Mathematische Coolness und Verhandlungsgeschick: ein Porträt von Staatssekretär Michael Ambühl.

Die relative Bedeutungslosigkeit der Schweiz war lange Zeit ein Vorteil. Sie gilt als zu klein, um weh zu tun. Geht es aber ums Verteidigen von Schweizer Eigeninteressen, ist das Federgewicht ein Nachteil, schreibt die Hamburger “Zeit” in ihrer Schweizer Ausgabe dieser Woche. Aufhänger für den Befund ist ein Porträt von Matthias Ambühl der als Schwergewicht der Schweizer Diplomatie einen Ausgleich schaffen soll.

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Seit 27 Jahren ist Michael Ambühl im diplomatischen Dienst. Er wirkte in Kinshasa und Dehli, bevor er nach Brüssel entsandt wurde. Dort betreute er in verschiedenen Funktionen die Verhandlungen zu den Bilateralen. Zuerst war er für die Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe zuständig, dann Chefunterhändler für die Bilateralen II. Dieser Erfolg brachte den damals 54jährigen 2005 an die Spitze der Schweizer Diplomatie.

Im Vordergrund steht er nicht; das sei die Aufgabe von Aussenministerin Micheline Calmy-Rey, meint Ambühl. Trotzdem avancierte er 2009 zum führenden Krisenmanager der Schweizer Aussenbeziehungen. “Usain Bolt der Aussenpolitik” titelte ein Boulevard-Blatt, als es die viel gefragte Personen Ambühls vorstellte. In der Tat: Selbst an der 50-Jahr-Feier der Gründung der Schweizerischen Vereinigung für politische Wissenschaft in der Schweiz hielt der vielseitige Staatssekretär das Hauptreferat.

Die wichtigste Voraussetzung für sein Verhandlungsgeschick sieht Ambühl nebst der diplomatischen Ausbildung in seinen analytischen Fähigkeiten. Ausgebildet wurden sie beim an der ETH Zürich. Seine Doktorarbeit widmete er der Spieltheorie, die in Wirtschafts- und Politikwissenschaft für anhaltende Furore sorgt. Das Denken, Wollen und Handeln des Gegenüber vorwegnehmen zu können, bezeichnet er als seine Stärke. Doch darf diese Kompetenz nicht nur theoretisch ausgebildet sein. Sie muss sich auch in der Praxis bewähren. Dossierkenntnisse sind eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung, sagt der promovierte Mathematiker. Denn die Komplexität der Materie muss reduziert werden – auf das Verhandelbare. Am liebsten hat er es, wenn es dabei um eine Zahl geht. Der Rest sei dann Verhandlungspsychologie auf oberster Ebene.

Das bewies Staatssekretär Ambühl diesen Sommer, als es um das UBS-Abkommen zwischen der Schweiz und den USA ging. Die skeptischen Amerikaner gewann er für eine aussergerichtliche Lösung, indem er in der Sache den Schweizer Standpunkt vertrat, aber Nachverhandlungen zuliess, sofern die USA nicht bekomme, was sie erwarten durfte. Das wirkte und die Forderung nach Offenlegung von 52000 Datensätze verringerte sich auf die bekannten 4450 Fälle. Das war einer seiner Erfolge, aufgemuntert von Aussenministerin Calmy-Rey, die im per SMS unterstützte: “Ne lachez pas!”, schrieb sie dem Beharrlichen nach Washington.

2010 wird Ambühl die Arbeit nicht ausgehen. Denn nach dem Schweizer der Libyen-Mission von Hans-Rudolf Merz wurde er zum Chefunterhändler in Sachen Schweizer Geiseln in Tripolis ernannt. Grundsätzlich scheint er gleich rational wie immer vorgehen zu wollen. Und wie immer sind dazu die Medien ungeeignet. “Schreiben Sie, ich sei hier nicht sehr gesprächig”, sagt er dem staunenden Journalisten der “Zeit”. Und lacht.

Zur Zukunft des Regierungssystems der Schweiz.

Der Aargauische Jugendparlament, Juvenat genannt, lud mich ein, eine Auslegeordnung über die Zukunft des Regierungssystems der Schweiz zu machen.

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Das Referat hatte drei Teile: Eine Herleitung der Konstanten im Regierungssystem der Schweiz, ein summarischer Ueberblick über die aktuelle Kritik, und eine Auslegordnung von Reformvorschlägen für den Bundesrat.

Bei den Vorbereitungen hierzu wurde mir wieder einmal klar, wie deutlich die Schweiz den Weg einer bürgerlichen geprägten Republik gegangen ist, dass diese früh und weitergehend als andere demokratisiert worden ist und dass das in hohem Masse zum heutigen Konkordanzsystem geführt hat.

Von Konsensdemokratie mag ich nicht mehr sprechen. Denn die Polarisierung der Schweizer Politik, namentlich unter dem Eindruck der europa- und aussenpolitischen Oeffnung verträgt sich nicht mehr mit dieser Kennzeichnung. Dennoch sprechen die plurikulturelle Zusammensetzung des Landes und der Referendumsdruck unverändert dafür, das Regierungssystem auch inskünftig nach den Spielregeln der Konkordanz auszugestalten.

Das sehe ich allerdings nur als äusseren Rahmen. Der innere Rahmen sollte durch die aktuellen Herausforderungen bestimmt sein. Und diese leitenden sich aus dem Handlungsbedarf der dauerhaften Interessenvertretung in einer interdependenten Welt ab.

Die aktuellen Reformvorschläge habe ich neutral vorgestellt, sie aber in diese Rahmungen gestellt; konkret habe ich behandelt:

. Veränderungen in der Führung des Bundesrates (gestärktes Präsidium, Einführung einer zweiten Ministerebene für Sachgeschäfte, Erhöhung des Zahl des Bundesrates)
. Veränderungen in der Wahl des Bundesrates (Listenwahl, Volkswahl)
. Veränderungen in der parteipolitischen Zusammensetzung des Bundesrates (Proportionalisierung, kleine Konkordanz).

Klar wurde mir dabei, dass die Focussierung der Reformvorschläge auf arithemtische Konkordanzregeln nicht genügen. Es braucht eine umfassendere Betrachtungsweise und den Einbezug von inhaltlichen Ueberlegungen, wie der Bundesrat strukturiert, konstituiert und bestückt wird.

Die Diskussion mit den VertreterInnen des Jugendrates war ganz anregend. Sie zeigte mit, dass die öffentliche Diskussion gerade bei den Interessierten der kommenden Generationen den Eindruck geweckt hat, dass etwas gehen muss. Bis eine konsolidierte Stossrichtung vorliegt, braucht es aber auch in diesem Bevölkerungsteil noch viele Diskussionen.

Claude Longchamp

Der Machtpoker ist eröffnet

Kaum sind die jüngsten Bundesratswahlen in der Schweiz vorbei, beginnen die Planspiele für den kommenden Machtpoker. Spätestens für das Wahljahr 2011 zeichnen sich verschiedene Angriffe auf die jetzige parteipolitische Zusammensetzung der Bundesregierung ab, denn es gibt 10 Ansprüche, aber nur 7 Sitze.

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Selbstredend fühlt sich die SVP als wählerstärkste politische Partei in der Schweiz untervertreten. Doch steht im Raum, dass sie daran nicht unverschuldet ist, hat sie doch Evelyne Widmer-Schlumpf aus der Partei ausgeschlossen. Mit einer Aufstockung auf zwei Sitze ist deshalb nur zu rechnen, falls sich die beiden zerstrittenen Parteien untereinander arrangieren oder die Bündnerin nicht mehr im Bundesrat ist. Das kann durch Rücktritt oder Abwahl erfolgen. Genau dieses Ziel verfolgt die SVP, braucht dafür aber nicht nur die FDP, sondern eine Mehrheit der Bundesverammlung. Ohne eine Avance zugunsten einer weiteren Partei geht das wohl nicht. Mit einem Angriff der SVP auf die BDP resp. auf Widmer-Schlumpf ist deshalb erst nach den nächsten Parlamentswahlen zu rechnen.

Spätestens mit der Vorbereitungen der jüngsten Bundesratswahlen wurde offensichtlich, dass die BDP ihre Position zwischen FDP und CVP hat und es sich mit beiden Parteien nicht verderben will. Schafft sie es 2011 nicht, elektoral vor den Grünen zu liegen, dürfte ihr Sitz in der Bundesregierung erheblich wackeln. Aus der ungemütlichen Situation könnte sich die Partei befreien, wenn sie sich an eine der beiden anderen bürgerlichen Regierungsparteien anlehnt. Momentan hat die CVP das grössere Interesse an einer solchen Allianz, könnte diese auf diese Weise das Zentrum verstärken und bei einem späteren Rücktritt Widmer-Schlumpf den frei werdenden Sitz für sich reklamieren. Ganz auszuschliessen sind solche Ueberlegungen aber auch bei der FDP nicht, jedenfalls dann nicht, sollte es zu einem vorzeitigen Rücktritt von Hans-Rudolf Merz kommen und es der FDP misslingen, den Sitz selber zu behalten. Denn dann könnte es auch für die FDP interessant werden, mit der BDP zu koalieren, um sich bei der Nachfolge der Bündner Bundesrätin selber zu empfehlen. Wie auch immer, dieses Planspiel dürfte bis zu den Wahlen 2011 aktuell bleiben. Fast sicher steht es danach zur Debatte.

Sollte Hans-Rudolf Merz als Folge der anstehenden Aufarbeitung der Libyen-Krise zurücktreten, ist mit dem Angriff der Grünen zu rechnen. Ihre 2+1-Strategie lautet, mit der SP die ökologisch-soziale Linke im Siebnergremium zu stärken. Begründet werden kann es mit dem eigenen WählerInnen-Anteil, sind die Grünen nach Nationalratsproporz näher an einem Sitz als die FDP an zwei Sitzen. Die Schwäche der Strategie besteht indessen darin, dass letztlich keine dritte Partei an einem solche Vorgehen Interesse haben dürfte: die FDP sicher nicht, die SVP nicht und die CVP kaum. Bleibt ein grüner Angriff auf die rote SP; das könnte die rechte Seite durchaus freuen, würde links aber kaum verstanden.

Damit eröffnen sich vier Szenarien für die kommenden zweieinhalb Jahre:

Erstens, bis Ende 2011 kommt es angesichts des multiplen Drucks auf die Bundesratszusammensetzung zu keinem Rücktritt und damit auch zu keiner weiteren Bundesratswahl vor den nächsten Parlamentswahlen. Alles bleibt, so wie es ist, selbst wenn viel geredet und geschrieben wird.
Zweitens, bei den kommenden Parlamentswahlen gibt es klare Gewinner und Verlierer, sodass es starke Hinweise gibt, wer im Bundesrat vermehrt oder abgeschwächt vertreten sein sollte. Davon könnten die SVP und die Grünen profitieren, die BDP und die SP jedoch die Zeche bezahlen.
Drittens, die Bundesratswahlen von 2011 verlaufen nicht vorhersehbar; sie bringen das Ende der Konkordanz unter den politisch divergenten Lagern. Das politische System entwickelt sich in Richtung Regierung/Opposition, wobei voraussichtlich die Linke als Erstes in den sauren Apfel beisst.
Viertens, die Zahl der Sitze im Bundesrat wird mit der Regierungs- und Departementsreform erhöht, sodass Platz für eine neue Konkordanzformel entsteht – zum Beispiel so: die drei grösseren Parteien je zwei, die drei kleineren je einen Sitz erhalten.

Und noch etwas: Die zurückliegende Bundesratswahl hat gelehrt, dass es nicht nur um parteipolitischen Ueberlegungen geht, sondern auch um solche der Sprachregionen. Eine Partei kann ihre Chancen, bei einer Wahl zu gewinnen, erhöhen, wenn sie von Beginn weg nicht nur an Sitze, sondern auch an Personen denkt, die dem entsprechen.

Claude Longchamp

Ueber die positiven Zeichen des Entscheids für Burkhalter hinaus Bundesratswahlen neu denken

Drei Tage nach der Wahl von Bundesrat Didier Burkhalter legt der emeritierte Politologie-Professor Wolf Linder eine erste Diagnose zu den Bundesratswahlen der Gegenwart vor, und macht er im newsnetz-Interview auch Vorschläge, wie die bisherigen Strukturen und Prozesse weiter entwickelt werden müssten, um wieder stabile Regierungsverhältnisse zu garantieren.

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Wolf Linder, zwischen 1987 bis 2009 Inhaber des Lehrstuhles für Schweizer Politik in der Bundesstadt Bern

Burkhalters Wahl habe drei positive Zeichen gesetzt, bilanziert Wolf Linder, in jungen Jahren SP-Politiker und Thurgauer Richter: Alle Parteien hätten betont, Konkordanz sei unverändert wichtig. Mehrere hätten auch transparent gemacht, wie sie stimmen werden, um Intrigen zu vermieden. Und der Bundesrat habe in seinem Herzen einen Anhänger der Regierungsreform mehr.

Der Verfasser des Standardwerkes “Schweizerische Demokratie” widerspricht der Auffassung, die Konkordanz sei heute brüchig, betont aber ihren anspruchsvollen Charakter. Jahrelang habe es nur die bürgerliche Konkordanz gegeben. Heute gäbe es wechselnde Mehrheiten aufgrund punktueller Absprachen im Bundesrat. Genau deshalb zieht Linder die arithmetische Konkordanz vor. Sie verhindere Diskriminierungen der politischen Ränder, weil sie sich parteipolitisch neutral auswirke. Dabei bevorzugt der Politologe die Parteistärken als Entscheidungsgrundlage, weil sie dem Demokratie-Prinzip verpflichtet seien.

Um den Handlungsspielraum des Parlaments nicht einzuschränken, wendet sich der emeritierte Berner Professor gegen jede Vorauswahl von KandidatInnen durch ihre Parteien. Ziel der Bestrebungen, Bundesratswahlen wieder berechnbarer zu machen, sei die gegenseitige Sitzgarantie bei freier Personenwahl. Das müsse letztlich auch für Abwahlen gelten.

Wolf Linder erwartet, dass eine Stabilisierung der parteipolitischen Beistzansprüche nicht auf der alten 2:2:2:1-Formel zustande kommt, sondern erst dann, wenn die erstarkten Grünen ihren Platz im Bundesrat gefunden haben. Aus seiner Sicht werde das zu Lasten der Mitte-Parteien gehen. Darüber hinaus schliesst er nicht aus, dass dereinst auch die SVP drei der sieben Sitze beanspruche könnte. Die Ansprüche von Parteien, die sich aus WählerInnen-Gewinnen ergeben, müssten allerdings nicht sofort eingelöst werden, sondern erst, wenn die Parteistärken über mehr als eine Wahl hinaus konsolidiert seien.

Bezogen auf die Regierungsreform fordert Linder eine aktivere Rolle des Bundespräsidenten. Verbessert werden müsse die Kommunikation, Verstärkung brauche auch die Zusammenarbeit. Die Rolle des Vorsitzenden werde inskünftig sein, nicht selber Aussenpolitik zu betreiben, sondern die vielfach mit dem Ausland verbundenen Geschäfte aller Departement besser zu koordinieren. Das Hauptproblem ortet der jüngste Pensionär unter den Politologen im Mangel an Zeit, um aus der departementalen Perspektive heraus eine kohärente Gesamtpolitik des Bundesrates zu entwickeln.

Wolf Linder entwickelt damit über die ersten Kommentare hinaus eine ausgeglichene Gesamtschau auf den Stand und die Perspektiven von Bundesratswahlen. Er ist und bleibt ein Anhänger der (grossen) Konkordanz als System und der wechselnden Mehrheiten, die flexible Politik ermöglichen. Polarisierungen steht er nicht ablehnend gegenüber, erwartet aber eine höhere Koordinationsleistung. Noch nie so pointiert gehört habe ich die Forderung, die Bundesversammlung in ihrer Personenwahl (ausser hinsichtlich des selbstredenden Sprachenproporzes) gar nicht einzuschränken.

Claude Longchamp

Die SVP bremst die BDP aus

Mit den Nominationen für den Berner Regierungsrat ist Einiges geklärt worden. Bei den Empfehlungen bleibt aber unverändert Vieles unklar. Das wirft auch ein Licht auf die Chancen der BDP, sich auf kantonaler wie nationaler Ebene als Regierungspartei zu halten.

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Nationalrat Rudolf Joder, Parteipräsident der kantonalbernischen SVP, hält nichts von einer gemeinsamen bürgerlichen Unterstützung für die BDP

Rotgrün besetzt im Kanton Bern derzeit vier der sieben Regierungssitze; geht es nach dem Willen der SP und der Grünen soll das auch in Zukunft so bleiben. Auf bürgerlicher erhebt die SVP als grösste Partei im rechten Lager Anspruch auf zwei Sitze; gleiches will die FDP. Ds wäre ein Plus von je einem Sitz. Die BDP schliesslich möchte ihren Sitz behalten, den sie durch Parteiübertritt geerbt hat.

Im schlechtesten Fall machen die drei bürgerlichen Parteien drei Sitze im Berner Regierungsrat, im besten fünf. Vier sind nötig, um die Wende einzuleiten, welche die Wirtschaftsverbände erwarten.

Ganz in diesem Sinne ist vor Kurzem die FDP vorstellig geworden. Wenn die anderen Parteien Gegenrecht halten, wolle sie alle bürgerlichen KandidatInnen zur Wahl empfehlen. Die BDP schloss sich dem postwendend an. Denn die beiden kleineren bürgerlichen Parteien können davon nur profitieren.

Nun lässt die SVP des Kantons Bern selbstbewusst verlautet, dass sie nicht mitmacht. Ein Support für die FDP reiche für die Wende. Die BDP-Kandidatin brauche es hierzu nicht. Ihre Partei habe sich vor Jahresfrist von der SVP abgespalten; seither politisiere sie in Konkurrenz zur SVP.

Die SVP bleibt damit sich selber treu. Denn nach ihrer Leseart ist die BDP nur ein Zwischenspiel – entstanden durch die Wirren nach der Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat. Sie soll so schnell wie möglich wieder von der Bildfläche verschwinden: als Erstes im Regierungsrat, als Zweites im Ständerat und danach auch in den kantonalen und nationalen Volksvertretungen.

Das hier aufgegriffene Thema ist nicht nur eine innerbernische Angelegenheit. Denn nächsten Jahr stehen für die BDP entscheidende kantonale Wahlen auch ïn Fraubünden und Glarus an. Da wird sich zeigen, wie stark die jüngste politische Gruppierung in der schweizerischen Parteienlandschaft ist. Umfragen sprechen von 3 bis 4 Prozent WählerInnen-Anteil. Ohne eine sichtbare Steigerung wird es 2011 für die BDP eng, um den Anspruch der Partei auf den Sitz von Evelyne Schlumpf im Bundesrat verteidigen zu können. Enger, als der Partei lieb sein kann.

Claude Longchamp

Nun beginnt das Rechnen!

Die Fraktionen in der Schweizerischen Bundesversammlungen haben sich festgelegt, wie sie bei der Bundesrtatswahl von morgen stimmen wollen. Wenigstens anfänglich, denn danach bleiben gewisse der Szenarien aktuell. Massgeblich ist der dritte Umgang.

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Die Ausgangslage in den Fraktionen
59 Mitglieder der SVP-Fraktion wollen für den FDP-Kandidaten Christian Lüscher stimmen. 2 sind für Didier Burkhalter. Von 4 VertreterInnen weiss man nichts.

Bei der CVP ist die Sache klar. Fraktionschef Urs Schwaller wurde einstimmig nominiert. Gibt es keine Abtrünnigen unter GLP und EVP, hat er 52 Stimmen auf sicher.

Bei der SP-Fraktion sind 25 Mitglieder für den CVP-Kandidaten Urs Schwaller, und 15 für den FDPler Didier Burkhalter. Von 10 Personen weiss man nichts, und 1 Sitz ist vakant. Generell hat man sich ausgesprochen, offizielle Kandidaten zu unterstützen.

Nicht eindeutig ist das Verhalten der FDP-Fraktion. Didier Burkhalter ist der Favorit der Fraktion. Christian Lüscher ist der Aussenseiter. Doch beide sind sie KandidatInnen. Damit können die FDP-Mitglieder von Beginn weg ihre individuellen Präferenzen ausdrücken oder auch taktisch stimmen. Und genau darauf kommt es an!

Die Grünen haben die Stimmenverhältnisse in der Fraktion nicht bekannt gegeben. Eine Mehrheit will aber den CVP-Vertreter Urs Schwaller unterstützen. Minderheiten sind für Didier Burkhalter resp. für Dicky Marty. Damit hat Schwaller wohl ein gutes Dutzend grüne Stimmen auf sicher, Burkhalter und Marty wohl ungefähr 5.

Die BDP gab ebenfalls nicht bekannt, wie sich die Stimmen verteilen. Doch ist eine Mehrheit für Burkhalter, eine Minderheit fü Schwaller. Das tönt nach 4:2.

Die Rechnungen
Damit kann man mit rechnen beginnen. Im ersten Wahlgang dürfte Urs Schwaller vorne liegen. Er kann auf 90 bis 100 Stimmen zählen. Wer an zweiter Stelle ist, hängt allein vom Entscheid der FDP-ParlamentarierInnen ab. Setzen alle auf Burkhalter kommt er auf rund 75 Stimmen, und Lüscher macht rund 60. Teilen sich die Stimmen auf, kann Lüscher mit rund 80 Stimmen rechnen, Burkhalter mit 55. Marty dürfte deutlich dahinter liegen. 5, maximal 15 Stimmen sind denkbar. In den ersten beiden Runden ist gut möglich, dass Lüscher vor Burkhalter liegt, um die Karten nicht ganz aufzudecken.

Unter dieser Voraussetzung ist ein Vorschlag von Jean-François Rime aus den Reihen der SVP wenig wahrscheinlich. Denn damit ist nur zu rechnen, sollte es aus dem rotgrünen Lager viele Stimmen für Marty geben, sodass die FDP gezwungen werden könnte, umzuschwenken.

Der dritte Wahlgang ist entscheidend. Es können keine neuen Namen ins Spiel gebracht werden, und es beginnt ein Ausscheidugnsrennen nach hinten. Das ist der grosse Moment für die FDP: Wenn sie geschlossen auf Burkhalter setzt, ist er der Favorit für den Schlussgang, wenn nicht, steht Lüscher im Finale. Die FDP hat es also in der Hand, mit einer Stallorder den Blinker zu stellen.

Die einzige Möglichkeit, das zu unterlaufen: Einige Schwaller-Wählende leihen in diesem Moment Lüscher vorübergehend die Stimme, damit er vor Burkhalter liegt. Dann wenden sie sich aber von Lüscher weider ab.


Die verbleibenden Szenarien

Lüscher dürfte keine Stimme aus den Reihen von CVP, SP und Grünen erhalten. Steht er Schwaller gegenüber, dürfte der gewählt sein, denn bräuchte erhebliche Stimmenhaltungen bei Grünen und SP, dass Lüscher mit seinen Stimmen vorne liegen würde.

Ist dagegen Burkhalter im Schlussgang, kostet das Schwaller möglicherweise 20 Stimmen. Genau die, die es ausmachen, wer Bundesrat wird. Ausser etwa soviele in Reihen wissen nicht, wie man Burkhalter schreibt und legen leer ein …

Claude Longchamp

Meinungsumschwung gegenüber Bundespräsident Merz bestätigt

Wirklich überrascht ist man nicht, wenn man das heutige Politbarometer von “Sonntagszeitung” und “Le Matin” sieht. Doch hat man nun eine Bestätigung für den geradezu rapiden Meinungsumschwung der SchweizerInnen gegenüber ihrem gegenwärtigen Bundespräsidenten. Eine Rückblick auf die Ursachen.

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Doris Leuthard und Eveline Widmer-Schlumpf sind die gegenwärtigen Zukunftspolitikerinnen im Urteil der Schweizer Stimm- und Wahlberechtigten.

Im Herbst 2008 erlitt FDP-Bundesrat Hans-Rudolf Merz einen Herzstillstand. Doch kehrte er nach einigen Wochen absenz voller Optimismus ins Leben und in die Politik zurück, und wurde er turnusgemäss neuer Bundespräsident für das Jahr 2009.

Trotz Krisensignalen auf den globalen Finanzmärkten, horrenden UBS-Stützzahlungen und Aengsten der SchweizerInnen, ihre Arbeitsstelle zu verlieren, ritt Bundespräsident Merz im ersten Politbarometer des Jahres 2009 auf einer Popularitätswelle. 78 Prozent der repräsentativ ausgewählten Stimm- und Wahlberechtigten fanden im Februar dieses Jahres, er sei ein Politiker, der inskünftig eine wichtige Rolle einnehmen solle.

Die Aushandlung von Doppelbesteuerungsabkommen wegzukommen wie auch die Libyen-Krise wegen der vorübergehenden Verhaftung des Sohnes von Staatschef Moammar al-Qhadafi wären solche Profilierungsmöglichkeiten gewesen. Doch sie missrieten dem Appenzeller gründlich: Das erste Betätigungsfeld galt als reine Notmassnahme, um von der grauen Listen der OECD gestrichen zu werden. Und das zweite geriet zum totalen Fiasko für den unerfahrenen “Aussenpolitiker” Merz.

Genau das zeigt nun auch das Politbarometer, das Isopublic aufgrund einer Befragung in den letzten zwei Wochen bei 1002 repräsentativ ausgewählten Personen erstellt hat. Die Superwerte von Merz im Frühling sind auf 59 Prozent im Juni gesunken und haben zwischenzeitlich einen Tiefststand von 47 Prozent erreicht. Von der ersten Stelle unter den amtierenden Bundesräten wurde er bis an die sechste Stelle durchgereicht. Damit ist er nur noch vor seinem Parteikollegen Pascal Couchepin, der seinen Rücktritt bereits genommen hat.

Claude Longchamp

Das Tableau der Bundesratswahlen

Nun beginnt das Spekulieren zu den Bundesratswahlen. Das ist das Geschäft der Meinungsmacher. Die Analyse der Wahl setzt mit Vorteil auf das, was (un)klar, (un)wahrscheinlich und damit alles (un)möglich ist.

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Wie stimmt die Vereinigte Bundesversammlung am 16. September ab: Das hängt nicht nur von den Kandidaten, sondern auch von Taktik der Fraktionen ab, welche Favoriten es in die Schlussrunde schaffen.

Bundesratswahlen in der Schweiz kann man aufgrund der Positiv- oder Negativpräferenzen der ParlamentarierInnen analysieren. Ersteres zeigt sich normalerweise im ersten Wahlgang, wo man mit dem Herzen stimmt. Letzteres findet sich dagegen im Schlussgang, wenn sich nur noch zwei BewerberInnen gegenüber stehen und Taktik entscheidet.

Die Klarheiten
Nach der Nominationsphase steht die CVP steht klar hinter ihrem Fraktionspräsidenten, dem Freiburger Ständerat Urs Schwaller. Ziemlich klar sind die Kandidaten der FDP. Im Vordergrund stehen der Neuenburger Ständerat Didier Burkhalter und der Genfer Nationalrat Christian Lüscher. Als Aussenseiter kommen einige weitere Personen der FDP (wie Dick Marty oder Pascal Broulis) in Frage, die aber nicht offiziell nominiert sind. Die SVP ihrerseits behält sich bis zum letzten Moment vor, eigene Vorschläge zu unterbreiten; dafür hat sie den Freiburger Nationalrat Jean-Francois Rime in Stellung gebracht. Verzichtet haben die Grünen. Das klärt die Lage, gegenüber meinem ersten Versuch einer Auslegeordnung.

Die Unklarheiten
Für den entscheidenden Schlussgang gibt es vier Szenarien:

Schwaller vs. Lüscher: Das ist aus heutiger Sicht die sicherste Entscheidung. CVP, SP und Grüne stimmen geschlossen gegen Lüscher und damit für Schwaller. Der ist gewählt, weil die Allianz aus FDP und SVP, vielleicht auch einzelnen aus der BDP nicht reicht. Die klare parteipolitischen Polarisierung von Neuling Lüscher ist sein Vorteil als Kandidat für die rechtsbürgerlichen ParlamentarierInnen, gleichzeitig auch sein entscheidendes Handicap für die Bundesratswahl.

Schwaller vs. Burkhalter: Hier sind die parteipolitischen Ambivalenzen grösser, was für die FDP Chancen eröffnet, aber auch Risiken in sich birgt. Die Chance besteht darin, dass Burkhalter als perfekter Romand, der dem Konkordanz-Denken verpflichtet ist für eine Minderheit der Ratslinken wählbar ist. Die Grünen verbauen sich so die Chance nicht, 2011 selber mit einer Kandidatur antreten zu können. Die SP gibt Teile ihrer Stimmen der wählerstärkeren Partei, mit der Hoffnung, 2011 selber davon zu profitieren. Und die Romands riskieren keine Sprachendebatte wie im Fall einer Wahl Schwallers. Das Risiko der FDP besteht jedoch darin, dass Burkhalter nicht ins Kalkül der SVP passt. Die Partei könnte ihm deshalb die nötigen Stimmen versagen, um in den Schlussgang zu kommen. Das haben die SVP-Tenöre durchschaut, weshalb sie aufrufen, Burkhalter zu schreiben, auch wenn ihnen dabei die Hand anfällt.

Schwaller vs. Rime: Bei diesem Schlussgang hat Schwaller die besseren Karten. Die Ausgangslage ist ähnlich wie in der ersten Paarung, für die Rechte aber unsicherer. Denn die FDP dürfte nicht einhellig für die SVP und gegen sich stimmen. Enthaltungen sind wahrscheinlicher. Die einzige Chance von Rime wäre eine sichtbares Angebot an die linken Ratmitglieder, dass die SVP bei seiner Wahl die arithmetische Konkordanz erfüllt sieht und auf Angriffe gegen linke Bundesräte verzichtet.

Marty vs. Rime: Das ist die Paarung, wenn alles aus dem Ruder läuft. Die Linken favorisieren Marty, die SVP setzt auf Rime, die offiziellen Kandidaten fallen einer nach dem andern durch. Favorit ist in dieser Konstellation Marty, der mit den Stimmen von FDP/BDP, SP und Grünen gewählt werden kann. Rechnerisch reicht es Rime nur, wenn die CVP und die BDP für ihn votieren würde.


Die (Un)Wahrscheinlichkeiten

Natürlich sind die Szenarien nicht alle gleich wahrscheinlich.

Der wahrscheinlichste Schlussgang ist, aus der gegenwärtigen Sicht mit etwa 50 Prozent Sicherheit, die Paarung Schwaller vs. Burkhalter. Die FDP behielte dann ihren zweiten Bundesratssitz, weniger wegen ihrer gegenwärtigen performance, aber dank dem Profil von Burkhalter. Die Tendenz ist aber sinkend, weil die SVP sichtbar zögert, auf Burkhalter umzuschwenken.

Das spricht dafür, dass die Paarung Schwaller vs.Lüscher wahrscheinlicher wird. Die Probalität ist heute wohl 30 Prozent, Tendenz steigend. Die beiden anderen Szenarien erscheinen ins sich wenig durchdacht, und haben bisher keine eigentlichen Zugkraft entwickelt.

Eigentliche Prognosen sind momentan nicht möglich, weil sich bei weitem nicht alle schon festgelegt haben. Das bestätigen einem auch ParlamentarierInnen, die nichts zu kaschieren haben.

Claude Longchamp

Wirbel um Brief aus Libyen

Die Medien sind im Besitz einer Abschrift des Briefes, auf den sich Bundespräsident Hans-Rudolf Merz stets berief, als er von einer verbindlichen libyschen Zusicherung in Ausreise der zurückgehaltenen Schweizer Geschäftsleute sprach. Die Interpretationen des Inhalts gehen aber auseinander. Morgen früh nimmt sich die Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates der Sache an.

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Medienkonferenz in Tripolis zwischen den Vertragspartnern Libyen und der Schweiz zur Bereinigung der Konflikte zwischen den beiden Ländern

Mehrfach beteuerte Hans-Rudolf Merz nach seiner Rückkehr aus Tripolis, ihm sei vom libyschen Ministerpräsidenten Baghdadi al-Mahmudi mündlich und schriftlich zugesichert worden, die beiden Schweiz Geiseln seien bis Ende Monat wieder in der Schweiz. Gezeigt wurde das entscheidende Dokument der Oeffentlichkeit jedoch nicht. Beschuldigt wurde jedoch Libyen, nicht Wort gehalten zu haben, während dieses von einem Missverständnis schweizerischerseits spricht.

Nun zitiert die Online-Ausgabe der NZZ heute aus dem ominösen Schreiben vom 26. August 2009, in dessen Besitz die Zeitung gelangt ist. Der entscheidende Satz laute (übersetzt): «Ausgehend vom normalen Ablauf der Dinge in ähnlichen Situationen glauben wir, dass ihr Fall sehr bald entschieden sein wird und dass sie vor Ende Monat aus Libyen ausreisen können.»

Die Redaktion titelt in der heiklen Angelegenheit: “Libyens Premier hat von Ausreise der Geiseln gesprochen”. Im Text wird man dann deutlicher: “Eine explizite Zusicherung oder gar Garantie enthält das Dokument aber nicht.” Geri Müller, grüner Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates, interpretierte das in “10vor10” im Sinne von Merz als Zusage, während SVP-Hardliner Christoph Mörgeli, ebenfalls Mitglied der Kommission, dazu sagte: “Wenn ich ein Los der Landeslotterie kaufe, glaube ich auch, dass ich den Hauptgewinn habe.”

Der Wirbel ist perfekt. Die Medien kennen einen Brief, den die zuständige Kommission noch nicht gesehen und verarbeitet hat. Zwangläufig schiessen die Interpretationen ins Kraut, geht es doch um die Deutungshoheit. Morgen früh um 7 Uhr berät die Aussenpolitische Kommission des Nationalrates das zentrale Dokument in der Argumentation des glücklosen Bundespräsidenten.

Claude Longchamp

Der unverrückbare Kern der Konkordanz

Die Schweiz hatte mal eine Zauberformel zur Besetzung des Bundesrates. Zuerst verflog der Zauber, jetzt schwindet auch die Strahlkraft der Formel. Das ist der Zeitpunkt, Konkordanz neu zu verstehen.

Nach 2003 richteten sich die Parteien mehrheitlich an der arithmetischen Konkordanz aus. Die Parteistärke allein solle den Ausschlag geben, wie sich der Bundesrat zusammensetzt. Wie er dabei funktioniert, sei nicht so wichtig. Die aktuelle Fortsetzung dieser Diskussion steckt im Patt: Die FDP macht die Wählerstärke zum Massstab, und die CVP stützt sich auf die Fraktionsstärke.

Vordergründig klärt das Wahlbarometer der SRG SSR idee suisse, das heute erscheint, diesen Parteienzwist nicht. Denn sowohl WählerInnen-Anteile wie Fraktionsstärken interessieren nur Minderheiten. Selbstredend sind Prozentwerte bei der FDP-Wählerschaft wichtiger, Sitze im CVP-Elektorat. Und es sind auch nur Minderheiten, die sich für eine ganz bestimmte Partei ausprechen. Unter ihnen liegt die FDP vorne.

Hintergründig erhellt die Umfrage unter den Wahlberechtigten aber, in welche Richtung sich das Konkordanzverständnis des Elektorates entwickelt. Das Numerische an der Konkordanz ist keine Richtschnur mehr, eher noch eine negative Schablone: Die vier grösseren Parteien sollen, so die Mehrheit der Befragten, auf jeden Fall im Bundesrat vertreten sein. Ihre Sitzzahl genauso wie die fallweise Berücksichtigung anderer Parteien hängt jedoch von der Person der BewerberInnen ab.

Damit sind wir bei der einen Lehre aus dem aktuellen Wahlbarometer: Gefragt sind heute Persönlichkeiten. Man sehnt sich nach Politiker und Politikerinnen, die aufgrund ihrer Ausstrahlung, ihres Auftritts und ihrer Auffassungen zu überzeugen vermögen. Sie sollen das Land regieren. Die zweite Lektion lautet: Gefordert wird, dass die Parteien, die im Bundesrat vertreten sein wollen, zur Zusammenarbeit gewillt sind und dass sie – gerade unter dem Eindruck weltwirtschaftlichem und aussenpolitischem Druck – bereit sind, gemeinsam ein Programm zu realisieren, das der Schweiz dient. Bundesratsbeteiligungen sind nicht mehr eine Frage des Rechenschiebers, vielmehr eine der vertretenen Inhalte.

Das ist der unverrückbare Kern der Konkordanz, wenn es inskünftig um Bundesratswahlen geht.

Claude Longchamp

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