In Deutschland scheint wieder Vieles möglich

Wer glaubte, die deutschen Bundestagswahlen vom 27. September 2009 seien schon gelaufen, wurde mit den heutigen Landtagswahlen in drei Bundesländern eines Besseren belehrt. Es scheint wieder Vieles möglich zu sein.

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Quelle: Der Standard

51 oder 50 Prozent geben gegenwärtig alle Umfrageinstitute einer Koalition von CDU/DSU mit der FDP. Das sind 4 bis 6 Punkte Vorsprung auf das versammelte linke Lager, das noch nirgends gemeinsam regiert.

Vier Wochen vor der Bundestagswahlen könnte das nun anders werden. Das jedenfalls ist die Botschaft der Wahlergebnisse in drei Bundesländern.

Im Saarland wurde die allein regierende CDU regelrecht abgestraft. Der Wähleranteilsverlust in zweistelliger Höhe fiel so deutlich aus, dass es nicht einmal für eine Koalition mit der FDP reicht. Wahrscheinlich wird in diesem Bundesland erstmals eine rot-rot-grüne Regierung unter Führung der SPD.

In Thüringen präsentiert sich die Situation am Waglabend komplizierter. Auch hier kann sich die CDU mit der FDP nicht retten, doch bleibt ihr die Möglichkeit, wie im Bund mit der SPD zu koalieren. Das verschaft der linken Regierungspartei eine besondere Ausgangslage, reicht es doch auch in diesem Bundesland für eine Regierung aus den beiden roten Parteien. Allerdings muss ein solches Bündnis den Führungsanspruch zwischen der Linken und der SPD klären, wobei die Linke wählerstärker ist, ohne die SPD aber aussichtslos da steht, sodass man heute nicht mit Bestimmtheit sagen kann, was aus der Wahl wird.

Zufrieden sein können die bürgerlichen Kräfte in Dutschland nur mit dem Wahlergebnis in Sachsen. Denn da wird die bestehende schwarz-rote Koalition einer schwarz-gelben weichen. Beide Parteien verfügen zusammen über eine parlamentarische Mehrheit, genau so wie man sich in diesen reihen den Politikwechsel nach der kommenden Bundestagswahl vorstellt.

Unter dem Strich gesehen ist mit dem heutigen Tag aber wieder einiges offen: Die CDU/CSU von Kanzlerin Angela Merkel schwächelt mitten im Wahlkampf flächendeckend, die FDP strahlt, zieht aber auch dem möglichen Partner WählerInnen ab, die Grünen wachsen im Osten über sich hinaus, die SPD hält sich, womit ihre koalitionsoptionen zunehmen, und die Linke verhindert, dass einfache Rechenspiele für Lagerwahlkämpfe gemacht werden können.

So steigt die Spannung, was der 27. September 2009 bringt: die vielerorts erwartete schwarz-gelbe Regierungsmehrheit oder eine für unmöglich gehaltene rot-rot-grüne Wende. Und wenn beides nicht geht, stehen Ampel aus SPD, Grünen und FDP sowie ein Fortsetzung der bisherigen grossen Koalition aus CDU/CSU und SPD zur Debatte.

Claude Longchamp

Wenn man schon weiss, wie die Wahl ausgeht …

Während im deutschen Wahlkampf CDU/CSU und FDP immer deutlicher eigene Wege gehen, weiss Politologie-Professor Gschwend bereits, dass eine Koalition beider Parteien bei der kommenden Bundestagswahl einen Stimmenanteil von 52,9 Prozent bekommen und damit eine Mehrheit hinter sich haben wird.

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Zusammen mit Helmut Norpoth hat Thomas Gschwend ein Prognosemodell für deutsche Bundestagswahlen entwickelt, das sich bisher recht gut gehalten hat. Es basiert auf einer Regressionsrechnung, die möglichst wenige Faktoren hat, die, gewichtet, bei zurückliegenden Wahlen das Ergebnis so präzise wie möglich “nachhergesagt” haben.

Das statistisch ermittelte Modell lautet:

Prognose für Schwarz-Gelb =

– 1,53*(AMT=Abnützungseffekt anhand der Zahl der Amtsperioden der Regierung)
+ 0,75*(PAR=Mittel der Parteistimmenanteile in den letzten drei Bundestagswahlen)
+ 0,38*(KAN=Kanzlerunterstützung unter Ausschluss von Unentschlossenen)
-5,6 %.

Im deutschen Regierungssystem ist demnach die Dauer der bisherigen Regierungskoalition, der Mittelfrist-Effekt, der wichtigste Prädiktor. Das spricht nicht gegen CDU/CSU, die erste eine Legislatur am Stück regiert, aber gegen die SPD. Es folgt mit den zurückliegenden Parteistärken der langfristige Präditor. Das gibt Schwarz-Gelb einen soliden Sockel. Das kurzfristige Moment, die Kanzlerpopularität, ist zwar am unwichtigsten, favorisiert aber Merkel eindeutig.

In die obige Formel eingesetzt, ergibt das eine Prognose von 52,9 Prozent an Zweitstimmen für Schwarz-Gelb am 27. September 2009, – oder die nötige Mehrheit für die Regierungsbildung durch die CDU/CSU ohne SPD.

Die Prüfung der Prognose steht selbstredend noch aus. Doch das ist der Vorteil solcher Modelle: Wenn das Ergebnis nicht mit der Prognose übereinstimmt, müssen nur die Parameter spezifiziert werden!

Claude Longchamp

Mehr zur Erläuterung unter:
ARD

Mehr zum Vorgehen unter:
Norpoth, Helmut, und Thomas Gschwend. 2005. “Mit Rot-Grün ins Schwarze getroffen: Prognosemodell besteht Feuertaufe”, in: Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2002, Jürgen W. Falter, Oscar W. Gabriel und Bernhard Wessels (Hg.), Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 371-387.

Neue Staatsleitungsreform zur richtigen Zeit jedoch mit falschem Vorbild

Die Schweizer Oeffentlichkeit schaut gebannt auf die präsidial angekündigte, aber ausstehende Rückkehr der Geiseln aus Libyen. Derweil fand im Bundesrat eine Grundsatzdebatte über eine Neuauflage der Staatsleitungsreform statt.

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Vorwärts in die Vergangenheit: Der Bundesrat lässt prüfen, die Führung des EDA an das Bundespräsidium zu knüpfen, wie das 1848 schon einmal der Fall war.

Die Vorgeschichte ist bekannt. Als zur Jahrtausendwende die neue Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft in Kraft gesetzt wurde, beerdigte man die parallel dazu angestrebte Staatleitungsreform.

Auf Initiative von Evelyne Widmer Schlumpf diskutierte der Bundesrat an diesem Mittwoch eine kleine Neuauflage eben dieser Reform. Ihr Departement, das EJPD, wurde beauftragt, bis in einem halben Jahr Vorschläge zu folgenden Punkten zu konkretisieren: häufigere Grundsatzdebatten und Aussprachen zu wichtigen Themen, eine flexiblere Gestaltung der Bundesratssitzungen, vermehrte schriftliche Beschlüsse bei Geschäften ohne Diskussionsbedarf und die Vertretung der Bundesräte im parlamentarischen Geschäftsverkehr.

Das alles kann auf der bestehenden Verfassungs- und Gesetzesgrundlage erreicht werden. Ausdrücklich anders ist die Ausgangslage bei der ebenfalls angestrebten Stärkung des Gremiums durch einen Bundespräsidenten oder eine Bundespräsidentin mit längerer Amtsdauer. Denn diese wird durch die geltende Verfassung auf jeweils ein Jahr beschränkt.

Ohne Zweifel handelt es sich dabei um die wichtigste institutionelle Aenderung, welche der Bundesrat in eigener Sache vorschlägt. Namentlich nimmt sie den weit verbreiteten Ruf auf, die Führung des Bundesrates als Gremium zu verbessern. Das alleine verdient angesichts des aktuellen Zustandes Unterstützung.

Weniger gut in der Landschaft platziert sich allerdings der Zusatz, auf den ältestens Ladenhüter unter den Bundesinstitutionen zurückgreifen zu wollen. Die Koppelung des Bundespräsidiums an die Führung der Geschäfte im Aussendepartement galt schon 1848, wurde aber als erste Massnahme zu Verbesserung der Exekutivarbeit schon im 19. Jahrhundert abgeschafft.

Ausgerechnet das will der jetzige Bundesrat wieder ausarbeiten lassen. Und das in einem Moment, wo wir alle mit bassem Erstauen erleben, wie unsere Regierung (nicht) funktioniert, wenn der Bundespräsident Aussenpolitik mit der eigenen Faust betreibt.

Claude Longchamp

Propaganda ohne Grenzen

Wenn es um politische Werbung geht, kennt die SVP keine Grenzen. Weder inhaltliche, noch räumliche. Ihre Agentur GOAL krempelt im Moment für die FPOe im Vorarlberg die Politlandschaft um.

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Alexander Segert, gebürtiger Hamburger, heute 45, Geschäftsführer der Zürcher Agentur GOAL, kennt nur eine Devise: “KISS – Keep it simple and stupid”. Denn sonst ist politische Werbung nicht eingängig, wie er der sonst eher biederen schweizerischen Oeffentlichkeit mit schwarzen Schafen, hinterhältigen Raben, roten Ratten und den gerupften Hühnern seit Jahren mit erheblicher Multiplikatorwirkung vorführt.

Jetzt wendet Segert seine Methode für die FPOe im benachbarten Vorarlberg an. “Schluss mit falscher Toleranz”, lässt er auf Plakaten klagen und zielt auf die wachsende Präsenz von Muslimen im westlichsten Bundesland Oesterreichs: Deutsch sei für Koranlehrer Pflicht, türkische Dolmetscher dürfe es nicht geben, und auf Minarette sei zu verpflichten, sind seine Themen. Die Bildsprache ist allerdings zahmer als in der Schweiz. Nationale Gefühle der OesterreicherInnen sollen mit der Flagge geweckt werden, die am untern Bildrand unterzugehen droht.

“Wer provoziert, gewinnt, wenn schon nicht die Wahlen, so doch die Oeffentlichkeit”, kommentierte dieser Tage der Wiener “Standard“. “Alles tipptopp”, bilanziert Segert im Zürcher Tages-Anzeiger seine Kampagne. Denn die erwartete Wirkung blieb nicht aus: Hanno Loewy, Leiter des jüdischen Museums in Hohenems bat die FPOe um eine Erklärung, wer heute als “nicht heimisch” gelte. Deren Spitzenkandidat, Dieter Egger, gab in einer Rede zurück: “Exil-Juden aus Amerika in hoch subventionierten Museen” sollten sich nicht in inner-österreichische Angelegenheiten einmischen. Womit er sich den ebenso scharfen Antisemitismus-Vorwurf vom bisherigen Koalitionspartner OeVP einhandelte: “Das ist eine Grenzüberschreitung, die wir nicht legitimieren wollen”, meinte ihr Obmann Herbert Sausgruber.

Durch solche Provokationen bekommt der Wahlkampf der FPOe die gewünschte Fahrt. In- und ausländische Medien berichten meist skandalisiert, sodass in der Provinz das Wir-Gefühl jener gestärkt wird, die sich ganz allgemein übergangen fühlen. Genau das ist die tiefere Absicht der Wahlwerbung von GOAL, denn nachweislich mobilisiert dieses Vorgehen vor Wahlen unschlüssige ProtestwählerInnen, während die Botschaften der anderen Parteien medial verblassen.

Eben: Propaganda ohne Grenzen …

Claude Longchamp

Der Wunschkandidat der parteiübergreifenden Linken

Die Wochenzeitung hatte ihn von Anfang an ganz oben auf der Liste der Bundesratsanwärter. Jetzt wird der Tessiner Ständerat Dick Marty von den Linken bei den Grünen und in der SP als eigentlicher Favorit für die Nachfolge von Pascal Couchepin präsentiert, ohne dass er gleich schon “no” sagen würde.

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Dick Marty, Tessiner Ständerat aus den Reihen der FDP, wird von den parteiübergreifenden Linken als Bundesratskandidaten gehandelt.

Der Tessiner FDP-Politiker Dick Marty ist ohne Zweifel eine der orginellsten Persönlichkeiten unter der Berner Bundeskuppel. Als Jurist vertrat der die Schweiz im Ausland. Als Staatsanwalt des Tessins kämpfte er gegen das organisierte Verbrechen. Als Regierungsrat in seinem Wohnkanton war er für die Finanzen zuständig. Und als Ständerat war der Südländer Präsident von “Schweiz Tourismus”.

Allen bekannt wurde Marty mit seiner Delegation in den Europarat, wo man ihn beauftragte, die vermuteten “black sites” der CIA mit Gefangenen aus dem Irak-Krieg zu untersuchen. Sein hartnäckiges Insistieren in dieser Sache brachte ihm querbeet Freund und Feind ein und begründeten definitiv seinen Ruf des unerschrockenen Politikers jenseits von Parteiinteressen.

Nun bringen Teile der Linken Dick Marty ins Gespräch als möglichen Bundesrat. Die WOZ bereitete den Zug seit Wochen vor; die Grünen im Tessin aktualisierten dieser Tage die Idee. Andy Gross, SP-National- und Europarat setzte heute noch einen drauf: Er brachte unter dem Titel “Bundesratswahlen: Keine Castingshow” (erneut) eine Streitschrift zur Regierungszusammensetzung heraus, die Marty zum Favoriten der fraktionsübergreifenden LinkspolitikerInnen erhebt.

Die FDP kann’s ärgern oder freuen: Missmutig dürfte Fulvio Pelli sein, dessen Anspruch, die einzige italienischsprachige Alternative im Kabinett der Minderheiten zu sein, geschmälert wird. Freuen könnte sich aber seine FDP, dass sie über einen Kandidaten verfügt, der links von ihr wählbar erscheint.

Gewählt ist Marty damit bei Weitem nicht. Doch könnte er zur Option der FDP werden, wenn diese die ihren zweiten Sitz im Bundesrat mit den Stimmen von links verteidigen muss. Je nach Verlauf der Bundesratswahlen könnte das von Belang werden.

Mit seinem neuen Buch lanciert Gross auch noch ein zweites Diskussionsangebot: die Bundesregierung in Richtung “kleiner Konkordanz” umzubauen. Gemäss dem Lieblingsthema der Grünen soll mit der Gesamterneuerungswahl von 2011 der Bundesrat auf 9 Sitze erweitert, jedoch um die SVP reduziert werden. Die Bundesregierung solle sich inskünftig aus je zwei Vertretern von FDP, CVP und SP sowie je einem Mitglied der BDP, der Grünliberalen und der Grünen zusammensetzen, um der SVP in der Opposition widerstehen zu können.

Claude Longchamp

Andreas Gross, Fredi Krebs (Hg.): Bundesratswahlen sind keine Casting-Show! Edition le Doubs, St. Ursanne 2009

Die SVP möchte am Liebsten aufs Ganze gehen

Die SVP hat letzte Woche in Sachen Bundesratswahlen den Druck auf die FDP erhöht. Sie droht offen mit einer eigenen Kandidatur. Taktik oder Kälkul? Und: Mit welchen Konsequenzen ist bei dem riskanten Spiel unter den Rechten im Parlament zu rechnen?

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Der momentane Favorit der SVP: Holzunternehmer Jean-François Rime aus Bulle, frührer FDP-Mitglied, heute für die SVP im Nationalrat.

SVP-Parteipräsident Toni Brunner machte vor kurzem klar, was er am 16. September 2009 erwartet: Mitte/Links werde sich im entscheidenden Moment durchsetzen; in einem bereits jetzt abgekarteten Spiel werde Urs Schwaller Nachfolger von Pascal Couchepin.

Dahinter mag viel Taktik stehen: Dramatisierung sind das Geschäft der SVP und immer geeignet, Lösungen ausserhalb des mainstreams ins Spiel zu bringen. Diesmal betrifft das vor allem die KandidatInnen der FDP. Ihre Persönlichkeiten würden zu wenig überzeugen, um im Kampf gegen CVP, SP und Grüne bestehen zu können, moniert die SVP, ohne dass sich eine Einheitskandidatur der Rechten abzeichnet.

Doch es kann auch Kalkül sein: Wenn die Wahl wirklich schon gelaufen ist, wie die SVP annimmt, nützt der Support der SVP für eine geeinte FDP-Kandidatur nichts. Dann macht es Sinn, eine eigene Bewerbung aufzubauen. Entsprechend erwägt die SVP seit dem Wochenende semi-offiziell, den vormals freisinnigen Freiburger Jean-François Rime aus Bulle, der 2007 auf der SVP-Liste in den Nationalrat gewählt wurde, als Gegenkandidaten aufzustellen.

Erhält Rime die Unterstützung der ganzen SVP-Fraktion, sinken die Chancen der FDP, ihren zweiten Sitz im Bundesrat zu verteidigen, auf Null. Es könnte sogar sein, dass ihr Bewerber oder ihre Bewerberin ausscheiden, bevor es darauf ankommt. Denn angesichts der Fraktionsstärken ist nicht auszuschliessen, dass am die finale Paarung bei den Bundesratswahlen Rime gegen Schwaller lautet.

Im besseren, aber wenig wahrscheinlichen Fall für die SVP macht die Partei mit ihrem Vorstoss ihren zweiten Bundesratssitz zu Lasten des bisher wichtigsten Partners, der FDP. Im schlechtern, wahrscheinlicheren Fall vereitelt sie einen möglichen FDP-Erfolg, ohne selber den Zuschlag zu erreichen. Urs Schwaller aus dem politischen Zentrum wäre dann der lachende Dritte …

Claude Longchamp

Bundesratsthermometer ohne nachvollziehbare Grundlage

“31 Prozent Stimmen für Urs Schwaller”, das ist das Hauptergebnis des “Wahlbarometers” auf dem “Newsnetz”. Der Freiburger Ständerat führt damit das Feld der möglichen Nachfolger von Pascal Couchepin recht klar an. Doch kann er sich darauf irgend etwas einbilden? Nein, füge ich bei und begründe es auch gerne.

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Seit einem Monat läuft auf der Internetplattform der grossen Zeitungsverlage in der Schweiz ein Online-Befragung, wen man am liebsten als Nachfolger von Pascal Couchepin im Bundesrat hätte. Der CVP-Kandidat Urs Schwaller startete gut, wurde in der Folge aber von Fulvio Pelli überholt. So rasant dessen Aufstieg war, so klar wurde er in der Folge auch wieder auf die Plätze verwiesen. Die Gewinner der vierten Woche sind denn Schwaller von der CVP und Broulis von der FDP.

Ganz falsch erscheinen mir die groben Trends dieser Temperaturmessung nicht. Sie spiegeln die dominante Polarität zwischen FDP und CVP in der Nachfolgediskussion, und sie zeigen, dass die verschiedenen Kandidaten aufgrund unterschiedlicher Ausgangslage verschiedene Taktiken verfolgen.

Darüber hinaus kann der Barometer aber kaum Anspurch auf Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse beanspruchen. Sie stehen in erster Linie für die Teilnehmenden an der Online-Umfrage, ohne Anspruch auf Repräsentativität.

Dafür bräuchte es eine Definition der Teilnahmeberechtigten. Diese ist bei offenen Online-Umfragen nie gegeben. Dann wäre auch eine Stichprobenbildung von nöten, die allen Berechtigten die gleiche Chance einräumen würde. Auch bei diesem Kriterium versagen Umfrage auf e-Plattformen kläglich. Schliesslich müsste gewährleistet sein, dass jede Personen je ausgewiesenem Zeitintervall nur ein Mal gewählt würde. Selbst diese einfache Vorgabe ist beim Wahlbarometer auf Newsnetz nicht gewährleistet.

Andere Umfragen dieser Art stellen wenigstens das klar: Sie erheben keinen Anspruch auf Repräsentativität. Die Verwendung des Titels “Wahlbarometer” suggeriert zudem, wie das “Wahlbarometer” der SRG SSR idée suisse vor Nationalratswahlen verallgemeinerungsfähige Aussagen über den (jeweiligen) Stand der Meinungsbildung zu liefern.

Vor Fehlschlüssen wird gewarnt!

Claude Longchamp

politReport spiegelt die Schweizer e-Medien

“Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der häufigst zitierte Politiker im ganzen Land?” So etwa lautet das Motto des neuen politReport zur Schweizer Politik im Internet.

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Präsenz der BundesratskandidatInnen in den Schweizer e-Medien gemäss politreport.

Seit diesem Jahr gibt es auf dem Web eine neue Dienstleistung zu Politik und Medien. Ursprünglich für Deutschland konzipiert, existiert auch in der Schweiz ein Ableger der politReports. Seit Frühling 2009 ist die Kommunikationsagentur Furrer.Hugi&Partner in Bern Partner des Projekts, und jüngst verkündete NZZ-Online, mit politReprot zu kooperieren.

Laufend ausgewertet werden rund 800 Schweizer Online-Medien und politische Blogs. Täglich um 6 Uhr kann man den neuen Parteien-Index abrufen, welcher die e-Präsenz der schweizerischen Parteien und ihrer Präsidenten aufzeigt.

Momentan dreht sich alles um die Ersatzwahl in den Bundesrat. Das entsprechende Kandidaten-Rating belegt den Eindruck, dass es an übergeordneten Trends in der Medienpräsenz noch fehlt. Pascal Broulis, Dominique de Bumann, Fulvio Pelli und Urs Schwaller waren seit den Sommerferien die am meisten diskutierten Kandidaten. Aufgestiegen sind sie in der Zitierung mit der Ankündigung ihrer Kandidatur; doch hat sich danach keiner wirklich ganz oben halten können.

Gerne hätte man neben der Präsenz von PolitikerInnen auch eine quantitative Analyse der Bewertungen in den e-Medien gehabt. Denn das macht solche Instrumente über die eher zweifelhafte PR-Binsenwahrheit hinaus interessant, es egal sei, wie man dargestellt werde; Hauptsache man komme vor. Wie schnell Präsenz ohne eigene Botschaft die Fremdkritik entscheidend wird, musste beispielsweise Fulvio Pelli in den letzten 10 Tagen erfahren.

Claude Longchamp

Angebliche Studentin schreibt Seminararbeit, horcht aber politische Gegner aus: Was tun?

Es ist eine unappetitliche Geschichte, welche die aktuelle Wochenzeitung unter dem Titel “Studentin in fremden Diensten” präsentiert. Den Universitäten kann es nicht egal sein, wenn studentischen Qualifikationsarbeiten für andere als vorgesehene Zwecke missbraucht werden.

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Laut WOZ hat eine Freelancerin der Zürcher PR-Firma Farner AG, seit Jahren gegen armeekritische Volksinitiativen aktiv, an einem Strategieseminar der pazifistischen “Gruppe für eine Schweiz ohne Armee” teilgenommen, bei dem es um die Kampagnenplanung zur anstehenden Volksabstimmung über die Kriegsaterialausfuhr ging.

Seitens der PR-Firma beteuert man, mit der privaten Aktion nichts zu tun zu haben. Die Agentur werte nur aus, was allgemein greifbar ist. Das Initiativkomitee seinerseits wehrt sich gegen den Vorwurf, mit der Ausschreibung der Veranstaltung auf Internet zur Bespitzelung geradezu eingeladen zu haben; Es sei auf die Mitarbeit von vielen Gleichgesinnten angewiesen.

Aus Sicht der Politikwissenschaft als Fach darf die Diskussion nicht dabei stehen bleiben. Vielmehr muss interessieren, dass das unübliche Vorgehen seitens der Freelancerin mit der tatsachenwidrigen Aussage begründet wurde, sie studiere in Bern Politologie und bereite eine Seminararbeit über Abstimmungskämpfe vor.

Es ist fast schon symptomatisch, wie wissenschaftliche Ausbildungsvorschriften zu politischen Zwecken missbraucht werden können. Denn universitären Qualifikationsarbeiten geht der Ruf voraus, ohne Hintergedanken gemacht zu werden. Das verschafft notwendige Freiräume, die es auch für die Zukunft zu schützen gilt.

Angesichts der Vielzahl Seminar- und ähnlicher Arbeiten, die in den Sozialwissenschaften auch zu aktualitätsbezogenen Fragen verfasst werden müssen, entsteht ein kollektives Forschungssystem, das individuell leicht missbraucht werden kann. Letztlich können sich wissenschaftliche Institute nur so schützen, indem sie als Institutionen die bewilligten Arbeiten und deren VerfasserInnen auf Internet publizieren. Damit kann jeder und jede, der oder die Verdacht schöpft, einen einfachen Kontrollckeck machen. Und die Tarnung der Politik als Wissenschaft entfällt.

Claude Longchamp

Selten so gestaunt

Am 27. September 2009 kommt es in der Schweiz zu einer Volksabstimmung, um das Ergebnis einer anderen ausser Kraft zu setzen, weil das Parlament das Verlangte nicht umsetzen will. Ein demokratiepolitisch erstaunlicher Vorgang.

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Seltene Einmütigkeit: Der Nationalrat hat den Bundesbeschluss mit 178 Ja bei 1 Gegenstimme und 15 Enthaltungen angenommen, der Ständerat mit 42 zu 0 Stimmen und 1 Enthaltung.

SpezialistInnen erinnern sich: Am 9. Februar 2003 haben Volk und Stände die Vorlage der allgemeinen Volksinitiative mit über 70 % der Stimmen angenommen, obwohl es von links und rechts eine Elitenopposition gab. Dies spiegelte sich gemäss VOX-Analyse aber nicht einmal bei den AnhängerInnen von SVP und SP. Doch konnte sich das Parlament in der Folge nicht einigen, wie man den Auftrag umsetzen solle. Weil es unverändert Opposition vor allem rechts, aber auch von links gab. Deshalb schickte man das Ganze an den Absender zurück, und stimmen wir am 27. September 2009 erneut über die allgemeine Volksinitiative ab.

Mit der allgemeinen Volksinitiative wollte man den Bürgern ermöglichen, mittels allgemein formulierten Anliegen Gesetze einzuführen, anzupassen oder aufzuheben. Das Parlament hätte dann über die Frage entschieden, ob das Anliegen auf Gesetzesstufe oder in der Verfassung umgesetzt wird und wie der entsprechende Artikel genau formuliert werden soll.

Nun will man das alles rückgängig machen: Stimmt das Volk der Vorlage diesmal zu, wird auf die beschlossene, bisher aber nicht eingeführte Erweiterung des Initiativrechts ganz verzichtet. Die Möglichkeit, eine Initiative starten zu können, die zu einer Änderung eines Bundesgesetzes führt, würde zurückgenommen.

Als Beobachter staunt man nicht schlecht, wie Mehrheiten entstehen, und wie sie mit verfahrenstechnischen Begründungen für obsolet erklärt werden können. Und man ist überrascht, dass es zu diesem Rückwärtssalto praktisch keine öffentliche Debatte gibt. Organisierte Gegner werden keine sichtbar, obwohl sie im Parlament auftraten, und die Befürworterschaft des Verzichts hält sich im gestarteten Abstimmungskampf fast ganz zurück, – ganz in der Hoffnung, niemand merkt, was geschieht.

Claude Longchamp