpunkt der Vorhersage ab.
Das hat mit der deutlicheren Vorbestimmtheit von Entscheidungen zum Nationalrat zu tun, denn unsere Meinungen zu Parteien bilden wir uns fast täglich. Das ist schon bei Ständeräten nicht der Fall und die Unterscheidung kann auch bei Kantons- und Regierungsratswahlen gemacht werden. Deshalb sind kurzfristige Entscheidungen, ja taktische Erwägungen bei Personenwahlen generell höher, was die Vorwegnahme der Ergebnisse erschwert.

Zweitens, Abstimmungsprognosen sind deutlich schwieriger. Generell ist Vorsicht angebracht.
Ermitteln kann man Trends der Meinungsbildung; mittels Szenarien lassen sich diese auch extrapolieren. Im schlechtesten Fall bleibt der Ausgang offen; im Normalfall kann er qualitativ im Sinne eines Nein- oder Ja-Entscheides vorweg benannt werden, während punktgenaue Prognose vorerst nicht möglich sind. Hauptgrund ist, dass die Dynamik der Meinungsbildung bei Behördenvorlagen grösser ist als bei Parteiwahlen und bei Entscheidungen über Volksinitiativen noch erheblicher ausfallen kann als bei Behördenvorlagen. Das erschwert die Aufgabe.

Drittens, etabliert hat sich, bei Wahlen eine Serie von Vorwahlbefragungen auf der Basis von jeweils 2000 auskunftswilligen Wahlberechtigten zu erstellen. Bei Abstimmungen gibt es zwei Erhebungen bei je 1200 Bürger und Bürgerinnen – die eine zu Beginn der Kampagne, die andere etwa in der Mitte. Im Vergleich zu Wahlen ist beides in der Regel nur recht nahe zum Abstimmungstag möglich. Einmalige Bestandesaufnahmen genügen aus unserer Warte nicht.”

Mehr dazu im Referat an der Fachtagung hier.

Claude Longchamp

Das bestgehütetste Parteiengeheimnis.

Innenpolitisch ist das Geld der Parteien kaum ein Thema. Jetzt erhöht der Europarat den Druck auf die Schweiz in dieser Sache.

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Quelle: L’Hébdo via Wahlkampfblog

Vor 5 Jahren ratifizierte die Schweiz das Anti-Korruptions-Abkommen des Europarates. Zwei Länderexamen hat unser Land seither bestanden. Beim dritten dürfte es jedoch scheitern.
Das jedenfalls berichtet die heutige “NZZamSonntag” unter Berufung auf ExpertInnen des Bundes. Denn seit Februar dieses Jahres überprüft der Europarat nicht die Wirkungen des hochgehaltenen Bankgeheimnisses, sondern … des bestgehüteten Parteiengeheimnisses.

“Wer finanziert die Parteien in der Schweiz? Sind es die Mitglieder? Sind es die Lobbyisten, die im Gegenzug verlangen, dass die Parteien ihre Interessen vertreten? Sind es die Schwerreichen, welche in ihrem Sinn steuern?”, sind drei nachollziehbare Erwägungen, die man zwischenzeitlich auch am Zürcher Falkenplatz macht.
Hilmar Gernet, vormals CVP-Generalsekretär und seit neuestem Buchautor in dieser Sache, versuchte den Schleier des Schweigens mit seiner Doktorarbeit ein wenig zu heben, ohne allzu konkret zu werden. Interna auszuplaudern, sei nicht seine Sache, eine Diskussion zu lancieren schon, fasst er seine Absicht zusammen. Selbst das bekam ihm nicht gut: Vor zwei Wochen wurde er aus dem Luzerner Grossen Rat abgewählt – und danach hing er seine Politkarriere ganz an den Nagel.

Die Schweiz hat als eines der wenigen europäischen Länder kein Parteiengesetz. Da sind internationale Diskussionen, europäische Vereinbarungen und unterschriebene Abkommen umso wichtiger. Das weiss auch Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die Ende letzten Jahres das federführende Justiz- und Polizeidepartement übernahm. Sie will gar nicht warten, bis die ExpertInnen des Europarates ihren Bericht fertig haben. Noch vor der heissen Phase des diesjährigen Wahlkampfes will sie mit einer eigenen Stellung den Boden für eine schweizerische Regelung vorbereiten.

Um es klar zu sagen: Ich mache mir keine Illusionen, das Parteien kein Geld brauchen würden. Doch gerade deshalb finde ich Transparenz in dieser Sache umso wichtiger. Denn nur das würde zeigen, ob Wahlergebnisse unabhängig vom eingesetzten Geld entstehen. Denn das ist demokratiepolitisch das Entscheidende.

Die Mentalität in der Romandie ist da schon etwas weiter als die übrigen Schweiz. Das Wochenmagazin L’Hébdo publizierte kürzlich ein Dossier über das “Geld der Parteien“; in den deutschsprachigen Massenmedien wurden nicht nur die Ueberlegungen hierzu, nein selbst die grundlegendsten Statistiken totgeschwiegen. Schön, dass es da mit polithink, Wahlkampfblog und zoonpoliticon wenigstens eine kleine Gegenöffentichkeit gibt.

A suivre!

Claude Longchamp

Wahlversprechen dieser und jener Art

Dieser Artikel dürfte “rehcolb”, einer meiner treuen Leser und Kommentatoren, ansprechen: Denn er beschäftigt sich mit einer Untersuchung zu Wahlversprechen und -verhalten unserer NationalrätInnen. Ich hoffe, er regt auch zum Nachdenken an. Denn es ist alles ist komplizierter, als man auf Anhieb denkt.

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Erinnern Sie sich noch an Christian Lüscher, dem FDP-Kandidaten bei den Bundesratswahlen 2009? Die Medien eroberte der liberale Sunnyboy im Sturmlauf: souveräner Auftritt, galantes Aeusseres und gewinnender Humor empfahlen ihn schnell einmal für das höchste Amt im Bundesstaat.

“Weit gefehlt!”, kommt die junge Berner Politikwissenschafterin Lisa Schädel in ihrem Bericht “Ist vor der Wahl auch nach der Wahl?” zum Schluss. Denn sie zählte nach, wer was versprach, und wer wie stimmte. Und bei keinem/keiner anderem/r PolitikerIn unter der Bundeskuppel fand so viel Positions-Inkongruenz wie bei Lüscher.

2003 resp. 2007 wurden die KandidatInnen für den Nationalrat gebeten, vor der Wahl den Fragebogen von smartvote auszufüllen und sich damit in aktuellen Streitfrage zu positionieren. In 34 Fällen stimmten die Gewählten danach über das ab, was gefragt wurde, was den Vergleich vor und nach der Wahl erlaubt.

Ergebnis: 86 Prozent der Entscheidungen stimmen überein!

Allerdings: Bei 14 Prozent der Getesteten gibt es eine vollständige Uebereinstimmung, bei einem Zehntel weichen mindestens 3 von 10 Entscheidungen ab. ParlamentarierInen ist eben nicht ParlamentarierIn!

Hat das mit einem schlechten Charakter einiger PolitikerInnen zu tun? Ausschliessen kann man das nicht. Die Untersuchung verweist auf tieferliegende Ursachen für Positionsinkongruenz:

Erstens: Probleme der Neulinge.
Zweitens: Problem Fraktionsdruck
Drittens: Problem Zentrumsposition.

Wer neu ist, muss sich einarbeiten, was zur Meinungsbildung beträgt und auch andere Einsichten aufkommen lässt. Wer mit seinen Positionen mit der Fraktionsmehrheit übereinstimmt, hat es einfacher. Wer nicht, kommt zunehmend unter Druck. Und wer im Zentrum politisiert, muss sich heute bewegen, um zu gewinnen!

So erstaunt es nicht, dass die SP-ParlamentarierInnen zu 94 Prozent positionskongruent stimmen, die Grünen zu 92 Prozent – beides überdurchschnittlicher Werte. Positiv gemüntzt heisst das, die linken ParlamentarierInnen halten ihre individuellen Wahlversprechen. Negativ ausgedrückt, stimmt das mit der höchsten Verliererrate im Nationalrat überein. Bei der SVP bewegt sich beides im Mittel. Ihren smartvote-Positionen am untreuesten sind die CVP- (74% Uebereinstimmung) und FDP-NationalrätInnen (81%). Dafür kommt es auf sie am meisten an, was im Parlament durchgeht – und was nicht.

Die Ergebnisse sind typisch für den Charakter – nicht der PolitikerInnen, jedoch der heutigen politischen Situation. Ohne Polarisierung repräsentierten die 4 Regierungsparteien mindestens drei Viertel der VolksvertreterInnen. Da mochte es individuelle Abweichungen nicht leiden. Heute ist alles anders: Sammlungen der Regierungspartner ohne SVP oder bürgerliche Schulterschlüsse sind zur Regel geworden, und sie sind auf geschlossene Fraktionen angewiesen. Wer an den Polen politisiert und im entscheidenden Moment ausscheren kann, hat es da einfacher als PolitikerInnen, die mehrheitsfähige Positionen suchen.

Denn auch das ist eine Art Wahlversprechen – selbst wenn es schwieriger ist, das klar zu machen!

Claude Longchamp

Parteienbarometer: das neu aufgemischte Zentrum

Ueberblickt man alle kantonalen Parlamentswahlen seit anfangs 2008, ist die BDP die eigentiche Wahlsiegerin. Aus dem Nichts ist sie landesweit im Schnitt zur einer 4-Prozent-Partei geworden. Ueberhaupt: Das Zentrum der Parteienlandschaft wird gegenwärtig neu aufgemischt.

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Eben fertig gestellt: Das gfs-Parteienbarometer mit einer Uebersicht über die Trends in den kantonalen Parlamentswahlen

Seit Langem erstellt das Forschungsinstitut das Parteienbarometer. Ursprünglich war es als Kontrollinstrument für Wahlumfragen gedacht. Zwischenzeitlich weiss man, dass nationale und kantonale Parteientwicklungen nicht mehr identisch sind. Das Instrument gibt dennoch einen Ueberblicke über die Parteientwicklungen in allen Kantonen, die ihr Parlament nach dem Proporzwahlrecht bestellen. Gegenüber anderen Instrumenten stellt es nicht auf Sitze, sondern auf Stimmen-Anteile ab, und es reiht diese nicht einfach auf, sondern gewichtet sie aufgrund der Wahlberechtigten in den Kantonen.

Bei sechs Parteien sind die Veränderung seit den letzten Nationalratswahlen relevant. Wählende gewonnen haben die BDP, die GLP und die SVP, solche verloren haben die FDP.DieLiberalen, die SPS und die CVP. Tendenzielle VerliererInnen sind darüberhinaus die EVP und die Schweizer Demokraten. Bei allen anderen Parteien heben sich Gewinne und Verluste in der diversen Kantonen weitgehend auf.

Die BDP ist das jüngste Kind in der Schweizer Parteienlandschaft. Hervorgegangen aus dem SVP-internen Streit nach der Wahl von Eveline Widmer-Schlumpf in den Bundesrat, hat sich der abgespaltene Teil als 4 Prozent-Partei etablieren können. Die PolitikerInnen, namentlich in den Kantonen Graubünden, Bern und Glarus, sind in der Ueberzahl ehemalige SVP-PolitikerInnen. Ihre Basis ist aber neu und kantonal stark unterschiedlich. Die Wählerverluste der SVP an die BDP sind marginal. Eher noch leidet die FDP unter solchen Wechlertendenzen. Beschränkte Gewinne der BDP gehen zulasten der CVP und der SPS. Entscheidend ist aber, dass es der BDP gelingt, Neuwählende zu mobilisieren – BürgerInnen, die vormals keine politische Heimat hatten.

Die GLP hat bei allen kantonalen Wahlen insgesamt 3 Prozent hinzugewonnen. Damit ist auch die zweitjüngste Kraft im schweizerischen Parteiensystem in den letzten Jahren ausgeprochen erfolgreich gewesen. Der Fukushima-Effekt hat das Ganze befördert, aber bei weitem nicht ausgelöst. Erfolgreich ist die Partei, weil sie zwischen den Blöcken agiert, einen Schwerpunkt in Oekologiefragen hat, Programmpunkte aber so zusammenstellt, dass sie das linksliberale WählerInnen-Spektrum offen abdeckt. Kantonale Analysen zeigen, dass sie zuerst enttäuschte WählerInnen von Rotgrün anspricht, danach aber auch im bürgerlichen Zentrum punktet.

Die SVP ist die kleine Siegerin bei den kantonalen Wahlen. Sie hat rund 1 Prozent zulegen können. Zu Beginn der Legislatur profitierte sie vom Schub, den sie aus den Nationalratswahlen 2007 mitnehmen konnte. Das hat sich zwischenzeitlich abgeflacht, es sind auch einige Wahlniederlagen hinzugekommen. Zentrale Determinante für SVP-Erfolge ist die Mobilisierung. Je höher die thematische Polarisierung ist, desto eher gelingt es ihr, nationalkonservative ProtestwählerInnen anzusprechen und zur Wahl zu bewegen.

Grösster Verlierer der kantonalen Wahlen seit anfangs 2008 ist die FDP. 3,5 Prozentpunkte hat sie heute weniger als die FDP und LP vor vier Jahren hatten. Die Fusion brachte kantonal nicht überall den erwarteten Schub. Zwar startete man in Neuenburg durch; doch andernorts sind die Probleme erheblich, wie nicht zuletzt die Genfer Wahlen gezeigt haben. Ueberhaupt, die FDP verlor nach einem kleinen Zwischenhoch 2011 durchwegs in den kantonalen Wahlen. Sie ist unter mehrfachem Druck. Steht sie in der Mitte, verliert sie einen Teil der konservativen WählerInnen. Bewegt sie sich zu stark in Richtung SVP, fühlen sich ökoliberale WählerInnen nicht mehr angesprochen. Wichtiger noch als Verluste nach links und rechts sind jedoch Abgänge durch Ableben oder Desaktivierung ehemaliger WählerInnen. Strukturell braucht die FDP dringend eine Verjüngung ihrer Wählerschaft.

Die SP ist der zweite Verlierer der kantonalen Wahlen. Zwei Prozentpunkte schwächer ist sie innert vier Jahren auf kantonaler Ebene geworden. Ihr Zyklus ist genau umgekehrt zu dem der FDP. Der herbe Wahlverlust 2007 demotivierte die Partei bei den nachfolgenden kantonalen Wahlen. Verluste namentlich an die GLP schmerzten, phasenweise gabe es auch negative Wanderbilanz zu den Nicht-WählerInnen. Zwischenzeitlich ist die Mobiliseirung der Partei wieder besser, doch ist sie angesichts der pointierte Links-Position voll vom neuen Stadt/Land-Konflikt erfasst worden: Was sie in den grossen Zentren gewinnt, wird durch starke Verluste auf dem Land und in den kleinen Städten übertroffen.

Schliesslich sei die CVP erwähnt, deren WählerInnen-Anteil in den Kantonen ebenfalls um rund 2 Prozentpunkte nachgelassen hat. Wie alle Parteien im Zentrum ist sie durch die Umgruppierungen von traditionellen zu neuen Kräften erfasst worden. Wie die FDP hat auch sie gewisse Richtungsprobleme: In ländlichen Raum ist die Wählerschaft konservativ, und das konfessionelle Moment hält sie nicht mehr davon ab, etwas anderes als die CVP zu wählen. Im urbanen Raum wiederum steht man voll unter dem Eindruck der grünliberalen Erfolge, welche die Modernisierung der CVP in den Städten schnell in den Schatten stellte. Zentrales Problem der CVP ist, dass sie kein eigenen Themen setzen kann.

Unter dem Strich ist die Wählerschaft bei kantonalen Wahlen der letzten 4 Jahre nicht mehr weiter polarisiert worden. Der lang anhaltende Trend seit Mitte der 90er Jahren ist weitgehend gestoppt. Jetzt wird das Zentrum durch neue Kräfte aufgemischt: BDP und GLP sind attraktiv geworden, FDP und CVP haben an Glanz eingebüsst.

Claude Longchamp

Parteiensystem der Schweiz: zwischen polarisiertem und segmentiertem Pluralismus

Die Zeiten des gemässigten Pluralismus im schweizerischen Parteiensystem sind vorbei. Das Neue schwankt aber zwischen polarisiertem und segmentiertem Pluralismus – mit einer vorherrschenden Partei.

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Die Schweiz ist innert 20 Jahren vom oberen linken Quadranten in die untere Mitte gewandert.

Das Parteiensystem der Schweiz ist im Wandel – ohne Zweifel. Blickt man auf die letzten Wahlen mit relative Stabilität im Jahr 1991 zurück, kann man festhalten:

. Die Polarisierung zwischen den Parteien ist gestiegen.
. Die Zahl der relevanten Parteien hat eher zugenommen.
. Die Mobilisierung durch Wahlen nimmt zu.

Die einzige Partei, die wirklich davon profitiert hat, ist die SVP. Sie steigerte sich von gut 10 auf knapp 30 Prozent der jeweils Wählenden. Zugelegt hat auch die GPS. Sie verbesserten sich von gut 5 auf knapp 10 Prozent. An Stärke eingebüsst haben die die CVP, die FDP und auch die SP. Diese profitierte anfänglich von der Polarisierung und Mobilisierung, zwischenzeitlich wird sie durch die grünen Parteien bedrängt.

In der politikwissenschaftlichen Analyse, wie sie der italienische Demokratieforscher Giovanni Sartori entwickelt hatte, galt die Schweiz lange als typischer Fall für einen gemässigten Pluralismus im Parteiensystem. Die ideologische Distanz zwischen den Parteien war gering, obwohl – oder gerade weil – von links bis rechts alle grössere Parteien in der Regierung gemäss ihrer Stärke in der Bevölkerung vertreten waren. Zudem blieb die Zahl der Parteien gering: 3 grössere, eine mittlerer und eine knapp Hand voll Kleinstparteien bildeten die WählerInnen ab.

Davon ist wenig übrig geblieben. Gewachsen ist mit der Polarisierung die ideologische Distanz der Parteien. Die klassische Links/Rechts-Polarität wurde durch die postmaterialistisch und postnationalistische erweitert. Oekologie- und Globalisierungsprobleme definierten neuen Problemlagen, und über die änderten sich die Parteien. Vielleicht gibt es auch eine dritte Innovation in den grundlegenden Konflikten: den Gegensatz zwischen radikaler Markt- und Staatsorientierung. Verändert hat sich auch die Zahl der relevanten Parteien. Ein ist historisch einmalig gross. Vier sind mittelstark, und zwei haben sich neu vor den kleinsparteien etablieren können; nur wenige sind in der Zeit ganz verschwunden.

Vieles davon spricht, dass wir es heute mit einem polarisierten Pluralismus zu tun haben. Die zentrale Kraft weist nicht mehr ins Zentrum, sondern zu den Polen. Allenfalls ist das heute an ein Limit genannt. Dass die BDP und die GLP, die GewinnerInnen der kantonalen Wahlen in den letzten vier Jahren, gemässigt mitte/rechts resp. mitte/links politiseren, ist ein Zeichen hierfür. Zudem bewegen sich Teile der Grünen Richtung Mitte – anders noch als 2007, als sie die SP links zu überholen versuchten.

Ein Einwand bleibt bestehen. Schon Sartori hat darauf hingewiesen, dass der polarisierte Pluralismus nur in kulturell einheitlichen Nationen vorkommt. Das ist die Schweiz nicht – auch nicht geworden. Die Trends zur Segmentierung der Schweiz entlang der Sprachregionen sind nicht einheitlich, mindestens aber zyklisch wiederkehrend. Die Aktualität des Röstigrabens, der anders als in den 90er Jahren heute nicht mehr durch die EU-, aber bei sozialpolitischen Fragestellungen auftritt, ist auch hierfür ein Signal.

Typologisch, kann man festhalten, ist die Schweiz heute ein Fall zwischen segmentierter und polarisierter Polarisierung. Die Zahl der Parteien wächst. Die Distanz unter ihnen auch. Gebrochen wird jede einfache Schematisierung aber durch regionale, insbesondere sprachregionale Eigenheiten im schweizerische Parteiensystem. Das unterscheidet die Schweiz nachhaltig von Beispielen wie dashenige von Bayern. Und genau das sollte man nicht vergessen, wenn man Szenarien erstellt, wie das Regierungs- dem Parlamentssystem angepasst werden könnte, das aus den kommenden Wahlen hervorgehen wird.

Claude Longchamp