Ventil-Funktion von Abstimmung einmal anders betrachtet

Im Nachgang zur Volksabstimmung über die Personenfreizügigkeit habe ich eine Arbeitsthese, die ich gerne diskutieren würde: Volksabstimmungen haben eine Ventilfunktion. Sie bringen verdeckte Themen an die Oberfläche. Das ist bei Initiativen fast immer der Fall; es kann aber auch bei Referenden geschehen. Wenn deren Thematisierung für die Behörden eine Bedrohung ist, kann es sinnvoll sein, das Thema selber aufzugreifen und rechtzeitig vor der Abstimmung mit eigenen Argumenten zu besetzen.

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Man nehme das Beispiel Zürich. Der Kanton stimmte im Jahr 2000 den Bilateralen mit 69,9 Prozent zu. Personenfreizügigkeit war da kein Thema. Sodann stimmte er der erweiterten Personenfreizügigkeit 2005 mit 59,4 Prozent zu. Das Thema “Einwanderung” war lokal ein Thema, aber kaum im Zusammenhang mit einer spezifischen Nationalität. 2009 war die Einwanderung aus Deutschland ein grösseres gesellschaftlichen Thema im spezifisch zürcherischen Umfeld, doch zeigte es bei der Abstimmung keine Wirkung: Der Kanton sagte am Wochenende mit 61.9 Prozent Ja zur definitiven Personenfreizügigkeit.

Nun fragt man sich zu recht warum. Und genau da setzt meine Arbeitsthese ein:

Schlecht ist es, mit der Thematisierung vorhandener, aber verdeckter Themen zu warten, bis Abstimmungskampf ist. Denn dann kann es von der Gegnerschaft politisch instrumentalisiert werden, und es besteht die Gefahr, dass es dem Behördenstandpunkt schadet.

Gut ist es dagegen, wenn die Thematisierung klar vor dem Abstimmungskampf erfolgt, und zwar aus Sicht von Organisationen, die den Behördenstandpunkt teilen, die Instrumentalisierung des Themas durch die Opposition aber verhindern wollen.

Im aktuellen Fall könnte man sagen, war das Avenir Suisse. Die Organisation war klar für die Personenfreizügigkeit und sie griff mit der Buchpublikation “Die neue Zuwanderung” das gesellschaftlich vorhandene Thema (zum Beispiel Universitäten, Spitäler, etc.) selber auf, reicherte es mit Informationen zum Brain-Gain an und verhinderte damit die Besetzung der Problematik durch fremdenfeindlich ausgerichtete Akteure.

Zwar wurde die “Deutschen”-Frage in Zürich während des Abstimmungskampfes verhandelt. Doch gelang es der Gegnerschaft der Personenfreizügigkeit trotz Anstrengungen nicht wirklich, sie auf die politische Agenda zu setzen. Medial hatte es zwar eine gewisse Resonanz, doch wirkte sich diese auf das Stimmverhalten nicht aus.Die Gegnerschaft fühlte sich zwar bestärkt, die BefürworterInnen waren aber rechtzeitig mit Gegenstandpunkten informiert worden. Und die mediale Skandalisierung bliebt ganz aus.

Um es noch klarer zu sagen: Die Ventil-Funktion von Abstimmungen, die es Opponenten erleichtert, ihren Standpunkt zu rechtfertigen, kann kommunikativ neutralisiert werden. Die Lösung besteht darin, das Ventil ganz bewusst vor dem Abstimmungskampf zu öffnen, damit das Thema an Brisanz verloren hat, wenn es zur politischen Entscheidung kommt.

Q.E.D.

Claude Longchamp

Rundschau zur Abstimmung über die Personenfreizügigkeit

Die Mittellandzeitung gab mir am Montag nach der Abstimmung über die Personenfreizügigkeit Gelegenheit, Rückschau zu halten auf das Ergebnis, seine Entstehung und seine Folgen. Dabei habe ich meine Beobachtungen, die ich laufend auf zoonpoliticon gemacht habe, verdichtet wieder gegeben. Hier das Interview von Karen Schärer, das heute in der Zeitung erscheint.

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Herr Longchamp, wie interpretieren Sie das Abstimmungsresultat?

Es ist ein sehr überrasches und positives Zeichen, dass die nüchternen Überlegungen über die Vor- und Nachteile der Personenfreizügigkeit, die Bilateralen und die Zusammenarbeit mit der EU ausschlaggebend und für die Stimmenden viel wichtiger waren, als die emotionalen Auswüchse in der Kampagne.

Es ist also ein Bekenntnis zum bilateralen Weg…

… ein weiteres Bekenntnis zum bilateralen Weg, müsste man sogar sagen. Wir hatten in acht Jahren fünf Volksabstimmungen in gleicher Sache. Und wir hatten fünf Mal zum Teil klare Zustimmungen. Man kann nur einen Schluss daraus ziehen: Der bilaterale Weg ist nicht der beliebteste Weg, aber er ist der einzige mehrheitlich akzeptierte Weg.

Umso mehr überrascht es, dass, kaum ist das Abstimmungsresultat bekannt, SP und Grüne den EU-Beitritt fordern. Ist das nicht Zwängerei?

Hätte sich die Schweiz selbst desavouiert und den bilateralen Weg abgelehnt, wäre wahrscheinlich vonseiten der EU das Signal gekommen: Alles oder nichts. Nun war das nicht der Fall. Aus meiner Sicht würde die SP besser die EU Politik der eigenen Aussenministerin unterstützen, die eine schrittweise Annäherung an die EU will.

Auch die SVP machte Ankündigungen: Sie will eine Volksinitiative prüfen, welche die Personenfreizügigkeit einschränken will. Warum tut sie das?

Mit ihrem Slalomkurs in Sachen Personenfreizügigkeit hat die SVP riskiert, dass sie das Thema aus den Händen verliert. Die Junge SVP, die Lega, die Schweizer Demokraten und rechtspopulistische Parteien aus der Westschweiz machen ihr das Thema strittig. Die Ankündigung vom Wochenende ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Die Europafrage gehört aber ohnehin nicht mehr zum Kerngebiet der SVP; faktisch hat sie die letzten vier Mal, in denen sie diese zum Thema machte, verloren. Ihr Kerngebiet liegt heute eher auf dem Gebiet der Steuerpolitik.

Bei den Wahlen 2011 will die SVP die 40 Prozent Nein-Sager vom Wochenende abholen. Kann das gelingen?

Das halte ich für ausgeschlossen, das ist reine Rhetorik.

Ist der Aktivismus von SP, Grünen und SVP nicht respektlos gegenüber den Wählern?

Er bringt zum Ausdruck, dass man im Bilateralismus noch andere Ideen hat. Doch vor allem steckt Kalkül dahinter: Solche Ideen erregen mediale Aufmerksamkeit.

À propos Respekt: Christoph Blocher verglich am Sonntag Befürworter der Vorlage mit Nazis. Was ist in ihn gefahren?

Das müssen Sie ihn selber fragen. Ich will es von aussen betrachten. Die direkte Demokratie macht vor allem einen Sinn: Sie versucht, Konflikte innerhalb von Institutionen zu regeln. Dazu gehört, dass man nach Entscheiden akzeptiert, dass es ein Volksentscheid ist. Sie verlangt auch, dass dann auf dieser Basis der Mehrheit weitergefahren wird. Wenn man das nicht mehr akzeptiert, macht Demokratie keinen Sinn mehr. Wenn es zum Prinzip wird, dass man sagt, man müsse Widerstand leisten gegen das «Anpassertum», so ist das gegenüber der Demokratie ausgesprochen respektlos.

Blocher ist also respektlos gegenüber der Demokratie.

Herr Blocher würde besser schweigen. Er war eine Zeitlang in der Landesregierung, hat sich für das Land eingesetzt, dabei immer seine Person in den Vordergrund gestellt und deshalb polarisiert – was schliesslich zu seiner Abwahl geführt hat. Bisher war es immer von Vorteil, wenn Bundesräte nach ihrem Rücktritt politisch geschwiegen haben. Mehr muss man dazu nicht sagen.

Ist nach dem Abstimmungswochenende parteiintern Christoph Blocher oder Peter Spuhler gestärkt?

In der Partei ist Herr Blocher weitgehend unbestritten. Der Reiz der Partei war aber auch immer, dass sie einen Teil der bürgerlichen Wählerschaft ansprechen konnte. Wenn die SVP mit anderen Parteien Allianzen bilden will, muss sie sicher ihre tüchtigen Unternehmer in den Vordergrund stellen.

Und damit Blocher zurückbinden.

Wie gesagt: Jeder Bundesrat, der zurücktritt, gehört ins Reserveglied – auch Herr Blocher.

Befürworter und Gegner versuchten das Internet für ihren Wahlkampf zu nutzen. Wer war geschickter?

Die Gegner nutzten das so genannte «Guerilla Marketing»: Man versteht sich als Kämpfer aus dem Hinterhalt, der kurzfristig Aktionen macht und damit in den Medien Aufmerksamkeit schafft. Diese Taktik ist sehr ideologisch und damit häufig kontraproduktiv.

Und die Befürworter?

Sie nutzen die Taktik des «viralen Marketing». Wie ein Virus bereitet sich eine Botschaft aus, in dem nicht mehr Parteien, Organisationen sie verbreiten, sondern indem die anderen Internetnutzern zu Partnern gemacht werden. Der glaubwürdigste Absender sind Leute wie Du und ich.

Sie sprechen den Spot mit Charles Clerc an, in dem der Empfänger als Nicht-Wähler und als Schuldiger für das Volks-Nein wurde.

Der Spot wurde aus dem Wahlkampf von Barack Obama kopiert. Das Video ist eine personalisierte Form der Ansprache. Ich halte diese Form für die beste und wirkungsvollste in einem Wahlkampf. Die 400 000 Menschen, die das Video weiter verschickt haben, sind ein Tatbeweis dafür, dass Bürger-zu-Bürger-Kommunikation in Abstimmungskämpfen in der Schweiz schon ganz ordentlich funktionieren.

Die Schlussappelle zur Entscheidung über die Personenfreizügigkeit

Morgen 8. Februar 2009 fällt die Entscheidung über die Verlängerung und Erweiterung der Personenfreizügigkeit. Heute ist denn auch der Tag der letzten Aufrufe auf Pro- und Contra-Seite im auslaufenden Abstimmungskampf.


Mit seiner Medienmitteilung zur aktuellen Arbeitslosigkeit in der Schweiz focussierte das Seco die Debatte zur Personenfreizügigkeit auf einen der kontroversesten Punkte in den Einschätzungen der Personenfreizügigkeit

Zwei Tage vor dem Abstimmungstermin präsentierte das Seco die neuesten Zahlen zur Arbeitslosigkeit. 128’430 Personen sind demnach unfreiwillig ohne Arbeit. Das sind 9668 Personen mehr als vor einem Monat. Die Arbeitslosenquote stieg im Januar 2009 um 0,3 Prozentpunkte auf 3,3 Prozent. Zugenommen hat auch die Kurzarbeit, sowohl bei der Zahl der Betriebe wie auch bei der Zahl der Personen.

In den gestern publizierten Schlussappellen des Ja- wie des Nein-Komitees zur Personenfreizügigkeit dominiert denn auch die aktuelle Wirtschaftslage als Begrüdung. Die Schlüsse, die gezogen werden, sind indessen konträr:

Die Ja-Seite: “Gerade in konjunkturell schwierigen Zeiten wäre es verheerend, zusätzliche Unsicherheit zu schaffen und so eine Verlagerung von Investitionen und Arbeitsplätzen in das Ausland zu begünstigen.

Die Nein-Seite: “Es zeigt sich schon jetzt, dass die Sozialwerke kaum mehr zu finanzieren sind, da arbeitslos werdende ausländische Arbeitnehmer keinen Anreiz haben, in ihr Heimatland zurückzukehren.”

Die momentane Befindlichkeit bestimmt damit hüben wie drüben die unmittelbare Optik auf die Personenfreizügigkeit. Immerhin, die Ja-Seite relativiert: Weit über 200‘000 neue Arbeitsplätze seien wegen der Personenfreizügigkeit entstanden. Die Bilateralen garantierten der Schweiz politische Unabhängigkeit bei wirtschaftlich weitgehend gleichberechtigten Zugang zum wichtigsten Exportmärkten. Dieser einzigartige Weg sei für die Schweiz der Richtige.

Derweil legt die Nein-Seite Wert auf die Aufteilung der Arbeitslosigkeit nach In- und Ausländern. Bei jenen betrage sie bereits heute 6,6 Prozent. Insbesondere bei den Personen aus Deutschland und Portugal, den Ländern mit der höchsten Zuwanderung aufgrund des freien Personenverkehrs sei, es zu einer eigentlichen Explosion der Arbeitslosenzahlen gekommen.

Die BefürworterInnen erinnern zudem, dass wir bereits vier Mal über die Bilateralen in Volksabstimmungen entschieden hätten. Wir sollten auf das fünfte Mal zustimmen. Demgegenüber halten die GegnerInnen in düsteren Farben fest, nur mit einem Nein zur Personenfreizügigkeit könne man endlich die Notbremse ziehen.

Claude Longchamp

“Das Internet birgt Gefahren für die Politik.”

Unbescheiden ist Markus Gäthke nicht. In seiner Video-Botschaft, mit der er sich erstmals direkt zur “Einreiseberatungsseite” www.come-to-switzerland.com äusserte, die in der Schlussphase des Abstimmungskampfes zur Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der Europäischen Union für Furore sorgte, meinte er, seine “Studie” habe wohl Mediengeschichte geschrieben, denn sie zeige exemplarisch, wie einfach es sei, in der Schweiz Medienaufmerksamkeit zu erringen.


Quelle: Youtube

Seine Website übertitelt er neuerdings mit “Achtung Satire”, um umgehend zu behaupten, es folge die ganze Wahrheit. Und der Haftungsausschluss bleibt unverändert bestehen.

In der abgelesenen Botschaft hält er fest, er sei weder von Abstimmungsbefürwortern noch von Abstimmungsgegnern mit der Erstellung dieser Website beauftragt worden. Es steckten auch keine wie auch immer gearteten politischen Gruppierungen aus Deutschland dahinter. Er habe damit gerechnet, dass einige Foren im Vorfeld mehr oder weniger heiss darüber diskutieren würden, nicht jedoch, dass sich nahezu die gesamte Schweizer Presse wie ein Schwarm hungriger Geier auf diese an sich harmlose kleine Website stürzen würde und sie durch Inserate der Befürworter der Personenfreizügigkeit zum Politikum ersten Ranges aufsteigen würde. Bei der Firma Chamäleon Media GmbH, einem Ex-Auftraggeber von Gäthke, die dadurch unglücklicherweise in Verbindung gebracht wurde entschuldigte er sich ausdrücklich.

Der Tages-Anzeiger, der die mediale Kampagne in erster Linie führte, hielt in einem Leitartikel, der unmittelbar vor dem Outing publiziert worden ist, als Uebersicht über die Learnings aus der entfachten Diskussion sieben Thesen fest:

“1. Die Seite www.come-to-switzerland.com, auf welche diverse SVP-Politiker aufmerksam machten, ist nicht seriös.

2. Die Seite richtete sich nicht, wie vorgegaukelt, an deutsche Arbeitslose, sondern an Schweizer Stimmbürger.

3. Der Betreiber der dubiosen Webseite hat nachweisbar eng mit einem Geschäftspartner von Lukas Reimann zusammengearbeitet.

4. Reimanns Geschäftspartner arbeitet mit fragwürdigen Methoden.

5. Economiesuisse greift Reimann an, ohne Beweise vorzulegen.

6. Das Internet birgt Gefahren für die Politik.

7. Die Diskussion um die Homepage und ihre Hintermänner lenkt vom zentralen Punkt ab.”

Iwan Städler, Inland-Chef des Tages-Anzeigers, hält den Volksentscheid zur Personenfreizügigkeit für die Schweiz für wichtig. Ueber die Website von Markus Gäthke, werde man, anders als der Autor glaubt, bald nicht mehr sprechen.

Immerhin hält der Kommentar fest: “Die Politik lebt davon, dass mit offenem Visier über Realitäten gestritten wird. Mit dem Internet ist es nun aber möglich, virtuell und anonym «Fakten» zu produzieren, die man anschliessend real bekämpfen kann. Das ist Gift für die Demokratie.”

Genau darüber, füge ich bei, wird man sich angesichts der drastisch sichtbar gewordenen Veränderungen in der Kampagnenkommunikation nach der Abstimmung vertieft Gedanken machen müssen.

Claude Longchamp

EU-Mitgliedschaft und Nicht-Mitgliedschaft im Experiment

Mit der EU-Mitgliedschaft kann man nicht experimentieren. Entweder ist man dabei, oder man ist nicht nicht dabei. Das ist so. Wenn man dabei ist, hat man EU-Recht zu übernehmen, wenn nicht, bleibt man auch in dieser Hinsicht unberührt. Nicht-Mitglieder wie die Schweiz sind anders als die 27 Mitglieder der EU souverän. Das glaubt man wenigstens zu wissen.


Nicht-Miglied ist die Schweiz in der EU; doch wirken sich die Bilateralen anders aus als eine Mitgliedschaft?, fragt der Genfer Politikwissenschafter Ali Arbia

Die gerade auch in der Schweiz populäre Annahme hat der Genfer Politikwissenschafter und Blogger (“zoonpolitikon”, mit k, nicht mit c wie bei mir) einer interessanten Prüfung unterzogen. Er wollte wissen, wie viel von der nationalen Gesetzgebung durch die EU beeinflusst wird, – bei Mitgliedern wie Nicht-Mitgliedern.

Untersucht hat er die Gesetzgebung in der Schweiz und in Oesterreich. Beide Länder haben eine ähnliche geografische Lage, und sie sind vergleichbar gross. Doch Oesterreich ist EU-Mitglied, die Schweiz nicht. Analysiert wurde, was in den 10 Jahren 1995 bis 2006 durch beide Parlamente ging resp. 200 zufällig ausgewählte Gesetze davon. Eingeteilt wurden die Enscheidungen in der Gruppen:

. direkt durch Anstoss der EU Gesetzgebung geschaffene Gesetze (‘High’),
. Gesetze, die nicht von der EU ausgelöst wurden, deren Inhalte aber von ihr beeinflusst wurde (‘Medium’) und
. Gesetze die keinen direkten Zusammenhang mit EU Recht aufweisen (‘Low’).

Das Ergebnis verblüfft: Die Verteilung für beide Länder ist ausgesprochen ähnlich. Etwa die Hälfte der nationalen Gesetze ist vom EU-Recht sowohl in Oesterreich wie auch in der Schweiz nicht betroffen. Die andere Hälfte wird angesprochen, wobei die Verteilung leicht divergiert: Österreich übernimmt etwas mehr Gesetze direkt von der EU als die Schweiz. Deren Gesetzgebung darüber hinaus wiederum wird indirekt stärker beeinlfusst als das in Oesterreich der Fall ist.

Der Autor der Studie vermutet vor allem politische Gründe hinter dem beobachteten Phänomen. In der Schweiz sei es oft besser, eine Gesetzesvorlage nicht als von der EU her kommend darzustellen. In Österreich hingegen können Politiker mit genau diesem Argument unter Umständen einfacher vorgeben, dass ihnen die Hände gebunden seien.

Viel wesentlicher ist aus meiner Sicht, dass die Mitgliedschaft/Nicht-Mitgliedschaft, mit der hier ein Quasi-Experiment durchgeführt wurde, quantitativ nicht viel zur Erklärung der effektiven nationalen Gesetzgebung beiträgt. Der Anteil autonomer Gesetzgebungen ist vergleichbar, jener der beeinflussten ebenfalls. Im einen Fall mag man Vollzugsdefizite vorschieben, im andern aber die indirekte Wirkung der Bilateralen sehen. Im Endeffekt unterscheidet sich beides beschränkt im Grad der Uebernahme, und, was hier nicht untersucht worden ist, allenfalls in der Qualität des Gesetzestransfers.

Ali Arbia selber hält eine weitere Schlussfolgerung für noch wichtiger: “Der Hauptunterschied ist (…), dass wir Helveter auf ein Mitentscheidungsrecht verzichten.” Die Schweiz ist nicht Mitglied, vollzieht aber auch keinen Alleingang. Sie kooperiert im Rahmen der Bilateralen mit der EU in einen leicht tieferen Masse als ein Mitglied, füge ich bei.

Claude Longchamp

Wi(e)der die unglaubliche Arroganz unter Partnern

Die aktuelle Ausgabe der deutschen Wochenzeitung “Die Zeit” provoziert die Schweiz. Den Gegnern der Bilaterale ist das Recht. Die Befürworter sind schockiert. Eine Auslegeordnung, warum Polarisierungen hüben wie drüben keine Basis für Partnerschaften sind.


Eine Woche vor der Abstimmung in der Schweiz liegen die Nerven blank. Doch in Partnerschaften empfiehlt es sich, sich wechselseitig nicht zu provozieren, bis die Fronten verhärtet sind.

Herausgefordertes Deutschland
Seinen bisher grössten Moment hatte der Deutsche Jorgo Chatzimarkakis, als er im September 2007 seine FDP zur bundesweiten Fusion mit den Grünen aufrief, um eine starke ökoliberale Mitte zu bilden und so die Polarisierung der nationalen Politik zwischen links und rechts zu überwinden. Selber lebt der Politiker diese Verbindung schon, wenn er als Mitglied des Europaparlamentes in Brüssel ist. Dann wohnt “Chatzi”, wie er sich selber gerne nennt, nämlich mit Cem Oezdemir, dem EU-Parlamentarier der Grünen in einer WG. Das ist nicht ohne, denn Chatzimarkakis ist griechischstämmig, während Oezdemir von türkischer Herkunft ist, denn das ist genau das, was man in Brüssel von Zypern erwartet: zusammen zu arbeiten!

Weniger gut klappt die Verständigungsarbeit allerdings, wenn Chatzimarkakis auf die Schweiz angesprochen wird. Da kritisiert der promovierte Agrar- und Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Europarecht die Schweiz in der aktuelle Zeit heftig: »Ich habe hohen Respekt vor der Schweizer Demokratie. Aber ich habe demokratietheoretisch langsam ein Problem damit, dass schon wieder eine kleine Minderheit 490 Millionen Europäer aufhalten können soll.« Und dann kommt’s faustdick: »Die unglaubliche Arroganz muss jetzt mal ein Ende haben! Die Schweiz wäre längst ein rückständiger Fleck in Europa, wenn sie nicht ihr wunderbares Bankensystem hätte und ihre tollen Ausnahmeregelungen. (…) Wer, bitte, legt denn das ganze Geld da drüben an? Die Schweizer müssen wissen: Sie schaden sich selbst mehr als uns, wenn sie am 8. Februar Nein sagen.«

Politik und Wirtschaft parallel entwickeln
Gerade demokratietheoretisch ist die EU, muss man entgegnen, kein Vorbild. Sie ist aus keiner Revolution hervorgegangen, die neues Verfassungsrecht geschaffen hätte, das nun im Sinne der Demokratie gelebt würde. Vielmehr ist sie aus der schlichten Notwendigkeit heraus entstanden, nach den Kriegen weiteres Blutvergiessen mitten in Europa zu vermeiden. Dabei setzten die Gründungsväter der EU auf die Hoffnung, gemeinsame Industrien und gemeinsmer Handel schafften grenzüberschreitende Verständigung.

Daraus ist zwischenzeitlich zwar mehr als eine reine Koordination von Wirtschaftspolitiken durch die EWG entstanden, wohl aber kein austarierter gesamteuropäischer Staat. Unionsbürgerschaft und gemeinsame Wahlen können nicht darüber hinweg täuschen, dass die EU vom Europäischen Rat dominiert und von der Kommission geführt wird. Weit fortgeschritten ist insbesondere der Demokratisierungsprozess des exekutiven Apparates nicht, sodass man die EU besser an wirtschaftlich-pragmatischen Kriterien misst als anhand demokratie-theoretischer.

Wenn schon, müsste man als Politikwissenschafter mit Schweizer Hintergrund einwerfen, dürfte sich diese nicht auf Institutionen der Volksrepräsentation beschränken, sondern auch deren Erweiterung durch direktdemokratische Instrumente in Betracht ziehen. Mit diesen macht die EU erst zögerlich Bekanntschaft. Ein Teil aus Politik und Administration sieht in der erhöhten Involvierung der BürgerInnen durchaus die Chance erhöhter Legitimation. Er ist deshalb bereit, auf BürgerInnen-Partizipation zwischen BürgerInnen-Foren und Volksentscheidungen einzugehen. Ein anderer Teil begreift das alles nur als lästige Blockierungen, die partikuläre Interessendurchsetzung zulasten einer einheitlichen Politik fördere.

Die Schweiz sollte man in dieser Debatte weder über- noch unterschätzen, ist meine Antwort. Unterschätzen würde man sie mit ihrer reichhaltigen Erfahrung gerade mit der BürgerInnen-Beteiligungen im politischen Willensbildungsprozess, wenn diese nicht partnerschaftlich in den EU-Aufbauprozess einfliessen würde. Ueberschätzten würde man sie aber, glaubte man, ihr spezifisch gewachsenes Entscheidungssystem sei das einzig Wahre für Politik und Wirtschaft.

Die Arroganz hüben und drüben abbauen
Hinter beiden Positionen steckt eine unglaubliche Arroganz im politisch-kulturellen Sinne. Denn die EU braucht dringend Demokratisierungen ihres technokratischen Selbstverständnisses von Politikgestaltung. Die jüngsten Ablehnungen von grundlegenden Verfassungsentwürfen in Frankreich, den Niederlanden und in Irland zeigen, wie verbreitet die Distanz der Herrschenden zu den Menschen ist. Ganz zu schweigen, dass es auch Bedenken auf Verfassungsebene in Deutschland gibt und sich selbst Regierungen in Polen und Tschechien sträuben, wenn die Perspektive von unten in der Willensbildung vernachlässigt wird. Das alles gilt, selbst wenn es kaum ernsthafte Kritiken an den wirtschaftlichen Vorteilen des EU-Projektes gibt.

Umgekehrt braucht die Schweiz dringend mehr Spiegelungen ihres demokratischen Selbstverständnisses. Entscheidungen, die man einmal getroffen hat, sind verbindlich, – gerade um wirtschaftlich kalkulierbare Verhältnisse zu sichern. So gut die Schweiz in innenpolitischen Themen damit gefahren ist, dass man Alles und Jedes immer und wieder in Frage darf, so problematisch ist das, wenn es um wrtschaftspolitische Partnerschaften mit Dritten geht. Denn die Verbindlichkeit von Zusagen auf der einen Seite wird im internationalen Austauschprozess in der Regel durch Unverbindlichkeiten von Zusagen auf der anderen Seite gekontert. Das Klima des Misstrauens, das sich so hochschaukelt, ist keine Basis für dauerhafte Kooperation über Grenzen hinweg. Vielmehr nährt sie die Polarisierung, wie wir es gegenwärtig erleben.

Herausgeforderte Schweiz
Ein “Ja” zur Personenfreizügigkeit gäbe es nur, forderte alt-Bundesrat Christoph Blocher an der Albisgüetli-Tagung 2008 seiner SVP, wenn die EU darauf verzichte, weitere Forderungen zum Bankgeheimnis zu stellen. Wer glaubt, als Oppositionsführer unrealistische Bedingungen zu Abschlüssen stellen zu müssen, kriegt diese mit voller Wucht zurück, denn das Echo Deutschlands an die Adresse der Schweiz lautet heute: Personenfreizügigkeit “Ja”, wenn ihr die Privilegien für Euer Bankensystem weiter wollt.

Jorgo Chatzimarkakis will mit seiner ökoliberalen Idee die blockierende Polarisierung im bundesdeutschen Parteiensystem verhindern. Gut so!, sag ich. Wer Verantwortung für Politik und Wirtschaft übernehmen will, muss aber auch Polarisierungen zwischen Partnern abbauen helfen, füge ich an die Adresse Aller Beteiligter bei.

Claude Longchamp

Die Zentren der Seilschaften im Schweizer Journalismus

Wer kennt sie nicht, die Klagen über den Mangel an Qualität im Journalismus. Niemand! Genau deshalb ist es gut, wenn man alle Bemühungen bekannt machen ann, die diese im System der Massenmedien zu heben beabsichten. Hierzu ein Blick auf die soeben veröffentlichten Ehrungen des Branchenblattes “Schweizer Journalist“.


Schweizer Journalist eher Schweizer Journalistin des Jahres 2008

In kürzester Zeit hat sich das Ranking des “Schweizer Journalist” zu relevanten Referenz für das Schaffen im schweizerischen Mediensystem entwickelt. Wer hier ausgezeichnet wird, darf stolz sein, wenigstens unter KollegInnen.

Dieses Jahr lautet das Urteil zur besten Redaktion in der Schweiz wie folgt:

1. Schweizer Fernsehen (Vorjahr 2.)
2. Das Magazin (neu)
3. Tages-Anzeiger (1.)
4. Sonntagszeitung (neu)
5. NZZ am Sonntag (4.)
6. Weltwoche (6.)
7. Sonntag (5.)
8. Bund (7.)
9. Südostschweiz (7.)
10. Neue Zürcher Zeitung (10.)

Die Top Ehrungen in den verschiedenen Rubriken erhielten:

Top Chefredaktion: Patrick Müller, Sonntag
Top Politik: Daniel Binswanger, Magazin
Top Wirtschaft: Beat Kappeler, frei/NZZ am Sonntag
Top Kultur: Michael Meier, Tages.Anzeiger
Top Sport: Rainer Maria Salzgeber, Schweizer Fernsehen
Top Kolumne: Andrea Masüger, Südostschweiz
Top Reporter: Bruno Ziauddin, frei/Weltwoche
Top Lokales: Peter Knechtli, onlinereports.ch
Top Newcomer: Thomas Zaugg, Magazin
Top Wissenschaft: Beat Glogger, frei/Magazin
Top Recherche: K. Wild, C. Boss, M. Stoll, Sonntagszeitung
Top Westschweiz: Myret Zaki, Le Temps
Top Tessin: Luca Fasani, Simona Soldini, Alessandra Felicioni, Wissenschaftsredaktion RSI

Zur Top JournalistIn des Jahres wurde die China-Korrespondentin des Schweizer Fernsehens, Barbara Lüthi gewählt. Sie hat engagiert über die Olympischen Spiele, ihre Vorbereitungen und ihr Missbrauch in China berichtet.

Ohne Zweifel ist gerade diese Ehrung verdient. Bei anderen Frage man sich aber, wie sie Zustande kommen konnte. Auf der Hand liegt, dass die Zusammensetzung der 28köpfigen Jury aus ehemaligen ChefredaktorInnen, aus Verlegern, Medienberatern und JournalistInnen im einen oder andern Fall mitgeholfen haben dürfte.

Schwierig zu verstehen sind einige Entscheidungen, die gegen jede Form der Qualitätssicherung verstossen: zum Beispiel, dass Kurt W. Zimmermann auf Platz 2 der Kolumnisten erscheint, selber aber Mitglied der Jury war. Da wäre eine saubere Arbeitsteilung angebracht. Stiefmütterlich wirkt für eine Ehrung des Schweizer Journalismus, dass sich die Medienschaffenden der italienisch- und französischsprachigen Schweiz in je einer Kategorie insgesamt um die Anerkennung der MinderheitenvertreterInnen balgen dürfen.

Schliesslich würde man sich ein eigentliches Leitbild wünschen, was guter Schweizer Journalismus sein soll, das den JurorInnen vorliegt, wenn sie ihre Entscheidungen treffen. Ganz im Sinne der Nachvollziehbarkeit in der Sache, statt der Transparenz von Seilschaften im Schweizer Journalismus.

Claude Longchamp

Konkordanz-Interpretationen im Wandel

Die Rauchzeichen bei und nach der Wahl von Ueli Maurer als Nachfolger von Samuel Schmid im Bundesrat sind verflogen. Doch bleibt die Problematik bestehen, welche die jüngste Bundesratswahl prägte. Im Kern geht es um die Frage, mit welchem Ziel und nach welchen Regeln der Bundesrat inskünftig zusammengesetzt werden soll? Eine Auslegeordnung von Antworten.


“Wie weiter mit Bundesratswahlen?” ist eine der zentralen Fragen für das Jahr 2009

Die Kontroverse
Die gestrige NZZ nimmt sich diesem für das politsichen System zentralen Thema mit einer Spezialseite an, auf der die Politikwissenschafter Wolf Linder und Pascal Sciarini die Argumente ausbreiten, die mehr- und minderheitlich unter den Politologen vertreten werden, die nicht in der Volkswahl des Bundesrates die Lösung sehen.

In einem Punkt sind sich beide Autoren einig: Die schweizerischen Parteienlandschaft ist in Bewegung, und mit ihr ist auch die Stabilität der Regierungsbildung auf Bundesebene ins Rutschen geraten. Die rein arithemtische Definition der Bundesratszusammensetzung genügt dabei nicht, eine prospektiv überzeugende neue Formel zu sein. Darüber hinaus gingen die Positionen aber auseinander.

Der Mehrheitsstandpunkt

Wolf Linder bezeichnet den heutigen Stand als “Verflüssigung” des schweizerischen politischen Systems. Die Lösung ortet er nicht in einer generellen Reform des Wahlverfahrens, aber in der Eliminierung seiner gröbsten Schwächen. Im Ansatz epfiehlt er, was Christa Markwalder, Berner FDP-Nationalrätin 2007 im Parlament zur Diskussion stellte, dafür aber keine Mehrheit fand.

Vorgeschlagen wird deshalb, von den geheim abgehaltenen Einzelwahlen für jedes Mitglied des Bundesrates abzukommen, dafür aber über eine oder mehrere transparente Siebner-Listen abzustimmen. Die Zusammensetzung solcherListen müsste gewährleisten, dass ein Team der Besten entstehe. Eine Koalitionsvereinbarung hält er aufgrund ausländischer Erfahrugnen nicht für nötig. Teilabsprachen unter den Parteien, die in einem Politikbereicht eine mehrheitsfähige Allianz bilden wollen, würden reichen, um die politische Konkordanz gegenüber der arithmetischen zu sichern, die Schwächen des jetzigen Verfahrens aber auszuschalten.

Der Minderheitsstandpunkt
Pascal Sciarini hält das für “Zauberformel-Nostalgie”. Die grosse Konkordanz sei seit den 90er Jahren “klinisch tot”, denn die Regierungszugehörigkeit verhindere nicht mehr, dass sich insbesondere Parteien wie die SVP und SP von der Regierungsposition verabschieden würden. Die variable Geometrie der Kräfte, die daraus resultiere, führe nicht zu einer genügenden Regierungskohörenz, die angesichts der wirtschaftlichen Herausforderungen aber gefragter denn je sei.

Deshalb gibt es für Sciarini nur einen Ausweg: Die Erwartungen an die Konkordanz zu reduzieren und Regierungsallianzen unter Ausschluss von SP oder SVP zu bilden. Nur so könne die Aktionsfähigkeit des Bundesrates als Ganzes wieder erhöht werden. Das stärkste Argument der Schweizer Politologen, das dagegen jewels vorgebracht wird, hält er für hzwischenzeitlich widerlegt. Es betrifft den Konkordanzzwang durch die direkte Demokratie. Denn die “kleine Opposition” der SVP 2008 habe gezeigt, dass die Regierungsarbeit durch Referenden und Initiativen nicht einfach blockeirt werde. Die SVP sei am 1. Juni 2008 mit ihrer dreifachen Opposition dreifach gescheitert, nicht die Regierungsallianz aus SP, CVP, FDP und BDP.

Zur Zukunft politologischer Konkordanz-Interpretationen
Sciarini weiss allerdings, dass er mit seiner Leseweise auch unter den Politikwissenschaftern in der Minderheit ist. Sein Modell stuft er selber noch nicht als valable Alternative zum Mainstream-Modell ein. Es hält es aber für eine Idee, die langsam aber sicher an Akzeptanz gewinne. Damit spricht er auch an, was man bei der Lektüre der Spezialseite der NZZ auf jeder Zeil merkt: Die Konkordanzinterpretation der Schweizer Politologen verflüssigen sich selber, ohne dass sie bereits eine neue klar ausgeprägt Form gefunden hätten.

Linder, der scheidende Direktor des politikwissenschaftlichen Instituts der Universität Bern, hat zwar noch die Ueberhand, doch läuft ihm die Realität Schritt für Schritt davon. Sciarini, Direktor des analogen Instituts an der Universität Genf, dürfte davon profitieren, hat aber noch keine so klare Vision entwickelt, die die griffig genug wäre, um die Politik zu überzeugen.

Claude Longchamp

Guerilla Marketing als Instrument im Abstimmungskampf

Guerilla Marketing als Begriff ist nicht neu, als Erscheinung in schweizerischen Abstimmungskämpfen wurde er bisher jedoch wenig verwendet. Aktivitäten der Jungen SVP gegen die Personenfreizügigkeit können unter diesem Label analysiert werden. Eine kleine Auslegeordnung.



Begriffsdefinitionen

Guerilla-Marketing ist die Kunst, den von Werbung übersättigten Konsumenten, grösstmögliche Aufmerksamkeit durch unkonventionelles bzw. originelles Marketing zu entlocken. Das gibt der deutsche Werbeprofi Thorsten Schulte (“Guerilla Marketing Portal”) als Definition des Phänomens. Er hält aber auch fest: Eine abschliessende Umschreibung eines sich rasch entwickelnden Trends gibt das nicht. “Anregungen, Ideen, kritische Kommentare und zukunftsweisende Optimierungen sind ausdrücklich erwünscht.”

Entstanden ist das Guerilla Marketing aus aus der Werbemüdigkeit heraus, die man seit einiger Zeit immer wieder beklagt. Das hat teilweise zu kleineren Budgets geführt und zu einem verschärften Kampf um Aufmerksamkeit. Thorsten Schulte versteht Guerilla Marketing denn auch als “übergreifende Philosophie, als Kunst, als das Ergebnis eines kreativen psychischen Prozesses, als die Strategie der Kriegsführung um die Aufmerksamkeit der Kunden, für die Marke und gegen die Wettbewerber. (…) Die Aktion und das “Handeln” erfolgt durch den physischen Einsatz unterschiedlicher Instrumente wie Ambient Medien, Ambush-Marketing, Viral-Marketing oder Guerilla Sensation / Ambient Stunts.”

Beispiel der Jungen SVP gegen die Personenfreizügigkeit
Nimmt man diese Grundhaltung auf, kann man die Aktionen von Lukas Reimann, SVP-Nationalrat aus St. Gallen, als Guerilla Marketing verstehen. Wenn die drei federführenden BundesrätInnen zur Medienkonferenz aufrufen, mischte er sich auf dem Weg dorthin persönlich unter die Regierungsmitglieder, um die Botschaften der Gegnerschaft zu plazieren. Selbstredend ist eine Gratiszeitung dabei, auch ein Videoteam, das die Aktion in die Massenmedien bringt und im Internet festhält.

Die neueste Aktion, der Fake der Website der Jungparteien für die Personenfreizügigkeit, hat einen lockeren Bezug zum Guerilla Marketing. Doch auch hier geht es nur darum, den Kampf mit allen Möglichen Mitteln um Aufmerksamkeit zu gewinnen. Die Aktion ist die Botschaft selber. Die Verhöhnung der Gegner ist das Ziel, nicht die Diskussion mit ihm.

Je klarer und prominenter der Regelverstoss dabei ist, desto grösser sind die Chancen, dass die Aktion selber in die Kampagnendiskussion aufgenommen wird. Deshalb ist sie nicht einfach eine Jahresendidee einer Werbebude. Vielmehr steht ein Nationalrat gerade. Denn genau das zieht den Medienfocus an.

Eine Eigenheit von SVP-Kampagnen sei noch angefügt. Wer als Reaktion auf die Guerilla Aktion mit Klagen droht, wird gleich als Zensor verschrien. Obwohl es um Argumente gehe, meint Reimann. Zynismus pur, sage ich da!

Claude Longchamp

Der Beitrag von 10vor10 zum Guerilla Marketing der SVP

Einfache und entwickelte Ansätze der Abstimmungsanalyse

Der einfachste Ansatz der Analyse von Abstimmung geht von der Annahme aus, dass die vom Parlament beschlossenen Vorlagen von den Kräften bestimmt werden, welche die Wahlberechtigten gewählt haben, sodass sich diese als Stimmberechtigten gleich wie das Parlament entscheiden.


Uebersicht über die zentralen Zusammenhänge für die Abstimmungsanalyse gemäss Dispositionsansatz (quelle: gfs.bern)

Das ist zwar nicht generell falsch, aber nicht präzise genug. Immer wieder gibt es Divergenzen zwischen parlamentarischen und direktdemokratischen Entscheidungen. Diese kann man ohne eine Analyse der Prozesse der Meinungsbildung nicht verstehen.

Deshalb kritisiere ich Modelle wie zitiert entweder als basis- oder aber als elitedemokratisch überzeichnet. Sie entsprechen der vorfindbaren Realität nicht. Es gilt, den restringierten Ansätzen der Abstimmungsanalyse einen elaborierten gegenüber zu stellen.

Der wesentliche Unterschied zwischen der einfachen und der entwickelten Annahme besteht darin, das Wahlentscheidungen nicht frei von Mal zu Mal erfolgen, sondern sich viel Gewohnheit in ihnen spiegelt. In Abstimmungsentscheidungen hilft diese Wahlgewohnheit aber nur bedingt weiter. Das ist vor allem dann der Fall, wenn man sich durch Vorlagen wenig angesprochen fühlt, und die Entscheidung den politischen Parteien überlässt.

Wenn das nicht der Fall ist, gehen die Stimmberechtigten von ihren Alltagserfahrungen mit dem angesprochenen Problem, den vorgeschlagenen Lösungen und den Träger der Vorlage aus. In einem eigentlichen Meinungsbildungsprozess reichern sie diese mit spezifischen Informationen aus den Kampagnen Pro- und Kontra an, die im Umfeld der Abstimmungssituation bewertet werden. Erst daraus ergeben sich verbindliche Abstimmungsentscheidungen.

Deshalb sind Abstimmungsprognose viel anspruchsvoller zu erstellen als Wahlprognosen. Entscheidungen bei Volkabstimmungen sind nicht alleine eine Folge von Parlamentsentscheidungen und Parteiloyalitäten. Ihnen gehen Prozesse der Meinungsbildung voraus, in denen sich die Prädispositionen und Informationen zu einer Entscheidung verdichten.

Weil der Prozess der Meinungsbildung in diesem Ansatz so entscheidend ist, habe ich ihn Dispositionsansatz genannt. Disposition meint dabei, die Herausbildung von Stimmabsichten aus den Alltagserfahrungen einerseits, den kampagnespezifischen Informationen anderseits.

Claude Longchamp