Umfragen sind Bestandesaufnahmen – nicht mehr und nicht weniger

Zu den gröberen Missverständnissen in der öffentlichen Verwendung von Umfragen zählt, dass sie an sich als Prognosen gelesen werden. Meine Erfahrung lehrt mich vielmehr: Umfragen helfen, die Unsicherheit vor einer Entscheidung einschränken, nicht die Realität, die kommt, vorweg zu nehmen.

Hätten alle Menschen zu jedem Zeitpunkt eine feste Meinung, wäre alles ganz einfach. Man könnte heute eine Befragung aller oder eines Teils davon machen und wüsste, was morgen geschieht.

Doch trifft diese Annahme nicht zu!

Es gehört zum Wesen von Prozessen, nicht stabil, sondern dynamisch zu sein. Und es zählt zu den Eigenschaften sozialer Prozesse, nicht nach einer einfachen Mechanik zu funktionieren.

Vielmehr sind Meinungsbildungsprozesse interaktiv. Es lassen sich Einflussgrössen benennen, wie das Handeln der PolitikerInnen, der Medien, die politische Grosswetterlage und die Kampagnen vor einer Enscheidung. Genaue Zustände vorherzusehen, ist dagegen fast unmöglich.

Der Dispositionsansatz versucht dieser Auffassung von kollektiver Meinungsbildung gerecht zu werden. Entwickelt wurde er, um das Zusammenspiel von öffentlicher Meinung und Bürgermeinungen in konkreten Sachfragen zu analysieren.

Stimmabsichten sind weder stabil, noch entwickeln sie sich beliebig. Sie sind veränderlich, folgen dabei aer Gesetzmässigkeiten. Bei Abstimmungen kennt man verschiedene Effekte, die Veränderungen bewirken, recht gut:

1. Teilnahmeabstinenz: Unentschiedene oder Unschlüssige beteiligen sich nicht.
2. Meinungsaufbau: Unentschiedene bewegen sich am Schluss in beide Richtungen, nicht weil sie für etwas sind, aber weil sie gegen etwas sind.
3. Meinungsumschwung: Latent Entschiedene ändern ihre Meinung am Schluss in die umgekehrte Richtung.

So viel man darüber aus der Sicht der Theorie weiss, so gering sind die bisherigen empirischen Kenntnisse. Das macht es bisweilen schwierig, genau zu sagen, was nach einer Befragung geschieht. Trendbefragungen helfen, diese Unsicherheit zu verringern. Wo sie bleit, verzichten wir lieber darauf, mit wenig begründeten Faustregeln Extrapolationen von Umfragewerten zu machen, um Abstimmungsergebnisse zu prognostizieren.

Das hat für Medien und KonsumentInnen eine wichtige Konsequenz: Prognose müssen ausbleiben, vor allem dann, wenn die Dynamik der Meinungsbildung erst angefangen hat, in Veränderung begriffen ist, und wir nicht wissen, wo das alles endet. Wo man das im Griff hat, kann man Prognosen machen.

Von Umfragen sollte man nicht alles, aber auch nicht einfach nichts erwarten: Umfragen helfen, die Unsicherheiten vor einer Entscheidung einschränken, nicht aber die Realität, die kommen wird, vorweg zu nehmen.

Mein Dank an die Analysten-Konkurrenz

Noch schwankt “20 Minuten“, wenn es um Umfragen aus dem gfs.bern geht. Sohat die Redaktion nachgehakt. Bei der KollegeInnen-Konkurrenz. Was dabei herauskam, überrascht auch mich!

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Quelle: St. Galler Tagblatt

“Wer die Schweizer Politologieprofessoren nach der Glaubwürdigkeit von Claude Longchamp und seinen Studien fragt, kommt schnell zum Schluss: Claude Longchamp ist zwar keineswegs unumstritten. Die Fehler bei der Minarettabstimmung aber, so der Tenor der Experten, liege weniger an Longchamps Fähigkeiten, als dass es die Grenzen solcher Demoskopie-Prognosen aufzeige.

Michael Hermann, Sozialgeograf an der Uni Zürich, sagt: «Es ist einfach sehr schwierig, das Verhalten von Menschen vorauszusagen.» Georg Lutz, Professor für Poltikwissenschaft an der Uni Bern, meint: «Ich sage nicht, dass jemand besser Prognosen machen kann. Ich sage aber, dass man sich der Grenzen solcher Umfragen besser bewusst sein muss.»

Deshalb nehmen die Politikwissenschaftler auch die Medien in die Verantwortung. Besonders das Schweizer Fernsehen, welche die Untersuchungen bei Longchamp jeweils bestellt, muss Kritik einstecken. «Die SRG verkauft Longchamps Umfragen, die nur Bestandesaufnahmen sind, als Prognose», sagt die Politologin Regula Stämpfli.

Dies sei eine zeitlang gut gegangen, weil die Umfragen den Abstimmungsergebnissen mehr oder weniger entsprachen. «Jetzt rächt es sich, dass beim Fernsehen der Unterschied zwischen Umfrage und Prognose nie zum Thema gemacht wurde», meint Stämpfli.

Der Genfer Politologieprofessor Simon Hug vermutet, dass auch Longchamp damit nicht immer glücklich ist: «Ich habe das Gefühl, dass er oft gedrängt wird, mehr zu sagen, als er eigentlich kann.» Auch Hermann nimmt Longchamp in Schutz: «Er hat vor der Minarettabstimmung gewarnt, dass gerade diese Kampagne einen ungewöhnliche Dynamik habe.»

Die Medien hätten diesen Einwand aber kaum beachtet und lediglich die nackten Zahlen weitergegeben. Und weil Longchamp der einzige sei, der Prognosen abgebe, sei er auch der einzige, der Prügel beziehe, wenn sie daneben gingen.

Wirklichen Anlass zur Kritik gibt bei Claude Longchamp nur eine Sache: Die mangelnde Transparenz darüber, wie seine Umfrageergebnisse zustande kommen. Besonders dezidiert kommt die Kritik von den Universitätsprofessoren Simon Hug. Er meint: «Es ist fragwürdig, dass Longchamp seine Datenbasis und seine Methodik nicht veröffentlichen muss, obwohl die Umfragen von der SRG und damit mit öffentlichen Geldern finanziert werden.» In den USA und Frankreich würden Umfragedaten deshalb öffentlich gemacht.

Wenn die Daten offen lägen, würde man Longchamps Methodik nachvollziehen können, so Hug. «Es würde eine Debatte unter Politologen entstehen, dank der Fehler beseitigt und das System verbessert werden könnte.» Kann man der heute veröffentlichten Nachanalyse also trauen? «Ja», meint Regula Stämpfli: «Claude Longchamp bleibt ein solider Berufskollege, da man von ihm weiss, dass er aus Fehlern nicht nur viel lernt, sondern dann auch wirklich qualitativ Besseres herausbringt.»

Hierzu habe ich zwei Wünsche:

1. Eine Umfrage per se ist keine Prognose. Denn nur unter der Annahme, dass alle eine Meinung haben und diese nicht mehr ändern, wäre die Umfrage dem Ergebnis gleich. Doch stimmt die Annahme für keine einzigen der 53 untersuchten Abstimmungen für die SRG.
2. Abstimmungsumfragen sind nicht der letzte Stand der Dinge, weil die letzte vor eine Abstimmung 16-18 Tage vor dem letzten Abstimmungssonntag gemacht werden muss, um spätestens am 11. Tag vor der Abstimmung veröffentlich zu sein.

Zurecht wird im 20 min Artikel erwähnt, man stelle nur auf Zahlen ab, nicht auf Analysen und Interpretationen. Deshalb lege ich meine publizierten Untersuchungen immer offen. Sie steht just in time auf Internet abrufbar. In meinem letzten Blog bin ich bewusst auf solche Probleme eingegangen. Ansätze, Methoden und Vorgehenswesen sind in jedem Bericht beschrieben. Ich freue mich, wenn man sie inskünftig genauer liesst, kommentiert und mit Verbesserungen versieht.

Und noch etwas: Am meisten würde mich freuen, wen Journalisten aufhöhren würden, aus allem und jedem eine “todsichere Prognose” zu machen. Auch hierzu lohnt es sich, in meinem Bericht zur Minarett-Initiative nachzuschlagen.

Soziale Erwünschtheit in Umfragen zum Minarett-Verbot

Lange habe ich geschwiegen, was die SRG-Befragungen zur Minarett-Initiative beitrifft. Das war übrigens nicht der Fall, weil ich mich nicht äussern wollte, jedoch weil ich keine ungeprüften Aussagen in die Welt setzen wollte. Hier der Stand der Abklärungen.

Widerlegte Annahmen

Eine gfs-interne Untersuchung sowie eine externe eines unabhängigen Experten liegen zwischenzeitlich vor. Sie wurden weitgehend parallel erstellt, ohne dass ein direkter Gedankenaustausch stattfand. Sie vertiefen eine erste Analyse, die in der ersten Woche nach der Abstimmung gemacht worden war.

Die externe Evaluierung kommt zum Schluss, die Befragungen seien handwerklich korrekt und methodisch nach dem internationalen Standard erstellt worden. Beide Analysen widerlegen die Annahme, die Nutzer von nicht eingetragenen Handies seien für die ausgetretenen Probleme entscheidend. Dafür spricht vor allem, dass die gleiche Umfrage in den beiden anderen Vorlagen zu Ergebnissen vom 29. November mit der üblichen Genauigkeit führt.

Soziale Erwünschtheit ganz allgemein
Vielmehr legen beide Abklärungen das Hauptaugenmerk auf das Phänomen der sozialen Erwünschtheit. Damit bezeichnet man Verzerrung in Umfrage-Ergebnissen nicht-statistischer Art. Sie treten auf, weil Antworten, die normativ konform sind, anziehender wirke werden als umgekehrte.

Wäre die letzte Umfrage zur Minarett-Initiative am Freitag vor der Volksabstimmung gemacht resp. am Samstag davor publiziert worden, und wären die Mehrheiten gegensätzlich gewesen, würde man zurecht von Lügen in Umfragen sprechen.

Diese Uebersetzung von sozialer Erwünschtheit ist jedoch irreführend. Die letzte Befragung war am Abstimmungstag rund 18 Tage alt. Das lässt genügend Spielraum für spätere definitive Entscheidungen offen, die zu relevanten Verschiebungen in den Ja- und Nein-Anteilen führen. Auch die letzte Umfrage ist keine Prognose, sondern eine Momentaufnahme.

Soziale Erwünschtheit bei Entscheidungsambivalenz
Soziale Erwünschtheit in Abstimmungsbefragungen tritt dann auf, wenn während der Meinungsbildung erhebliche Ambivalenz vorliegt, die scih erst mit der verbindlichen Entscheidung zugunsten einer eindeutigen Stellungnahme aufgelöst wird.

Konkret: Ein Sympathisant der FDP weiss, dass seine Partei gegen die Initiative ist. Doch lassen ihn seine Alltagserfahrungen zweifeln, die Vorlage abzulehnen. Mit Muslimen verbinden ihn am Wohnort oder in den Medien nicht nur gute Erfahrungen. Dieses Gefühl hat in den letzten Jahren sogar zugenommen, und es ist seither der Nährboden, dass man auf Parolen gegen die Islamisierung der Schweiz anspricht – selbst wenn man bedenken hat, dass es zur wirtschaftlichen oder politischer Gegenmassnahmen bei einer Initiative-Annahme kommt.

In der Umfrage sagt diese Person, sie sei unentschieden, lässt aber bei den Argumenten erkennen, sie könnte zustimmen.

Soziale Erwünschtheit unter Kooperationsbereitschaft bei Interviews

Soziale Erwünschtheit kann auch aus einem anderen Grund zu Antwortverzerrungen führen. Vor allem dann, wenn der eigene Standpunkt in Abweichung zur Mehrheitsmeinung in der Politik gesehen wird, kann man versucht sein, ein Interview zu verweigern. Das wiederum führt zu unterschätzten Anteilen in der ausgewiesenen Zustimmung in der Umfrage, während die ausgewiesene Nein-Anteile zu hoch sind.

Auch hier ein Beispiel: Eine Frau, die wenig politisch ist, nicht immer an Abstimmungen teilnimmt, bei der Minarett-Abstimmung aber mit Ja stimmen will, getraut sich weniger schnell, ein Interview zu gewähren, als ein hochpolitischer Parteigänger, der auf der Nein-Seite steht.

Stand der Dinge
So hoch die Uebereinstimmung beider Evaluierungen in der Diagnose der Minarett-Befragungen ist, so schwer fällt es allen zu sagen, wie stark die benannten Effekte sind. Das hat mit den nur ansatzweise entwickelten Methoden zu tun, soziale Erwünschtheit empirisch messen zu können. Sicher ist vorerst nur, dass der erste der beiden Effekte wichtiger ist als der zweite.

Sicher ist auch, dass das ein seltener Fall ist, weshalb wir von einem durch das Thema bedingten Spezialfall sprechen, der aber bei diesem thema recht systematisch aufkommt, und zwar bei den Vor- wie bei den Nachbefragungen.

Der Mechanismus hysterischer Treibjagden

Bemerkenswert offen beschreibt Kolumnist Kurt W. Zimmermann in der heutigen Weltwoche wie das Schema des Thesenjournalismuses funktioniert.

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Top-Journalist Zimmermann zum Thesenjournalismus: Umkehr von Recherche und Schlussfolgerung.

Definiert wird der Thesenjournalismus durch die Umkehrung von Recherche und Konklusion, schreibt der ehemalige Chefredaktor der Sonntagszeitung. Im Normalfall sammelt ein Journalist Informationen, um sich eine Meinung zu bilden. Im Thesenjournalismus bildet er sich eine Meinung und sammelt er Informationen, welche die These stützen resp. lässt alles weg, was der Thesen schadet.

Daraus leitet Zimmermann sechs Phasen der medialen Vorgehensweise des Thesenjournalismus bei seinen Treibjagden auf. Sie lauten:

Skandalisierung: Ein bestimmtes Ereignis wird von Beginn weg in einen Kette von Widerholungen gestellt, um die Tonlage vorzugeben.

Personalisierung: Alles Schlechte wird von einem Monster verursacht dargestellt, auf den sich die Aufmerksamkeit in der Folge konzentriert.

Kampagne: Aktiv gesucht werden Informanten. Zitiert wird, wer ins Schema passt. Wer das nicht unterstützt, fällt ausser Betracht.

Rücktritt: Der Rücktritt des Monsters wird gefordert, von wem auch immer. Mögliche Nachfolger, die ins Gespräch gebracht werden, sollen die Position des Monsters weiter destabilisieren.

Eskalation: Wenn das Monster nicht geht, werden seine Vorgesetzten unter Druck gesetzt. Sie sollen im gewünschten Sinne handeln, um nicht selber in den Strudel von Vorwürfen gerissen zu werden.

Schmutz: Schlammschlachten sollen die Angegriffen diskredieren, bis sie selber das Handtuch werfen.

Die Grundfragen, um die es geht, werden während allen sechs Phasen bewusst nicht gestellt, schreibt der Medienprofi. Damit kommt die eigentliche Diskussion nicht voran, die Scheindiskussion hebt aber umso schöner ab.

Natürlich legt Kurt W. Zimmermann das offen, um den Angriff auf Post-Verwaltungsrats-Präsident Claude Béglé zu analysieren. Das sei eine “hysterische Treibjagd” schreibt die Weltwoche dazu. Doch das ist gar nicht der Punkt, weil das Verfahren auf x andere Vorgänge ähnlicher Art angewendet werden kann. Wo auch immer. Und gegen wen auch immer.

An der Grenze der Bi-Polarisierung angelangt

12 Parlamente hat der Kanton Zürich auf Stadtebene. Die Ergebnisse können als Indikator für die Entwicklung der Parteistärken im urbanen Raum gesehen werden. Demnach war 2002 das Jahr der Bi-Polarisierung zwischen SVP und SP, während seither Trends zur Neuformierung der Mitte vorherrschen.

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Konsequente Verliererin der beiden letzten kommunalwahlen war die FDP. Sie verlor 2002 und 2006 Sitzanteile, kam das letzte Mal noch auf knapp 15 Prozent. Regelmässig zulegen konnte die politische Mitte. Die CVP (knapp 10%), die GP und die EVP (je zirka 7 %). Schwankende Ergebnisse kannten SP und SVP.

Die Bi-Polarisierung der Zürcher Parteienlandschaft kannte 2002 ihren Höhepunkt. Die SVP überflügelte die SP, obwohl beide Parteien gewannen. 2006 gehörten sie mehrheitlich zu den Verliererinnen, bleiben aber mit je rund 26 Prozent an der Spitze.

Letzteres hat sich auf dei Erfolge der Parteilosen abgefärbt. 2002 war gar nicht ihr Jahr. 2006 legten sie indessen bereits wieder zu. Jede(r) 11. ParlamentarierInnen gehört aktuell hierzu.

Die Uebersicht, vermittelt vom Statistischen Amt des Kantons Zürich, gibt die Trends der unmittelbaren Vergangenheit in den urbanen Regionen wieder. Zwar werden sie nicht nach Bevölkerungsgrösse der Städte gewichtet, nur nach Parlamentsgrösse. Deshalb sind die Werte selber mit Vorsicht zu verwenden. Die Tendenzen dürften davon nicht direkt betroffen sein.

Politisch gesprochen heisst das, die Grosswetterlage von der Polarisierung aus den 90er Jahren hin zur Formierung der Mitte verändert hat. Das könnte sich mit dem Auftritt insbesondere der Grünliberalen bei den diesjährigen Wahlen noch verdeutlichen. Denn politische sind sie wohl leicht links der Mitte, faktisch aber dem Zentrum zuzuordnen.

Oder sieht jemand noch neuere Trends aufkommen, die in Zürich Marken auf dem Weg bis 2011 setzen könnten?

Die Prognose zu den Berner Grossratswahlen

Hans Hirter, Politologe an der Universität Bern, wagt eine Prognose zu den Berner Grossratswahlen. Die FDP sieht er als grosse Verliererin. Rückläufige Tendenzen gegenüber 2006 ortet er auch bei der SVP und der SP. Die BDP und die Grünliberalen betrachtet er als GewinnerInnen.

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Hans Hirter ist ein erfahrener Polit-Fuchs. Seit einem Vierteljahrhundert analysiert und kommentiert er die nationale Politik. Seit 1986 ist auch bei den Berner Grossratswahlen dabei, wenn es gilt, im Voraus oder im Nachhinein die Parteien zu beurteilen.

Von der heutigen “Berner Zeitung” auf die kommenden Grossratswahlen im Kanton Bern angesprochen, sieht der Politologe vor allem für die FDP schwarz. 10 bis 12 Prozent sei sie nach den Wahlen vom 28. März 2010 noch wert – ganz im Gegensatz zu den bisherigen 16 Prozent. Die BDP kommt nach seinen Schätzung sicher auf 7 Prozent, eventuell gar auf 11. Die Grünliberalen hält er kantonal für 3 bis 4 Prozent gut.

Paradox dürfte das Resultate der SVP ausfallen, folgt man Hirters Ueberlegungen. Gegenüber dem aktuellen Stand wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach Sitze hinzugewinnen. Doch gegenüber 2006 rechnet er mit einem WählerInnen-Verlust von 3 bis 4 Prozent. Der vermeintliche Widerspruch rührt daher, dass sich die BDP erst nach den letzten Grossratswahlen von der SVP getrennt hat und der SVP 17 Mandate, aber keine Wählenden gekostet hat. Kommt die BDP auf 7 Prozent, verliert sie wohl Sitze, während sie bei 11 Prozent Anteil ihre Mandatszahl wohl halten könnte.

Bei der SP rechnet Hirter mit 2 bsi 3 Prozent Rückgang im WählerInnen-Anteil. Bis zu 1 Prozent könnte der bei der EVP betragen, während sich die Grünen gemäss Politologen-Urteil halten dürfte. Keine Aussage macht der Augur über die EDU und die CVP.

Die offensichtliche Dynamik geht nach Hirter von den beiden zentrumsnahen Parteien BDP udn GLP aus. Sie werden das gemässigt bürgerliche Lager neu aufmischen und WechselwählerInnen anziehen. Das wird der FDP am meisten zu schaffen, machen aber auch der SVP, der SP und vielleicht gar der EVP, sagt der Analytiker. Insgesamt geht er aber nicht von einer grundlegenden Verschiebung der Kräfteverhältnisse aus. Mitte-Rechts wird seiner Ansicht nach im neuen Grossen Rat wieder die Mehrheit haben, bei Allianzen der Kleinparteien mit RotGrün kann aber auch dieses thematisch oben aus schwingen.

Johannes Matyassy, Präsident der Berner FDP, unterstellt, Hirter übertrage da ganz einfach nationalen Trends auf den Kanton. Hirter indessen widerspricht. Er hat die kommunalen Wahlgänge der jüngsten Zeit im Kanton Bern analysiert und so seine Prognose erstellt.

PS:
Die Vorhersage stimmte überwiegend, aber nicht ganz. So verloren auch die Grünen WählerInnen, die BDP legte viel mehr zu, und der Anteil der SP verringerte sich stärker. Grundsätzlich richtig eingeschätzt wurden die GLP, die FDP und die SVP. Damit gilt, dass die Verluste von Rotgrün, unter anderen an die BDP in der frühen Prognose noch unterschätzt wurden.

Wählen mit 16 – eine wissenschaftliche Bilanz der österreichischen Erfahrungen

2007 führte Oesterreich bundesweit das Wahlrechtsalter 16 ein. Die Vorverlegung der Nationalratswahlen 2010 auf 2008 verlieh der Neuerung besondere Dynamik, kamen die jungen BürgerInnen ziemlich unvorbereitet zu ihrem europäischen Privileg. Eine Evaluierung hält nun Stärken und Schwächen der Aktion fest.


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Die Nachwahlanalyse “Wählen mit 16”, von Ulrike Kozeluh im Herbst 2008 realisiert, liegt zwischenzeitlichen in einer handlichen Fassung von Flooh Perlot und Martina Zandonella kommentiert vor. Sie lässt zwei Schlüsse zum grossen Thema “Jugend und Politik” zeichnen sich ab: Das Interesse von Jugend und Politik wird von den ForscherInnen auf der generellen Ebene bejaht, aber doppelt differenziert:

Erstens, Jugendliche ab 16 Jahren sind keine einheitliche Gruppe. Sie müssen in SchülerInnen und Erwerbstätige unterteilt werden. Denn das entscheidet über das politische Interesse, den Informationsstand und die Einstellungen. Insbesondere zeigen Jugendliche, die arbeiten, eine grössere Distanz zur Politik, dafür eine grössere Nähe zu autoritären Denkmustern. In Zuwanderungs- und Islamfragen reagieren sie auffällig geschlossener als Gleichaltrige, die noch zur Schule gehen.

Zweitens, Politik per se gibt es nicht. Sie muss in die Bereiche der Parteienpolitik und Gesellschaftspolitik differenziert werden. Ersteres ist bei Jugendlichen insgesamt schlecht angeschrieben, stösst auf Skepsis und mobilisiert Klischees. Medial vermittelt, verringern sie die Bereitschaft, sich politisch engagieren zu wollen nicht, lassen aber Parteien und Wahlen als Plattform hier als unattraktiv erscheinen.

Ausweichend könnte man sagen, die Ergebnisse seien durch die Umstände der Einführung des Wahlrechtsalters 16 mitbeeinflusst. Die AutorInnen erwähnen das zwar in der Einleitung, in den Schlussfolgerungen sind sie aber deutlicher, werfen sie doch Fragen auf wie Politik ausserhalb der Schule kognitiv und emotional adäquat vermittelt werden kann. Denn die Jugendlichen, die 2008 erstmals politisch mitbestimmen konnten, melden selber gewisse Zweifel zu ihrer politischen Reife an.

Mit Blick auf die Schweiz heisst das, dass Entscheidungen zur Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters wie im Kanton Glarus beschlossen pädagogisch begleitet werden sollten. Abgeschwächt, richtungsmässig aber gleich gilt dies aber für jede Erwartung, dass sich junge Menschen in die Politik einmischen sollten.

Schade, dass die Austria-Studie den Komplex der politischen Sozialisierung via Internet weitgehend ausklammerte. Eine analoge Untersuchung in der Schweiz müsste wohl genau da beginnen!

Quelle: F. Perlot, M. Zandonella: “Wählen mit 16 – Jugendliche und Politik in Oesterreich”, in SWS-Rundschau, 4 / 49 (2009)

Piratenpartei kandidiert bei den Berner Wahlen erstmals für ein Kantonsparlament

“Der Wahlkampf im Kanton Bern ist eröffnet! Wir haben Listen in den Wahlkreisen Bern, Mittelland Nord und Süd, Biel-Seeland, Thun und Berner Jura. Wir suchen Piraten, welche im Kanton Bern wohnen, dort Wahlrecht haben und auf eine Liste möchten. Natürlich sind wir auch allgemein über jede Hilfe dankbar.”

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Kandidierendenrekord bei den Berner Grossratswahlen 2010: erstmals ist auch eine Liste der Piratenpartei dabei (Quelle: Der Bund)

Diesen Aufruf stellten die Berner Piraten jüngst ins Netz. Damit kommt es in der Schweiz in Bern erstmals zu einer kantonalen Parlamentswahl mit Beteiligung der Piratenpartei.

Entstanden ist die Piratenpartei 2006 in Schweden, als die Polizei den Server der Internettauschbörse «Pirate Bay» beschlagnahmte und gegen die Betreiber ein gerichtliches Verfahren einleitete. Die Wirkung war unerwartet: Statt eingeschüchtert zu reagieren, entstand eine Bewegung unter Internet-NutzerInnen. Zwischenzeitlich haben die Piraten Ableger in mindestens 15 meist europäischen Ländern.

Bei den Europawahlen im Sommer 2009 eroberte die Piratenpartei in Schweden 7 Prozent der Stimmen und ein Mandat in Strasbourg. In Deutschland kamen sie auf 2 Prozent, scheiterten aber an der 5 Prozent Hürde. Die Parteigründung in der Schweiz ist eine unmittelbare Auswirkung der deutschen Wahlen im Herbst 2009. Erster Parteipräsident ist der Berner Informatikstudent Denis Simonet.

Erste Analysen in Deutschland zeichneten schon mal ein Profil der denkbaren Wählerschaft: Ansgar Wohlsing, der das Phänomen für die Uni Mannheim untersuchte, sieht die jungen, männlichen Wähler, die sich vor allem und eifrig über das Internet über Politik informieren als Kern. In dieser Zielgruppe erreichten die deutschen Piraten 2 von 5 Personen. Schwer hat es die Partei dagegen bei Frauen und bei über 40-jährigen. Im deutschen Koordinatensystem ergaben sich thematische Nähen vor allem zu den Grünen, beschränkt auch die FDP und SPD, kaum aber zur CDU/CSU.

Nach eigenen Angaben hat die Piratenpartei Schweiz heute gut 600 vereinsrechtlich eingetragene Mitglieder. 6 mal mehr sind es in der entsprechenden Facebook-Gruppe. Das Programm ist erst im Entstehen begriffen. Es zirkelt um das Potenziel von Internet, das Freiheit und Demokratie beleben soll. Hoch im Kurs stehen Transparenz im Staat, Förderung von Open-Access-Software und Bildung ohne Einschränkungen. Im Links/Rechts-Spektrum will man sich nicht so genau verorten, um keine potenziellen AnhängerInnen, Mitglieder oder KandidatInnen zu verscheuchen.

Die NZZ von morgen nimmt das parteipolitisch schwer fassbare, individual-liberale Phänomen jedenfalls erst; unter dem Titel Angriff der Internetgeneration schreibt sie: “Noch fehlt es der politischen Botschaft an Intensität und der Bewegung an Kraft. Dass sich die Piraten bis anhin vor allem monothematisch profilieren, sollte indessen nicht zu voreiligen Schlüssen verführen: Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Einthemenpartei die politische Landschaft ins Rutschen bringt.”

Polikwissenschaftliche Institute in der Schweiz im Publikationsvergleich

Erstmals wurde eine Studie über die publizistische Produktivität der 52 politikwissenschaftlichen ProfessorInnen in der Schweiz erstellt. Sie macht Karriereverläufe anhand von transparenter und lässt Profile der Institute erkennen, in denen sie heute arbeiten.

Thomas Bernauer, einer der beiden Studienleiter, verschwieg die Ursache der Studie nicht: Immer häufiger werde bei der Vergabe finanzieller Mittel an Personen und Institute auf Instrumente wie Publikationen in Journals oder auf dem Web abgestellt. Um eine solche Bewertung von aussen zu vermeiden, habe sich die Schweizerische Vereinigung für Politische Wissenschaften entschieden, selber eine Bibliometrie der Schweizer Politikwissenschaft zu erstellen.

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“Institutsvergleiche” in der Schweizer Politikwissenschaft hinsichtlich Publikationen und Zitierungen in Fachzeitschriften, Boxplot, sortiert nach Medianwerten. Ein(e) ProfessorIn in der Schweiz hat demnach im Schnitt 6 international registrierte Publikationen und 55 Zitierungen auf Google Scholar.

Wissenschaftlich gesehen interessierte die Frage, wann ein Professor oder eine Professorin hinsichtlich Publikationen den Karrierehöhepunkt erreicht. “15 bis 20 Jahre nach der Doktorarbeit” lautet die Antwort. Wer es innert 5 bis 10 Jahre zu einer Professur bringe, brauche noch eine Etablierungsphase, um mittels Veröffentlichungen in Journals und mit Büchern selber breit genug präsent zu sein und von KollegInnen hinreichend verwendet und empfohlen zu werden. Internetpräsenz ist neuerdings davon nicht unabhängig, entwickelt sich vielmehr parallel dazu.

Bei der Präsentation im Rahmen des Jahreskongresses interessierte vor allem der Vergleich der Institute untereinander. Führend sind (in alphabethischer Reiehenfolge) die Institute der Universitäten Bern, Luzern und Zürich gemeinsam mit der ETH in Zürich. Es folgen Genf (Uni und IHEID) und St. Gallen, während die Politikwissenschaft in Lausanne (Uni und IDHEAP) am wenigsten präsent ist. Zum Teil lässt sich das mit einer stärkeren Ausrichtung auf Lehre und angewandte Forschung begründen.

Die Diskussion der neuartigen Studie am Jahreskongress der PolitologInnen-Vereinigung konzentrierte sich zuerst auf methodische Eigenheiten. Bemängelt wurde, dass Selbstzitierungen und Co-Autorenschaften gleich wie Fremdzitierungen von Einzelbeiträge gezählt wurden; eine anerkannte Lösungen des Problems zeichnete sich nach Fabrizio Gilardi, dem zweiten Autor, nicht ab. Eine Präzisierung war hart: Da die Publikationsbiografien von Individuen untersucht wurden, sind die Vergleiche keine Aussage über den Output politikwissenschaftlicher Institutionen, sondern der in ihnen tätigen WissenschafterInnen, – egal, wann sie ihren Publikationspeak hatten.

Sichtbar werden dank der Studie Unterschiede in der Nachwuchsförderung: Die Hälfte der 28 qualifizierten, universitären ForscherInnen ohne Professur sind in Zürich an der Uni oder an der ETH tätig. Die Konzentration wirkt sich offensichtlich auf die Produktivität aus, denn diese ist auf dem Platz Zürich doppelt so hoch wie in der übrigen Schweiz.

Da bibliometrische Platzierungen in den kommenden Generationen üblicher sein werden, ist damit zu rechnen, dass die kommenden Professoren schwergewichtig aus Zürich kommen werden, und sich die Scheu, verglichen zu werden, damit auch abnehmen wird.

Quelle: Th. Bernauer, F. Gilardi: Publication Output of Swiss Political Science Departments, SVPW (noch unveröffentlicht)

Wer führt Kampagnen: politische Akteure oder Massenmedien?

Gute politische Akteure bereiten Kampagnen mediengeeignet vor, sodass sie in zentralen Argumentationsfelder Erfolg haben und von der Gegenseite aufgenommen werden müssen. Das ist die wichtigste Beobachtung der Politikwissenschafterin Regula Hänggli in ihre Studie, die sie heute in Genf vorgestellt hat.

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Zu den interessanten Präsentationen, die ich in der Arbeitsgruppe “Comportement politique” an der diesjährigen Veranstaltung der Schweizerischen Vereinigung für politische Wissenschaft (SVPW) erfahren habe, gehört die von Regula Hänggli. Die junge Forscherin an der Universität Zürich beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen politischen Akteuren und Massenmedien. Vor allem interessiert sie sich für die Frage, was das mediale frame building beeinflusst. Vereinfacht ausgedrückt untersuchte sie dafür die Entstehung und Veränderung von Argumentationstypen in Schweizer Abstimmungskämpfen. Drei Kampagnen dienten ihre als Ausgangsbasis.

Vier Faktoren des Framebuildings konnte Hänggli identifizieren:

erstens den politischen Akteur, der in einer Kampagne den Lead einnimmt,
zweitens dessen Kampagnenmacht,
drittens die Häufigkeit des Inputs von Frames und
viertens den Multiplikatoreffekt durch die Kommunikation.

Die Forscherin widerspricht Vorstellungen, wonach die Medien heute eine hohe Eigenleistung in der Bildung von Argumentationsstrategie erbringen. Im Wesentlichen dominiert nicht ihre Logik, sondern die der Politik. Jedenfalls in der Schweiz scheint die Aufgabe von Kampagnenakteuren akzeptiert zu sein. Hänggli konnte aber zeigen, dass die Medien deren Absichten filtern und abschwächen, – mit zwei Ausnahmen: Missbräuche und Massenphänomene sind mediale Stereotype die noch häufiger zur Sprache gebracht werden, als dies Akteure tun.

Den wichtigsten Multiplikatoreffekt in Kampangen haben Bundesräte. Themen, die sie in der Oeffentlichkeit einnehmen, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, flächendeckend verbreitet zu werden. Das gilt selbst oder gerade dann, wenn BundesrätInnen nur wenige Male in einer Kampagne äussern.

In der Vorbereitung von Kampagnen mit Blick auf ihre Medieneignung sind wenige Akteure von Belang. Sie sind wirkungsvoll, wenn sie sich durch Kampagnenmächtigkeit auszeichnen, das heisst durch langfristige Beziehungen und Formung von Botachaften das geeignete Medienframing und -placeing betreiben.

Die Studie war vorbildlich eingeschränkt, und kommt zu brauchbaren Schlüssen. Vielleicht könnte man sagen, wäre die Analyse für eine Medienwissenschafterin ok, für eine Politikwissenschafterin noch etwas abgekürzt. Denn diese Disziplin interessiert sich in der Regel für die Kampagnen vor allem mit Blick auf die Entscheidungen, die am Ende eines Abstimmungskampfes gefällt wird. Ueberraschend thematisierte die Forscherin das indessen nicht, oder vielleicht noch nicht.

Eine Beobachtung von Hänggli ist mir besonders hängen geblieben: Sie geht davon aus, dass es in Kampagnen nur wenige klar unterscheidbare Frames gibt, die eine der beiden Seiten mit solcher Eindeutigkeit definiert, dass die Gegenseite nicht immer, aber immer wieder reagieren muss. Das spricht für eine bschränkt dialogische Struktur von Kampagnen – anders als es theoretische Arbeiten postulieren. Denn sie empfehlen nicht selten, sich nie auf die Felder der anderen Seite einzulassen. Ganz offensichtlich findet in der Realität aber genau das Gegenteil statt.