40 Jahre Frauenstimmrecht: Wann die Frauen den Ausschlag gaben

Die Einführung des Frauenstimmrechtes vor vierzig Jahren hat zwar die politische Landschaft in der Schweiz nicht umgepflügt. So stimmen die Frauen bei eidgenössischen Vorlagen meist gleich wie die Männer. Gewichtige Ausnahmen gibt es jedoch, wie eine aktuelle Zusammenstellung für die sda zeigt.

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Frauenmehrheit im Bundesrat: die wohl grösste Veränderung in der Schweizer Politik seit der Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts.Und was änderte sich im Stimmverhalten der SchweizerInnen? (Bild: Annabelle)

Die Stimmen der Frauen gaben im Jahr 1985 den Ausschlag zur Annahme des neuen Ehe- und Erbrechts. Mit der Vorlage hielt die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau auch in der Ehe Einzug. Nur dank der Frauenstimmen wurde weiter die Antirassismus-Strafnorm (1995) angenommen.

Generell sprechen sich Frauen stärker gegen Diskriminierung aus. Um zu diesem Schluss zu kommen, wurden alle 266 eidgenössischen Volksabstimmungen zwischen 1977 und 2010 hinsichtlich des geschlechtsspezifischen Stimmverhaltens untersucht.

Dabei zeigt sich, dass seit der Einführung des Frauenstimmrechts im Jahr 1971 bei mindestens zehn eidgenössische Vorlagen die Stimmen der Frauen den Unterschied machten. Umgekehrt gaben bei mindestens elf Vorlagen die Männer den Ausschlag.

Zum Durchbruch verhalfen die Frauen auch der Alpeninitiative (1993) und dem Moratorium für den Bau von Atomkraftwerken (1990). Die Männer lehnten diese Vorlagen ab. Zu Fall brachten die Frauen das neue Elektrizitätsmarktgesetz (2003). Dieses hätte in einem Schritt eine komplette Liberalisierung des Strommarktes gebracht.

Abgelehnt wurden wegen einer starken Frauenmehrheit in der Vergangenheit eine Revision der Arbeitslosenversicherung (1997) und eine Lockerung der Lex Friedrich (1995) und der erste Anlauf, das Stimm- und Wahlrechtsalter auf 18 Jahre zu senken (1979).

Neben der Sensibilität für Benachteiligte setzen sich Frauen eher für den Service public ein, gewichten sie wirtschaftspolitische Argumente weniger stark, und schützen sie die Umwelt mehr. In Fragen zu Abtreibung und Mutterschaft aber zeigten sich vor allem ältere Frauen konservativ.

So legten die Frauen bei der ersten Abstimmung über einen straffreien Schwangerschaftsabbruch im Jahr 1978 mehrheitlich ein Nein in die Urne – das Ja der Männer konnte die Vorlage nicht retten. Bei der zweiten Abstimmung (2002) sagten dann zwar auch die Frauen Ja (69%), allerdings weniger deutlich als die Männer (76%). Auch bei der Abstimmung über einen bezahlten Mutterschaftsurlaub (2004) zeigten sich die Frauen konservativer als die Männer.

Mit der Einführung des Frauenstimm- und wahlrechts wurden zudem neue Themen in die öffentliche Debatte aufgenommen wurden. Mit Blick auf die Volksbegehren nennt er die Verwahrungsinitiative (2004) und die Unverjährbarkeitsinitiative (2008). Beide Initiativen wurden angenommen – letztere aber gegen den Willen der Männer.

Claude Longchamp

Wahlfälschungen im Kanton Glarus nicht mehr auszuschliessen

Wenn sie stimmt, ist sie die unrühmlichste Geschichte zur direkten Demokratie: Am Wochenende berichtete der Bund über mögliche Wahlfälschungen, die durch nachlässig kontrollierte Stellvertretungen bei der Stimmabgabe ermöglicht werden.

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Landrat in Glarus: gut 20 Prozent der Wahlzettel könnten missbräuchlich ausgefüllt worden sein.

Nachdem bei den letzten kantonalen Wahlen im Kanton Glarus eine Beschwerde über Manipulation der Ergebnisse eingegangen war, wurde das Forensische Institut Zürich mit den Abklärungen der Problematik beauftragt.

Ergebnis: 382 von 1803 untersuchten Wahlzettel zeigen Anhaltspunkte, dass Personen mehr als nur einmal gewählt haben. Ende erstes Quartal 2011 erwartet man den Bericht über das effektive Ausmass der Wahlfälschung. Sitzverschiebungen im Kantonsparlament werden nicht mehr ausgeschlossen.

In Glarus darf ein(e) Wahlberechtigte(r) bis zu drei Wahlzettel abgeben. Doch anders als in Kantonen wie Zürich, Schaffhausen, Thurgau, Appenzell, Aargau oder Solothurn, wo Stellvertretungen ebenfalls zugelassen sind, müssen die verschiedenen Wahlzettel nicht unterschrieben sein.

Dieses Privileg scheint Wahlfälschungen in grösserem Masse zuzulassen. Dafür spricht, dass ähnliche Handschriften nur in zwei- oder dreifacher Ausführung ausfindig gemacht werden konnten. Aufsummiert sind gut 20 Prozent der Wahlzettel möglicherweise gefälscht.

Interessant ist, dass dieses Thema gerade jetzt auftaucht, wo mit der BDP eine neue Partei entstanden ist. Das lässt auch Spekulationen zu, dass bisheriges Wissen über Missbräuche, die in Kleingesellschaft aber unter dem Deckel gehalten werden können, nun ganz bewusst aufgedeckt worden ist.

Die Glarner Regierung jedenfalls hat das Problem jetzt schon erkannt. Sie will deshalb missbräuchliche “Botengänge” an die Urne oder zur Post inskünftig verbieten.

Damit wird ein Thema aufgeworfen, das am Grundsatz der Demokratie rührt: Wie klar ist der Grundsatz verwirklicht, dass jede Person mit der gleichen einen Stimme gezählt wird? Gerade in der Schweiz, wo Wahlbeteiligung von 50 Prozent als hoch gelten, ist mit dieser Frage nicht zu spassen. Denn der Handel mit Wahlmaterial kennt grosse Spielräume, wenn die eine Hälfte wählt, der anderen das egal ist.

Immer wieder aufgeworfen wird die Problematik, dass gerade in traditionellen Familien der Mann mit der Einführung des Frauenstimm- und wahlrechts mehrfach wählt. Hinweise gibt es auch, dass unter Jugendlichen, die politisch nicht sehr interessiert sind, Stimm- und Wahlzettel herumgereicht werden.

Die beste Kontrolle hierfür nennt das Bundesgesetz: Die eigenthändige Unterschrift unter den Wahlrechtsausweis, die von allen aus von Behinderten ohne Schreibfähigkeit verlangt werden muss. Die zweitbeste ergibt sich aus der Praxis in Wahlbüros, wenn Stimmenzähler ihre Arbeit seriös machen.

Letzteres wird wegen dem Personalmangel beim Auszähler immer lückenhafter. Grosszügige Ausnahme von der Unterschriftenpflicht wie im Kanton Glarus werden damit immer unverständlicher.

Claude Longchamp

Die Nationalisierung von Ständeratswahlkämpfen

Schweizer Wahlen finden in den Kantonen statt. Das war mal. Denn nach den Wahlen in die grosse Kammer werden jetzt auch jene in die kleine nationalisiert.

svp_BM_Bayern_NAEF_1119433pToni Brunner verordnet der SVP einen koordinierten Auftritt bei den Ständeratswahlen 2011

Lange war das der common sense unter den Parteistrategen in der Schweiz: Nationale Wahlen sind die hohe Zeit der Kantonalparteien. Sie nominieren die KandidatInnen für den National- und den Ständerat. Sie bereiten die Kampagnen vor. Und sie betreuen die KandidatInnen während des Wahlkampfes. Gesamtschweizerischen Parteisekretariate bildeten weit entfernt vom Ort des Geschehens eine Art Dach, das man kam wahrnahm, allenfalls technische Hilfe leistete.

Wahlforscher wie der Genfer Pascal Sciarini sprechen schon länger von der Nationalisierung der Parteien und der Wahlkämpfe, insbesondere jene für die Volkskammer. Die Parteien, die Logos, die Plakate, die Inserate wurde in einem ersten Schritt vereinheitlicht. In einem zweiten fliessen immer mehr gemeinsam bestimmte Themen und Positionen von Carouge bis Rorschach in die Parteikampagnen ein.

Darin führend ist einmal mehr die SVP. Der Namen ist zur Marke mit Image geworden, der einem unverfälscht Personen als Stellvertreter und Werte als Weltanschauung vermittelt. Vom Wallis bis nach Schaffhausen. Getrieben wird das von der Zentrale aus – im Parteipräsidium und Generalsekretariat, die auf die Einheitlichkeit achten und Abweichungen kaum tolerieren.

Was politisch für Irritationen sorgen kann, hat für die Kommunikation Vorteile. Man kann so im besten Fall nationale Themen lancieren, im schlechteren Fall mindestens solche für die ganze deutschsprachige Schweiz. Man kann sie einheitlich kommunizieren, ihnen die erwünschte Dramaturgie geben, während die Kantone für die Umsetzung im Lokalen zuständig sind. Die Nationalratswahlen 2007 waren typisch hierfür; die Harmos-Abstimmungen ab 2008 ebenfalls.

Nun sind die Ständeratswahlen an der Reihe. Wiederum geht die Initiative von der SVP aus, wie diese Woche sichtbar wurde. Via Tages-Anzeiger lancierte Toni Brunner seine Idee, den Ständerat als Bastion des bürgerlichen Zentrums anzugreifen. Damit attackiert die schweizerische SVP nicht nur die weit übervertretene CVP an; sie zielt auch auf das letzte Refugium der traditionell-föderalistischen Parteistrukturen in der Schweiz.

Sicher, die Reaktionen diese Woche waren gemischt. In St. Gallen erhofft man sich mit der Rückendeckung aus Bern mit neuen Ressourcen für den Wahlkampf im Herbst und ist man zuversichtlich. In Baselstadt winkte der Kantonalpräsident schon einen Tag nach der Lancierung der Idee via Basler Zeitung andertags ab; eine Kandidatur der SVP bei den Ständeratswahlen sei aussichtslos. Christoph Blocher wiederum dementierte nicht, nach 1987 ein zweites Mal für den Ständerat im Kanton Zürich kandideren zu wollen, während Fraktionschef Caspar Baader als denkbares Gegenstück im Baselbiet auffällig nicht sagt.

Doch das sind nicht mehr als unterschiedliche Symptome in einem generellen, zeittypischen Wandels: Immer mehr stehen Personen für Parteien. Bei den nationalen ParteipräsidentInnen ist das selbstredend; wegen ihrer klarer Aufgabe sind sie aber nur beschränkt als Stimmfänger tauglich. So braucht es immer mehr Medienstars wie BundesrätInnen, die diesen Part mitübernehmen. Und es sind immer mehr StänderätInnen gefragt, die sich in nationale Parteikampagnen einspannen lassen. Denn die Erfahrung zeigt: Ständeratswahlen können zu einem substanziellen Teil der Gesamtmobilisierung einer Partei werden – für die Medienkampagnen wie für die WählerInnen-Kampagnen. Auch wenn eine Kandidat oder eine Kandidatin nicht direkt gewählt wird; der Partei kann er oder sie dienen und ihrer koordinierten Profilierung ebenso.

Die SVP geht auch hier voran und fordert damit vor allem die stark kantonal ausgerichtete CVP heraus. Selbst wenn es diesmal nicht zu einem flächendeckenden Erfolg kommen dürfte – der Trend zur Nationalisierung von Ständeratswahlen im Sinne der Parteiwahlen ist lanciert.

Claude Longchamp

Kann man Ständeratswahlen prognostizieren?

Im Prinzip Ja, sagt Politologie Ruedi Burger. Im Detail weiss er aber auch nicht, wie man mitentscheidende Faktoren gewichten soll. Ich glaube ihm das, den eine solche Prognose muss im Ansatz komplexer sein.

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Das Problem ist bekannt: Ständeratswahlen sind schlecht erforscht. Unverändert gilt, dass man sie zu den Persönlichkeitswahlen zählt, das heisst, die Person den Ausschlag gibt. Das ist so nicht falsch, wohl aber auch nicht richtig. Denn die Wahlchancen von StänderatskandidatInnen hängen offensichtlich auch vom Wahlkreis, dem Wahlrecht, den Rücktritten, den Motivationen einer Kandidatur und der Allianzbildung unter Parteien bzw. mit Verbänden ab. Das alles ergibt, höchstwahrscheinlich, einen Mix aus Eigenschaften von Persönlichkeits- und Parteiwahlen.

Keiner hat sich so lange mit Panaschierdaten bei Nationalratswahlen beschäftigt wie der Zürcher Politikwissenschafter Ruedi Burger, zwischenzeitlich Journalist und Politiker im bernischen Bolligen. Und er hat eine interessante These, die er im “Bund” veröffentlichte: Wer ein Amt im Ständerat anstrebt, muss ein bekannter und erfahrener Politiker (oder eine bekannte und erfahrene Politikerin) sein. Deshalb sind die meisten KandidatInnen zu Zeit der Wahl im Nationalrat, womit man über effektive Wahlergebnisse zu ihnen und ihren Parteien verfügt – dem Königsweg für die Prognose von Ständeratswahlen.

Burger nimmt die Panaschierergebnisse nicht einfach zum Nennwert. Zuerst bestimmt er, wieviele Panaschierstimmen von ausserhalb der eigenen Partei kommen. Stimmen aus Regional- oder Geschlechterlisten einer Partei lässt er nicht gelten. Dann gewichtet er die verbleibenden Panaschierstimmen im Verhältnis der WählerInnen-Anteile ausserhalb der eigenen Partei.

Bezogen auf die anstehenden Ständeratswahlen im Kanton Bern kommt er zu einem interessanten Schluss: Panaschierkönig ist nicht Adrian Amstutz, obwohl er am meisten Stimmen überhaupt machte. Panaschierkönigin ist Christa Markwalder, die auf 15,5 Prozent der Nicht- FDP-Listen aufgeführt wurde, gefolgt von Ursula Wyss mit einem Score von 13,5 Prozent ausserhalb der SP. Erst dann folgt Adrian Amstutz mit 9,2 Prozent ausserhalb der SVP.

Bei der Hausmacht lautet die Reihenfolge jedoch genau umgekehrt. Die Partei von Amstutz ist die stärkte, jene von Wyss die zweite, und die von Markwalder die schwächste.

Aus der Kombination beider Indikatoren leitet Burger seine Prognose ab. Sie lautet: Im ersten Wahlgang wir keiner der drei Top-KandidatInnen gewählt. Die Reihenfolg ergibt sich aus der Hausmacht, also Amstutz vor Wyss und Markwalder. Wegen der Spaltung im bürgerlichen Lager zwischen SVP und BDP/FDP schafft Amstutz das absolute Mehr jedoch nicht. Für den zweiten Wahlgang ist alles offen, denn dann kommt es wirklich darauf an, ob sich eine rechte und eine linke Bewerbung gegenüber stehen.

Die Prognose ist durchaus plausibel. Sie kann aber auch ohne den langen Umweg über Panaschieranalysen gemacht werden. Denn sie leitet sich einzig aus dem Faktor “Hausmacht und Parteiallianzen” ab.

Seit einiger Zeit arbeite ich an einem Prognosemodell für Ständeratswahlen. Meine Erfahrung ist, dass man die Wahlchancen einer Bewerbung mehrdimensional bestimmen muss:

. aus dem Anlass heraus, wobei die frei werdenden Sitze massgeblich sind,
. aufgrund der Kandidaturen selber, wobei das “Bisher”, die Bekanntheit, der Leistungsauweis, die Partei- und Regionszughörigkeit eine Rolle spielen, und
. aufgrund der Allianz-Situation heraus, wobei man genau so auf unterstützende Parteien, Verbände und Medien abstellen wie auch auf die Konkurrenzsituation im eigenen Lager abstellen muss.

Schliesslich kann einen Wahlkampf auch Dynamik kommen, die man nicht vorhersehen kann, sodass der Einfluss der genannten Determinanten variiert. Das macht dann das Prognosegeschäft schwieriger.

Burger hat eine gute Idee lanciert, so mit einer Prognose versehen, sie aber noch nicht hinreichend ausgearbeitet. Seine Konzentration auf Panaschierstimmen hilft, Personeneffekte der möglichen Ausstrahung auf andere Parteien zu bestimmen. Für die Prognose reicht das aber nicht.

Am 13. Februar weiss man vielleicht mehr, sicher am 6. März, sollte es zu einem zweiten Wahlgang kommen.

Claude Longchamp

Ein Vierteljahrhundert im Geschäft

Heute habe ich mein 25jährigen Dienstjubiläum bei GfS. Ein kleiner Rückblick auf eine Vierteljahrhundert als Sozialforscher.

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Dass Kommunikation gelingt, ist unwahrscheinlich: Meine Zeit als Sozialforscher – mit den üblichen medialen Missverständnissen: die Konkordanzregierungen will ich nicht abschaffen.

Dass Alphons Egli am 1. Januar 1986 neuer Bundespräsident wurde, musste ich in den Annalen der Bundesratsgeschichte nachschlagen. Erinnern kann ich mich aber an den 3. Januar, einen Freitag, an dem ich erstmals als Projektleiter bei GfS nach Zürich arbeiten ging.

Nur wenige Tage danach ging die US-Raumfähre beim Start förmlich “in die Luft”. Schlagartig war ich sicher, zurecht kein Astronaut geworden zu sein, wie ich als Bub noch wollte. Dafür explodierte im April der Atomreaktor im ukrainischen Tschernobyl und machte uns allen klar, was es hiess, in der “Risikogesellschaft” zu leben.

Kurz darauf waren Wahlen im Kanton Bern, und die traditionelle bürgerliche Mehrheit kippte zugunsten von Rotgrün. Der Anlass war spannend, sodass ich mit anderen erstmals auch eine Hochrechnung fürs Radio wagte. Das hat uns geprägt, denn in der Folge wurden wir immer wieder eingeladen, uns öffentliche Gedanken über das, was ist, zu machen. Die vertiefte Analyse der damaligen Veränderungen fand ich im Buch von Erich Gruner und Hanspeter Hertig über den “Stimmbürger und die neue Politik“. Für die Schweiz erstmals analysiert wurden darin der Wertwandel durch Generationen, die den Krieg nicht mehr erlebt hatten, und durch Geld, das in politische Kampagnen floss.

Beide Themen waren der Analyse des politologischen Bestsellers von damals, der “Silent Revolution” von Ronald Inglehart, nachempfunden worden. Wie kein anderes Buch hat dieses mein Wirken als Forscher geprägt, auch wenn der sanfte Postmaterialismus längst durch einen virulenten Nationalkonservatismus abgelöst worden ist. Im Zusammenhang mit den Nationalratswahlen 1999 habe ich diesen Begriff erstmals verwendet, um die Neuformierung des schweizerischen Parteiensystems wertemässig erklären und prognostieren zu können. Das war durch sinnvoll, denn bis heute sind wir damit beschäftigt, die Umgestaltung des hiesigen Parteiensystems in seiner Rasanz zu verstehen.

Das Geld in der Politik ist uns als Kontroverse bis heute erhalten geblieben; mein letztes Interview für das Schweizer Fernsehen vor dem Dienstjubiläum war sinnigerweise genau diesem Thema gewidmet. Interessiert hat mich jedoch noch mehr, wie die amateurhaften Kampagnen professionalisiert worden sind. Der Bundesrat hat das Parlament abgelöst, die Verbände sind an die Stelle der Parteien getreten, die Medien haben ihren Diskurs verselbständigt, und die BürgerInnen suchen ihre Wege, sich via Internet selber mitzuteilen. Der Stil ist in einer Form konkurrenziv, ja aggresiv geworden, so, wie ich es mir eigentlich nicht gewünscht habe.

Aus der Schweizerischen Gesellschaft für praktische Sozialforschung von damals ist zuerst ein Forschungsinstitut als AG entstanden. Daraus haben sich in Zürich und Bern je ein Institut verselbständig, wobei ich Letzteres von Beginn an leite, seit zwei Jahren als Verwaltungsratspräsident. Es ist eine tägliche Herausforderung, die eher seltene Verbindung als Wissenschafter, Geschäftsmann und Kommunikator im Gleichgewicht zu halten. Wenn’s gelingt, freut es mich; wenn’s Kritik gibt, suche ich nach neuen Wegen.

Unterstützt werde ich am gfs.bern von einem starken Team, denn neben mir arbeiten heute je zwei Senior-Projektleiter, ProjektleiterInnen und wissenschaftlichen Mitarbeiter im gfs.bern. Sie alle sind ausgebildete PolitikwissenschafterInnen der Universität Bern. Zudem haben wir einen Stab für Administration, Buchhaltung und IT, der das Forschungsteam tatkräfig verstärkt. Rund 60 Projekte realisieren wir so jedes Jahr, die einem Umsatz von rund 3 Millionen Franken entsprechen. Für Schweizer Verhältnisse ist der Betrieb ziemlich unüblich, und auch eine kleine Kaderschmiede für Karrieren in Politik, Wirtschaft und Kommunikation.

Besonders freut mich, dass sich das gfs.bern zwischenzeitlich bei Kunden und in der Oeffentlichkeit so gut etabliert hat, dass ich seit einiger Zeit am Freitag wieder ostwärts fahren kann, nehme ich doch in St. Gallen und Zürich Lehraufträge in der empirischen Sozialforschung wahr. Und wenn alles klappt, kehre ich diesen Herbst wieder an die Uni Bern zurück, wo alles seinen Anfang nahm.

Ein gutes neues Jahr wünscht

Claude Longchamp

Politbarometer gleicht sich Wahlbarometer an

Mit dem heutigen Politbarometer der Sonntagszeitung werden die Stärken der Parteien demoskopisch neu bestimmt. Auffälligstes Ergebnis: Die Resultate sind fast identisch mit denen im herbstlichen Wahlbarometer der SRG. Neue Parteien haben Chancen zu gewinnen, während SVP und Grüne wenigstens gegenwärtig nicht mehr so mobilisiert sind wie 2007.

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Entwicklung der Parteienstärke gemäss Umfragen der SOZ 2007-2010

Das letzte Wahlbarometer von SRG/gfs.bern fand unmittelbar nach den Bundesratswahlen statt; das Politbarometer berücksichtigt zudem die Auswirkungen der Volksabstimmungen vom 28. November 2010. Darin liegen – politisch gesprochen – Welten. Denn im ersten Moment waren FDP und SP in Fahrt; jetzt ist es die SVP.

Dennoch sind die Unterschiede in den Parteistärken der beiden Befragungen gering – besser gesagt gering geworden. Bei der SP beträgt die Differenz zwischen beiden Messungen 1 Prozentpunkt, bei der BDP 0.9 Zähler. Je 0.6 Prozentpunkte sind es bei den Grünen und den Grünliberalen. Halb so viel resultiert bei der CVP, und bei FDP und SVP weichen die Resultate gerade um 0,1 Einheiten ab.

Die Uebereinstimmung war in den letzten 2 Jahren nicht immer so. Noch im September 2009 sah die Sonntagszeitung SVP und SP fast gleich auf. Der SVP wurden massive Verluste nachgesagt, der SP einige Gewinne. Nun hat sich das im neuesten Politbarometer ins Gegenteil verkehrt.

Das hat vor allem mit dem Score der SVP bei Isopublic zu tun, die von einer Umfrage zur anderen 3,3 Prozentpunkte zulegte. Aber auch die SP wird neu eingeschätzt, hat sie doch 1,9 Prozentpunkte weniger als noch vor drei Monaten.

Die Analyse für diese Sprünge bleibt allerdings weitgehend aus. Bei der SVP wird man den Abstimmungssieg in Sachen Ausschaffung vorbringen können. Bei der SP kann man an das Parteiprogramm erinnern. Fakten, ob das stimmt, gibt es leider nicht. Denn die Parteienprofile in Gesellschaftsgruppen werden nicht analysiert. Anders als das Wahlbarometer verzichtet das Politbarometer auch auf eine Wählerstromanalyse, genauso wie man in der Sonntagszeitung nichts über die Höhe der Teilnahmeabsichten am unterstellten Wahlgang erfährt.

Damit bleibt die Frage offen, ob man hier von Trends über Messinstrumente hinweg sprechen kann.

Formulieren wir es deshalb positiv: Die schweizerischen Wahlumfragen sehen (knapp ein Jahr vor den Wahlen) BDP und GLP als aussichtsreiche Wahlsiegerinnen. SP, FDP und CVP sind weitgehend stabil, während Grüne und SVP nicht mehr von der Mobilisierung wie 2007 profitieren können.

Was nicht ist, kann noch werden. Denn die einzig brauchbare Prognose ist die, die nicht eintrifft, weil man noch rechtzeitig gehandelt hat!

Claude Longchamp

Wahljahr 2011: Wie es die NZZ am Sonntag sieht

2011 ist das grosse Wahljahr in der Schweiz. Was bringt es uns? – Eine kommentierte Uebersicht nach der morgendlichen Lektüre der liberal-konservativen NZZ am Sonntag.

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Der neue Bundesrat: garantiert ein Thema im Wahljahr

Mehrere Artikel der heutigen NZZamSO-Ausgabe beschäftigen sich mit dem Wahljahr – und legen unterschiedliche Schlüsse nahe. Der Reihe nach!

Stefan Bühler und Markus Häfliger blicken sachlich auf den 23. Oktober 2011 und identifizieren acht Brennpunkte:

. Initiativen-Flut: Wie noch nie werden Unterschriften für Volksinitiative gesammelt. Alle grossen Parteien bis zur EVP nutzen die Möglichkeit als Wahlkampf-Vehikel. Das Volksrecht werde so zum Marketing-Instrument.
. Testwahl im Frühling: Kantonale Wahlen gibt es in Baselland, Zürich, Luzern und Tessin, wo die Kantonsparlamente noch vor den nationalen Legislativwahlen neu bestimmt und relevante WählerInnen-Trend benenne werden.
. BDP als Unbekannte: Die BDP muss erstmals zu einer nationalen Wahl antreten. Zuerst geht es darum, ob sich die Partei national etablieren kann, dann ob sie in der Bundesregierung bleibt.
. Atomisierung der Mitte: Die Mitte formiert sich neu – neben der BDP buhlt auch die GLP um ihre Stimmen. Tradtionellerweise sehen sich CVP und EVP dort, während sich die FDP wieder vermehrt abgrenzt. Die Allianz der Mitte entwickelt zwar Einfluss auf den Bundesrat, aber kaum auf Wahlen.
. Neue Konkurrenz für SVP: Rechts der SVP entwickelt ausgehend vom Genf MCG eine neue xenophobe Partei, In den welschen Kantonen macht sie der meist noch jungen SVP Konkurrenz.
. Abwehrschlacht der CVP: Die SVP will vor allem im Ständerat angreifen, um die Vorherrschaft der CVP zu brechen. Entsprechend ist mit Polarisierungen bei Ständeratswahlen zu rechnen, wo die SVP erstarkt, in der kleinen Kammer aber nicht vertreten ist.
. Wahlkampf-Joker der SP: Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey könnte in der September-Session des eidgenössischen Räte zurücktreten, um dem Wahlkampf der Partei Schwung zu verleihen.
. Die Konkordanzfrage: Bei den Bundesratswahlen am 14. Dezember stelle sich die Konkordanzfrage, wofür es drei Szenarien gäbe: den Ersatz der BDP durch die SVP, Opposition der SVP aus Verärgerung über die Wiederwahl von Eveline Widmer-Schlumpf und der geordnete Uebergang zu einer gewollten Mitte/Links- oder Mitte/Rechts-Regierung.

Diskret bleiben die beiden Autoren gegenüber der FDP, deren zwei Sitze im Bundesrat gefährdet sind, sollte sie bei den Parlamentswahlen erneut verlieren und hinter die CVP zurückfallen. Schwierig wird es für die FDP, wenn die Schweizer Wirtschaft schwächelt und die Bilateralen in eine Sackgasse führen. Dann dürfte die grosse europapolitische Debatte mitten im Wahljahr einsetzen und zwischen SVP und SP polarisieren und die FDP in die Arme der SVP treiben.

Desweitern äussert sich Chefredaktor Felix Müller zum Generalthema: Wenn Probleme fehlen, erfinden Parteien solche, ist seine These. Denn das Land habe die Finanzkrise so gut gemeistert und sei von der Schuldenkrisso schwach betroffen, sodass der Erfolg bei der Aufwertung des Frankens als Fluchtwährung resp. bei der Belastung der Infrastruktur durch Einwanderung zu schaffen machten. Die Oppositionsparteien in der Regierung seien hierzu aktiv, aber untauglich: Die SP habe sich ein surreales Parteiprogramm zur Ueberwindung des Kapitalismus verpasst, während die SVP die Schweiz im Ausland lobe, im Inland aber zu immerwährenden Tiraden aushole. Beides bringe das Land nicht weiter, weshalb man aus Mücken Elefanten mache – ganz nach dem amerikanischen Motto: Im Wahlkampf nützt, was die WählerInnen emotionalisiert!

Irgendwie wird man den Eindruck nicht los, da wasche einer die Schweiz weisser als sie ist. Ueberhaupt fällt auf, dass sich niemand mit der offensichtlichsten Eigenheit des Wahljahres beschäftigt: Gerade eine Volksabstimmung werden wir haben – ansonsten wird das Feld der Themenfindung vor dem Wahltag ganz den Parteien und Medien überlassen.

Claude Longchamp