Widerstand gegen den Islam als neue Konfliktlinie im Parteiensystem Europas?

Der Anti-Islam-Reflex wird zum europäischen Phänomen, mit dem Wahlen gewinnt und die Regierungsbildungen beeinflusst. Ein wirksames Rezept dagegen wird eigentlich nirgends sichtbar, sodass man sich die Frage stellen kann: Ist das eine momentane Welle oder entsteht hier eine neue Konfliktlinie im europäischen Parteiensystem?

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Geert Wilders, führender Kopf der anti-islamischen Bewegung, die in ganz Europa rechtspopulistische Parteien erobert

Seit gut 20 Jahren ist der Rechtspopulismus in vielen europäischen Ländern mal schwächer, mal stärker, – aber eine feste Grösse. Das Neue ist, dass dabei nicht mehr einfach gegen die politische Klasse gewettert wird, auch nicht pauschal gegen AusländerInnen. Nein, neu ist, dass der Widerstand gegen den Islam zur mobilisierenden Kraft geworden ist.

Bis tief in die Mitte der Gesellschaft reicht die Angst, muslimische Zuwanderer könnten den Charakter europäischer Gesellschaften verändern. Selbst wenn die Anteile recht gering ist, Bilder, die eng mit dem Islam in Verbindung gebracht werden, wirken weit herum negativ: Steinigung von EhebrecherInnen stösst auf fast geschlossene Ablehnung, Burkas irrtieren weit herum, und Zwangsheiraten sind mit den Vorstellungen westlicher Liberalität mehrheitlich unvereinbar.

Wo Zukunftsängste angesichts global negativer Trend in Wirtschaft, Umwelt und Politik dominieren, grasiert die Verunsicherung, nicht mehr nur in den Unterschichten, vor allem auch in den Mittelschichten. Das ist der Nährboden für Stimmen zugunsten der neuen antiislamischen Populisten und ihrer Parteien. In der Schweiz, Ungarn und Italien sind sie Teil der Regierungsparteien geworden, in den Niederlanden, Belgien und Schweden hängen die Regierungsbildung von Verhalten der rechtspopulistischen ParlamentarierInnen ab, denn bürgerliche Koalitionen kommen ohne ungeliebte Angebote nach links oder Konzessionen an die Adresse der Rechtspopulisten auf keine tragfähigen Mehrheiten im Parlament.

Geert Wilders, der Niederländer, der so Einfluss auf die Regierung seines Landes nimmt, macht es vor, wie das neue politische Rezept funktioniert. Er setzt konsequent auf den Anti-Islam-Reflex, denn die neuen Islamophie bringt gegenwärtig mehr als die bekannte Xenophobie. Andere, wie die österreichische FPOe, setzen nach dem Vorbild der SVP auf Provokation im Internet oder Plakaten, um die Medienaufmerksamkeit im Wahlkampf für sich zu gewinnen und die öffentliche Debatte auf ihre Themen zu lenken. Genau das zwingt, bürgerliche wie sozialdemokratische Parteien, sich ihnen anzunehmen, in der Hoffnung nicht zu viel Terrain und WählerInnen zu verlieren. Kurzfristig ist das aber keine Erfolgsgarant, denn dort, wo die Probleme unterschätzt wurden, verstärkt dies das eingeleitete Rutschen der politischen Landschaft eher noch.

Bei den Europa-Wahlen 2009 machten die Rechtspopulisten in 10 Mitgliedstaaten mehr als 10 Prozent der Stimmen, in Grossbritannien sogar mehr als 20 Prozent. So wird aus dem anfänglich nationalen Phänomen ein internationales. Im Juli 2010 hat der weit gereiste Wilders seine Internationale Freiheits-Allianz gegründet, mit dem Ziel, den Islam zu stoppen und so die Freiheit zu sichern. Damit sollen die anti-islamischen Kräfte in ganz Europa, ja auch in den USA gebündelt werden. An diesem Wochenende tritt er in Berlin auf, um im Gefolge der Sarrazin-Debatte über die beklagte Selbstaufgabe Deutschlands für seine Sache zu werben. Ausflüsse der medialen Debatte hierzu sind bis in die Schweiz zu spüren. Ein Fingerzeig, was im Wahljahr 2010 auch hierzulande geschehen könnte, ist das allemal.

Darüber hinaus stellt sich die Frage: Entsteht gegenwärtig eine neue Konfliktlinie im Parteiensystem, welche von Dauer sein könnte? Analysen und Einschätzungen des jüngsten Phänomens in der europäischen Parteienlandschaft sind durchaus erwünscht!

Claude Longchamp

SVP am Scheideweg

Meine Prognose zur SVP war schon immer: Solange die SVP Wahlerfolge feiert, wird sie damit alle Probleme im Innern übertünchen können. Nun hat sie vor einer Woche erstmals richtig eine Wahl verloren – und die Probleme werden sichtbar. Eine Zwischenbilanz zur Lage der SVP.

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Informelle SV-Parteispitze, die ohne die Romands zu konsultieren, Vorgaben macht, die dann in den Gremien beschlossen werden.

Wer glaubt, die SVP serble nun automatisch vor sich hin, der oder die sei daran erinnert, dass der SVP seit 12 Jahren vorausgesagt wird, den Zenit überschritten zu haben. Doch jedesmal schaffte sie es, alle enttäuschten Anhänger, eilfertige Kommentatoren und und einäugige KritierInnen mit neuen Erfolgen zu überraschen.

Der Aufstieg der SVP zwischen 1995 und 2007 ist für das schweizerische Parteiensystem einmalig. Er ist unweigerlich mit Christoph Blocher als grossem Kommunikator verbunden, und er fällt in eine Zeit des antizipierten Wertewandels, ausgelöst durch Veränderungen im ökonomischen und politischen Umfeld. Dieses hat sich seit letzter Woche nicht verändert. Damit ist auch klar, dass das Potenzial für den Nationalkonservativismus in der Schweiz über Nacht nicht geringer geworden ist.

Die erste richtige Wahlniederlage nach dem epochalen Aufstieg der SVP im Kanton Fraubünden vor einer Woche kam mitten in die Diskussion rund um den Staatsvertrag zwischen der Schweiz und den USA. Das bisher gewohnte Krisenmanagement in dem Medien versagte. Deshalb geschah, was sich schon bei der Personenfreizügigkeit abgezeichnet hatte: Der monolithische Parteiblock beginnt zu wanken. Seither oszilliert die Parteispitze: “Zustimmung, um eine neue Unternehmenssteuer zu verhindern”, war der erste Schwenker weg von den rechtstaatlichen Bedenken. “Jein, weil das verlangte Ja nur mit einem Referendum in Frage komme”, lautete der zweite. Und schliesslich empfahlen Fraktions- und Parteispitze Stimmenthaltung, um die Vorlage im Parlament passieren zu lassen, worauf die SVP-Ständeräte ermöglichten, dass das Geschäft ohne Volksentscheid von der Traktandenliste gestrichen wird.

Wenn es zum Clinch zwischen Wirtschaftsinteressen und grundsätzlichen Positionen unserer Partei zur Schweizer Souveränität kommt, entscheidet sich Blocher immer zugunsten der Wirtschaft. So war es ja auch bei der Personenfreizügigkeit.
NR Oskar Freysinger

Jetzt mehren sich die Zeichen, dass die SVP nicht anders als alle anderen Parteien ihre Probleme hat. Erwischt hat es die Partei an ihrer vielleicht schwächsten Stelle: dem Verhältnis von deutsch- und französischsprachiger Schweiz. Letztere kennt das Gefühl zu verlieren seit den jüngsten Genfer Wahlen, bei denen sie vom MCG auf der rechten Seite überholt wurde. Seither droht ihr Präsident mit einer Ausweitung seine rechtsradikalen Bürgerbewegung in andere Kantone der Romandie. Für die deutschsprachige SVP ist das neu. Schwierigkeiten ergeben sich aber auch, weil in der informellen Parteispitze mit Blocher, Brunner und Bader kein Romands ist. Der Pfeil, den Yvan Perrin am Wochenende abschoss, zielte Richtung “Herrliberg” – und meinte Christoph Blochers Rolle als taktgebender Uebervater der Partei.

Die nächsten Parlamentswahlen 2011 sind die grosse Herausforderung für alle Parteien. Gewinnt die SVP auch diese Wahl, scheint vieles möglich: minimal, dass sie sie wieder zwei Sitze im Bundesrat beanspruchen und dies auch durchsetzen kann; maximal, dass es mit der Drohung der Volkswahl des Bundesrates zu einer Grundsatz-Debatte über Konkordanz und Bundesrat kommt, bei der die SP die Zeche bezahlt.

Verliert die SVP die Wahl jedoch, dürfte der Zwist zur Rolle von alt Bundesrat Christoph Blocher im eigenen Parteigefüge richtig losbrechen. Denn der Aufstieg der Partei, zahllose ihrer Erfolge in der Sache, aber auch die Kultur, die mit der jetzigen Parteispitze gelebt wird, sind zweifelsfrei das Produkt der Umwälzung, die mit CB. in Verbindung gebracht wird. Auslöser dürfte sein, dass der Parteispitze Machfragen wichtiger erscheinen als prinzipielle, also genau das, was man den bürgerlichen Verbündeten von gestern regelmässig vorwarf.

Diese Weichenstellung haben zwischenzeitlich auch die Zentrumsparteien verstanden. Und sie unterlassen nichts mehr, um die Prinzen-Rolle der Konkurrenz als bürgerlicher Herausforderer zu schmälern: Angefangen bei der Schattmattsetzung Ueli Maurers mit den Ueberarbeitungen des Sicherheitsberichts, bis hin zum Blockbildung, um die bürgerliche Mitte als Gegenstück zu den treibenden Polen zu stärken.

Das alles geschieht mit dem Ziel, der SVP die Lufthoheit über Wählerpotenzial 2011 streitig zu machen. Doch wie gesagt: mit alles anderem als sicherem Ausgang!

Von der Bi- zur Tripolarität der Schweizer Parteienlandschaft

Zwei unterschiedliche Konzepte der politischen Strukturierung haben die Parteien in den letzten Jahr angetrieben: Die breite Zusammenarbeit aller Regierungspartei zerfiel zuerst in eine Blockbildung “Bürgerlichen vs. erstarkte Linke”, dann immer mehr auch in eine “Alle gegen erstarkte SVP”. Beide Bi-Polarisierungen müssen im Politsystem der Schweiz auf die Dauer vermieden werden, wozu ein tripolares Parteiensystem einen Beitrag leistet.

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Mein Kommentar zur laufenden Debatte über die neue “Allianz der Mitte”


Bipolarisierungen in der jüngsten Vergangenheit

Die SVP hat als erste nach ihrem Wahlsieg von 1999 versucht, ihre sachpolitische Isolierung machtpolitisch zu überbrücken. Sie hat der FDP ein Angebot für eine gemeisame Politik von rechts gemacht. 2003 kam es – ganz in diesem Sinne – mit den Stimmen der SVP und FDP zur Doppelwahl von Christoph Blocher und Hans-Rudolf Merz in den Bundesrat, aber auch zu einer Blockade der Gremiums.

Die rechte Bundesratsmehrheit hatte im Parlament keine Entsprechung und erlitt in wichtigen Volksabstimmungen Schiffbruch. Mobilisiert wurde dafür eine rot-grün-schwarze Allianz, die 2007 mit der Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat erfolgreich war. Sachpolitisch zu wenig breit abgestützt, misslang es 2009 indessen, daraus eine Allianz zu bilden, welche der CVP zu Lasten der FDP einen zweiten Bundesratssitz gebracht hätte.

Beide Strategien der Bi-Polarisierung der Parteienlandschaft sind zwischenzeitlich gescheitert. Die FDP konnte ihre Serie von Wahlniederlagen nicht aufhalten, unverändert verliert sie, während die SVP gewinnt. Bei der CVP ist nicht auszuschliessen, dass das Zwischenhoch von 2007 schon vorbei ist, und selbst die letzten treuen nationalkonservativen Wählerinnen noch zur SVP wechseln.

Alte und neue Tripolarisierungen
So überrascht es nicht, dass man erneut über die Tripolarisierung der Parteienlandschaft nachdenkt. Erstmals war das Mitte der 90er Jahre der Fall, als das Nein zum EWR die EU-Beitrittsfrage aufs Tapet brachte. Um scharfe Gegensätze vermeiden zu können, entstand die Politik des Bilateralismus: wirtschaftspolitisch offen, staatspolitisch jedoch ohne Mitgliedschaften mit bindendem Charakter auf EU-Ebene.

Die SVP blieb diesem Projekt gegenüber skeptisch, weil sich die ausgelöste Dynamik nicht mehr aufhalten lässt. Die SP sah darin ihre Chance, gesellschaftlichen Modernisierung mit sozialpolitisch flankierenden Massnahmen durchzusetzen. Unübersehbar ist aber, dass diese Projekt als tragende Brücke über innenpolitischen Gegensätzen an seine eigene Grenze geraten ist.

Der neue Versuch hin zur Tripolarität des Parteiensystems braucht zunächst eine oder einigen Zukunftsvorhaben dieser Art. Deshalb ist es zu begrüssen, dass es sachpolitisch aufgegleist wird und Kerndossiers von FDP und CVP mit einer mittelfristigen Perspektive ins Zentrum gerückt werden. Priorität haben dabei die brüchig gewordenen Aussenbeziehungen der Schweiz, verbunden mit einer koordinierten die Wirtschafts-, Gesellschafts- und Staatspolitik.

Der Bundesrat kann jedoch nicht als übergeordnete Instanz der Parteienkoordination dienen. Das muss von den Parteien selber kommen. Mehrheiten für einen Pol sind nicht gut, vor allem nicht, wenn sie im Parlament nicht abgestützt sind. Das spricht gegen 4 Sitze für die Allianz der Mitte im Bundesrat, zumal eine Mehrheit bei den Parlamentswahlen 2011 nicht in Aussicht ist.

Das politische System als Rahmenbedingung nicht übersehen

Die politische nötige Erweiterung einer Allianz der Mitte kann auch zwei Arten geschehen: mit einem Uebergang zu einem Regierungs- und Oppositionssystem, oder mit wechselsenden Allianzen nach links und rechts, die ihre Zentrum aber in der Mitte und nicht an den Polen hat.

Ersteres wirkt attraktiver, hat aber Tücken: Der Föderalismus zwingt politische Projekte in der Regel politisch in der Mitte anzusiedeln. Die direkte Demokratie verstärkt diesen Effekt, indem politisch aktzentuierte Vorlagen in der Volksabstimmung scheitern.

Allianzen auf Regierungsebene, die nur noch fallweise entstehen, lassen demgegenüber Führung vermissen, fördern Personengerangel in der Regierung, und es mangelt ihnen an politischer Kohärenz, was nicht sinnvoll ist.

Gegenüber dem Status Quo braucht es eine Stärkung der Tripolarität des Parteiensystem könnte dem Abhilfe schaffen, indem es das Zentrum thematisch stärkt. Das wird aber nur mit Partner umsetzbar bleiben, und diese sollten ohne feste Ausgrenzungen nach links oder rechts erfolgen.

Denn das hat die allerjüngste Geschichte uns gelehrt: Selbst Parteien, die in die Opposition gehen, werden im Politsystem Schweiz damit rasch unglücklich und streben deshab bald wieder nach einem neuen Arrangement in Bundesrat.

Für eine Holding aus FDP, CVP und BDP

Eine Woche nun diskutiert man in der Schweiz, ob es eine Allianz der Mitte gibt, und was es dafür bracht. Die NZZ am Sonntag verweist auf den nötigen Ueberbau, den es über den Zentrumsparteien bräuchte, um konstant koordinierte Politik zu betreiben.

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Felix Müller, Chefredaktor der NZZaS

“Debattiertklub”, nennt Felix Müller, Chefredaktor der NZZ am Sonntag” die “Allianz der Mitte” in ihrem gegenwärtigen Zustand leicht despektierlich. Der Idee an sich steht er aber deutlich positiver gegenüber. Denn das Zentrum ist die stärkste politische Kraft in der Schweiz. Doch ist sie, so der hauptsächliche Befund, chronisch zersplittert. Parallel zu ihrer Atomisierung nimmt ihr politischer Einfluss nicht zu, sondern ab.

Müller plädiert dafür, die Latte höher zu legen. Für eine Koalition brauche es einen institutionellen Rahmen. Was in der Wirtschaft eine Holding sei, biete biete in der Politik die Fraktionsgemeinschaft. Denn alles andere zerbricht frühestens bei ersten Belastungsprobe und zerberste spätesten bei ultimativen Elch-Test, den Bundesratswahlen.

Statt einer Zweckallianz von Fall zu Fall fordert Müller in seinem Wochenkommentar eine Koalition aus FDP, CVP und BDP, welche diesen Namen verdiene. Damit geht er klar weiter als CVP-Präsident Christophe Darbelley, und ist er auch konkreter als Fulvio Pelli.

So nachvollziehbar dieser Schritt ist, übersieht man gerne die Nachteile, welche die nationalen PolitikerInnen abhalten. Die Beiträge an die Fraktionen sinken so, was die Allgemeinheit freut, sich aber nicht die PolitikerInnen. Und ihe Redeanteile verringern sich ebenfalls, wie Andreas Ladner, Politologie-Professor in Lausanne, diese Woche richtig analysierte.

Immerhin fem. nimmt die dritte der Forderungen, die seit der Publikation der Allianz der Mitte vor einer Woche im Raum steht, zurecht auf, bevor sie in Vergessenheit gerät. Denn sie ist weniger spektakulär als die Sitzzahl im Bundesrat, aber umso wichtiger, wenn man sachorientierte Politik auf dauer betreiben will.

CVP: sachpolitisch Schritt für Schritt vorankommen

Die CVP will die Zusammenarbeit in der Sache vom Zentrum aus erneuern, um zu sehen, ob die BürgerInnen auf die Zentrierung der Schweizer Politik positiv reagieren, und die Mitte-Parteien 2011 stärken.

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Christophe Darbellay, CVP-Präsident, hätte es vorgezogen, wenn alle Beteiligten über die geplante Zusammenarbeit von FDP, BDP und seiner Partei öffentlich geschwiegen hätten.
“Allianz der Mitte” gefällt Christoph Darbellay besser, wenn er über die Zusammenarbeit seiner CVP mit FDP und BDP spricht. “Liberale Allianz” tönt ihm nämlich zu stark nach FDP. Die wiederum mag die Mitte nicht, spricht lieber von mitte-rechts. Einig ist man sich aber, dass es darum geht, die Kräfte zu sammeln, die regierungswillig seien. Das sind nach 2009, als FDP und CVP bei den Bundesratsersatzwahlen frontal aufeinander prallten, neue Töne.

Nachdem er einige Tage geschwiegen hatte, beteiligt sich nun auch Christophe Darbellay an der öffentlichen Debatte zum Machtkampf der Mitte-Parteien. Neuralgische Themen wie Armee, Ausländerpolitik und UBS-Staatsvertrag hätten gezeigt, dass SVP und SP vermehrt thematische Allianzen eingehen, obwohl sie in der Regel das Gegenteil voneinander wollen. Hauptsache sei, man bremse das Zentrum. Zudem scheuten beide Parteien nicht, regelmässig das Referendum zu ergreifen und Initiativen zu lancieren.

Dem will CVP-Präsident etwas gegenüber stellen. Er liebäugelte schon mit einer neuen Zentrumspartei. Und seine CVP führt gegenwärtig mit EVP und glp eine Zentrumsfraktion unter der Bundeskuppel. Das eine wirkt gegenwärtig zu utopisch und ist vor allem auf der kantonalen Ebene wenig realistisch; das andere könnte 2011 ein Ende haben. So erstaunt es nicht, dass man nach einer Alternative Ausschau hielt.

Für den Walliser Nationalrat sind die Parteiengespräche im Zentrum auf Sachpolitik beschränkt. Diese soll Schritt für Schritt entwickelt werden. Und sie müssen Abstimmungs- und Wahlerfolge ins Zentrum zurückbringen. Denn letztlich bleibt es das Ziel der CVP, aus eigener Kraft den Anspruch auf einen zweiten Bundesratssitz anmelden zu können. 2011 hatte man sich als Zeithorizont hierfür vorgenommen, als man nach der Abwahl von Ruth Metzler 2003 über die Bücher musste.

Die variable Geometrie der politischen Kräfte

Die SP kennt ihren Marktwert unter der Bundeskuppel. Sind sich die Bürgerlichen einig, was häufig der Fall ist, sind die Mehrheiten auch ohne SP-Support klar. Streiten sich aber SVP, FDP und CVP, ist das Zentrum namentlich im Nationalrat auf die Stimmen der SP, allenfalls auch der Grünen angewiesen. Das nennt man variable Geometrie der politischen Kräfte.

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Die laufende Debatte über den Staatsvertrag der Schweiz mit den USA zeigt exemplarisch, was gemeint ist. Von der SVP bekämpft, kann die SP Zustimmung signalisieren, dafür aber mit der Einführung einer Boni-Steuer den Preis diktieren. Das ist im Zentrum zwar wenig beliebt, weshalb man Entgegenkommen verspricht, ohne Verpflichtung eingehen zu wollen. Genauso so analysiert SP-Präsident Christian Levrat das.

Solange in der Schweiz Konsenspolitik betrieben wurde, kam diese Konstellation selbstredend nicht vor. Aktuell ist das im Nationalrat mindestens nicht mehr der Regelfall. Das blockiert zwar nicht alle Geschäfte, erschwert dem Zentrum aber die Arbeit. Alleine kann es im Bundesrat regieren, und es ist gut möglich, dass es dafür auch im Ständerat Sukkurs findet. Doch es droht ein Scheitern im Nationalrat, denn hier können so abgestützte Vorlagen zwischenzeitlich von SVP, SP und Grünen schon in den vorberatenden Kommission gestoppt werden.

Mit dieser Veränderung müssen FDP, CVP und BDP umgehen lernen. Denn es ist eine direkte Folge der Polarisierung bei den Wahlen seit 1995 mit den entsprechenden Veränderungen in den WählerInnen-Anteilen. FDP und CVP sind heute Schwächer als vor 30 Jahren.

Nicht zu verübeln ist ihnen, dass sie bestrebt sind, unter veränderten Bedingungen indessen ihre Schlagkraft zu erhöhen. Das begann nach den Wahlen 2007 mit Parteifusionen und Fraktionsgemeinschaften, fand seine Fortsetzung in der erhöhten Parteidisziplin und wird gegenwärtig mit der Allianzbildung im Zentrum fortgesetzt.

Genauso wenig sollte man aber auch die Polparteien beklagen, wenn auch sie sich heute strategischer verhalten und die Linke Forderungen stellt, wenn die SVP blockt, resp. diese Bedingungen nennt, wenn die SP und die Grünen nicht mitziehen wollen.

Das kann zwar zum Scheitern von Vorlagen führen, oder die Einsicht wachsen lassen, dass es für die Mehrheit in der Schweiz drei grössere Parteien braucht, die am gleichen Strick ziehen. Die BDP im Zentrum ist dafür kein Ersatz, weder parlamentarisch, noch direktdemorkatisch. Die drei, die die Politik führen, müssen allerdings nicht immer die gleichen sein, weshalb man es treffend auch die variable Geometrie der politischen Kräfte nennt.

Die heilige Pflicht der SVP

Nach der deutlichen Attacke, die FDP-Präsident Fulvio Pelli an die Adresse der SVP reiten konnte, gibt die NZZ Toni Brunner in der morgigen Ausgabe das Wort für eine Replik. Die SVP sei unschuldig, müsse die Machtbewahrer in der Mitte anklagen und habe die heilige Pflicht, alleinige Mahnerin auf weiter Flur zu sein.

SWITZERLAND/
Toni Brunner: Die FDP soll zuerst ihre Positionen klären, bevor sie anderen Parteien Vorschriften macht.

Der Allianz der Mitte gehe es nur um Machterhalt, kritisiert SVP-Präsident Toni Brunner seine bürgerlichen Kollegen unter den Parteipräsidenten. Vom Wähleranteil her sei der zweite Sitz im Bundesrat viel ausgewiesener als die vier der Mitte-Parteien. Doch stehe namentlich Pelli wegen seinem Lavieren in der Frage der Weissgeld-Politik unter Druck, gibt der SVP-Chef zurück. Deshalb schlage er momentan wild um sich, treffe er die Falschen.

Die SVP arbeite im Bundesrat loyal mit, habe aber als stärkste Partei nur einen Bundesratssitz, gibt Brunner zu bedenken. Deshalb müsse sie ihre Vorstellung auch anderweitig vorbringen und umsetzen. Man bleibe aber berechenbar, wenn auch unbequem, wie etwa bei der EU-Beitrittsfrage oder tabuisierten Migrationsthemen. Das alles sei “die heilige Pflicht der SVP”, gibt der SVP-Präsident der NZZ zu Protokoll.

Wie schon lange nicht mehr fliegen seit Tagen die Fetzen zwischen den Schweizer Parteispitzen. Denn seit die SVP im Winter 2009/2010 bekundet hat, bei einem Rücktritt von Hans-Rudolf Merz den zweiten Bundesratssitz der FDP anzugreifen, sieht sich der Partner in zahlreichen Kantonen national neu um. Von der Umklammerung der Lobbies versucht man sich seit Wochen zu lösen, und politische sucht man das Heil im Zentrum. Genau das ärgert die SVP. Denn ohne Verbündete in Regierung und Parlament sind ihre Position trotz hohem Wähleranteil für die Partei politisch nicht umsetzbar. Und so bleiben nur die Wahlen 2011, die eine Klärung bringen könnten. Bis dahin ist zu erwarten, dass die SVP ihrer heiligen Pflicht unvermindert nachkommt.

Alles nur Taktik? Schweizer WählerInnen auf dem Prüfstand

Romain Lachat, akademischer Wahlforscher an der Uni Zürich, widerspricht in einem Blogbeitrag zu einem seiner Forschungsartikel der vorherrschenden Interpretation der Schweizer Wahlforschung. Die Polarisierung der Parteienlandschaft sei stärker als die der Wählerschaft. Diese taktiere bei Wahlen vor allem.

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Romain Lachat: Schweizer WählerInnen wählen extremer als ihre Präferenzen, damit sich etwas in ihrem Sinn verändert.

Da es im Konkordanzssystem nur Minderheitsparteien mit einem begrenzten Einfluss auf die Regierungsposition gibt, können Wählende versucht sein, mit der Unterstützung von Parteien, die extremer als ihre eigenen Präferenzen sind, ihren eigenen Einfluss auf Entscheidungen zu vermehren, argumentiert Lachat. So sei die sachliche Polarisierung der schweizerischen Wählerschaft geringer als man aufgrund der Parteienpolarisierung annehme. Doch zeigten seine Analysen, dass das taktische Wählen im Sinne des “kopmensatorischen Wählens” seit 2003 zunehmen würde.

Nicht zuletzt hätte die damalige Veränderung der Regierungszusammensetzung gezeigt, dass man mit seiner Stimme mehr als nur die Parteistärken im Parlament festlegen könne. Das habe man zwischenzeitlich begriffen, weshalb der Zürcher Politologe glaubt, dass die Polarisierung der Wählerschaft werde 2011 nochmals zunehmen.

Lange Zeit war die akademische Wahlforschung bestimmt durch die Vorstellung, Issue-Voting sei alles entscheidend. Das hat auch das Selects-Projekt geprägt. Zwischenzeitlich sieht man vielerorts, dass das eine gewagte Annahme war. Gewagt ist es aber auch, dass nun durch ein anderes Leitmotiv der Forschung ersetzen zu wollen.

Insofern ist taktisches Wählen neben Themen- und Personenwählen nur eine Möglichkeit, Wahlentscheidungen zu analysieren. Und sie ist nicht einmal neu. 2006, als das Wahlbarometer konzipiert wurde, haben wir das als eine der Hypothesen aufgenommen, die wir (mit beschränktem Erfolg) testeten.

Bemerkenswert ist in der Tat die Polarisierung der schweizerischen Parteienlandschaft für die letzten 15 Jahre, die sich indessen abschwächt. Die SP verliert seit 2006 Wahlen, die Grünen spüren die Konkurrenz der glp in der Mitte und gewinnen nicht mehr automatisch. Das Erstarken der BDP als bürgerliche Kraft ist für gemässigte WählerInnen attraktiv, was FDP und CVP beschäftigt.

Es bleiben die Gewinne der SVP. Meiner Meinung nach sollte man sie weder als reine Themenwahl noch als reine Taktik (“Flugsand”, “Proteststimmen”) interpretieren, sondern als Ausdruck einer neuen politisch-kommunikativen Konfliktlinie. Diese ergibt sich aus dem Wandel der politischen Konkordanzkultur einserseits, dem Erstarken nationalistischer und nationaler Orientierungen anderseits. Beides führt zur Ausbildung eines eigenen Wertehimmels, eigener Verhaltensweisen mit zwischenzeitlich hoher WählerInnen-Bindung.

SVP provozieren, um dereinst gemeinsam der SP drohen zu können

Rechtzeitig aufs Wochenende geht Fulvio Pelli in Sachen bürgerlicher Allianz via Interview in der NZZ in die Offensive. Er setzt die SVP unter Druck, nicht zuletzt aber, um gemeinsam die SP fordern zu können.

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Fulvio Pelli: Für eine liberale Allianz der Regierungswilligen (Quelle: NZZ)

FDP-Präsident Fulvio Pelli nimmt dem Treffen seiner Partei mit der CVP und der BDP im Gespräch mit Martin Senti den Nimbus des Anrüchigen. Eingeladen habe die CVP, welche die Teilnahme von BDP eingebracht und die Auslassung von glp und EVP alleine entschieden habe. Die Treffen nennt er einbe bürgerliche Allianzbildung unter Parteien, welche die Schweiz mitregieren wollen. Ausgangspunkt sei die Instabilität des Regierungssystems, weil sich die SP nicht auf vernünftige Positionen einigen könne, und weil die SVP gar nicht mitregieren will.

Die bürgerliche Ausrichtung der Bundesregierung funktioniere sachpolitisch nur noch, weil die drei Parteien vier Sitze hätten. Die SVP verlange nicht zu unrecht einen weiteren Sitz, müsse dafür aber auch bereit sein, gemeinsame Positionen mitzutragen. Denn ohne das erleichtere man das Spiel der SP, von den bürgerlichen Parteien Konzessionen zu erzwingen.

Die jetzigen Gespräche seien in der Sache produktiver gewesen als frühere. Bei Personenfragen müssen man mit offenen Karten spielen, weil sonst nur mehr Probleme entstehen. Beschlossen habe man, dass Profilierungsübungen zwischen FDP, CVP und BDP aufhören. “Denn nur so könne man verhindern, dass unheilige Allianzen dereinst auch die Regierungspolitik blockieren.”

Die Schilderung der Gespräche aus Pellis Sicht nimmt ihnen die Dramatik. Seitenhiebe, vor allem an die Adresse der SVP wegen ihrer abnehmenden Regierungswilligkeit, geben ihr dennoch einen drive.

Das ganze erinnert an die Geburtsstunde der Zauberformel. Damals erpresste die BGB (Vorgängerpartei der SVP) die FDP und KK (Vorgängerpartei der CVP) mit Referendumsdrohungen, welche sich namentlich gegen die aussenwirtschaftliche Offenheit der Schweiz wandten. Das führte zur Inkorporierung der SP ins Regierungslager, was zwar Konzessionen ans linke Lager mit sich brachte, die Veto-Position der BGB aber schmälerte. Denn das bürgerliche Zentrum hatte nun zwei Möglichkeiten, einen Ausgleich zu finden.

Zwischenzeitlich drohen SVP und SP wieder regelmässig mit Referenden, und markieren sie und auch ihre Bundesräte abweichenden Position vor und nach gemeinsamen Entscheidungen. Das bringt das bürgerliche Zentrum regelmässig in die Bedrouille, aus der es sich befreien will. Sachpolitisch ist das gut nachvollziehbar, machtpolitisch hat man diese Woche einiges hinzugelernt.

Nun ist die SVP im Zugzwang, denn ihr gilt das Interview Pellis in erster Linie. Zu lachen hat die SP dabei nicht, denn der Preis für mehr gemeinsame Politik auf bürgerlicher Seite könnte sein, die Linke zu schwächen, durch parteipolitische Umbesetzungen des Stuhls von Moritz Leuenberger, sei es in Richtung einer bürgerlichen Regierung oder unter Einbezug der Grünen ins Regierungslager.

Wechselwählen: in der Schweiz noch wenig systematisch erforscht

Analysen des Wechselwählens sind wichtig, aber nicht ohne Tücken. Es wäre Zeit, die Methodenstreitfragen bei Seite zu legen, und hierzu ein umfassendes Forschungsprojekt zu machen. Denn das Wechselwählen zeigt am differenziertesten, was sich in der Wählerschaft tut.

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4 Modelle der WechselwählerInnen-Analyse, wie sie für die Schweiz angewendet werden könnten.

Die möglichen Methoden

Repräsentative Befragungen zum Wechselwählen haben einen grossen Vorteil: die BürgerInnen geben selber Auskunft. Dafür geeignete Stichproben müssen aber gross sein und sind deshalb auch teuer. So erstaunt nicht, dass es in der Schweiz noch kaum eine systematische Uebersicht gibt über das Wechselwählen, etwa bei Nationalratswahlen, oder in bevölkerungsreichen Kantonen.

Immerhin gäbe es eine kostenügnstigere Alternative zur Analyse von Befragungsdaten. In Frage käme auch die systematische Untersuchung von offiziellen Gemeindeergebnissen, wobei die Kovarianz von Parteistärken analysiert werden müssten. Sie könnte Aufschlüsse geben, unter welchen Bedingungen eine Partei gewinnt, das heisst, wie weit Wahlbeteiligung oder Verluste anderer Parteien zur Erklärung beigezogen werden können.

Die vier Modelle der Wechselwählerströme
Eine erste Uebersicht über so gewonnene Ergebnisse legt für das Parteiensystem der Schweiz vier Modell der Wechselwählerströme nahe:

Erstens, bei hohem Konsens in Politik und Wahlkampf gibt es nur geringe Wechselbewegung; am häufigsten sind sie von den grossen Parteien zu den Nicht-WählerInnen.
Zweitens, bei (linker) Erneuerung des Parteiensystems kommt es zu Mobilisierungs von NeuwählerInnen meist für die Linke, die ihrerseits Wählende an die Rechte verliert. Diese wiederum kennt Verluste an die Nicht-(Mehr)-Wählenden.
Drittens, die Polarisierung des Parteiensystem führt dazu, dass grossen Parteien links und rechts Neuwählende an sich ziehen, im Verhältnis zu den kleinen Parteien gewinnen, wobei es kaum zu einem Tausch zwischen den Blöcken kommt.
Viertens, bei der Entstehung neuer Parteien schliesslich verlieren meist alle Nachbarn der neue Partei Wechselwählende, und die neue Partei gewinnt bisweilen auch Neuwählende hinzu, während die grossen Parteien Mühe haben, Einbussen an die Nicht-WählerInnen zu vermeiden.

Eine Anwendung davon mit Aggregatdatenanalyse habe ich bei den Berner Grossratswahlen gemacht, mit plausiblen, konsistenten Ergebnissen, die überwiegend dem vierten Modell, mit Erweiterungen für die Rechte auch dem dritten Modell entsprechen.

Eine neues Forschungsprojekt wäre sinnvoll
Die Diskussion über die Operationalisierung solcher Analyseansätze hat sich bisher weitgehend auf Methoden-Streitigkeiten konzentriert. Aus meiner Sicht hat dies nicht weiter geführt. Geschärft wurde zwar das Bewusstsein für Methodenrisiken, nicht aber für Methodenchancen. Sinnvoll wäres, inskünftig eine (Serie von Wahlen) mit beiden Methoden gleichzeitig zu untersuchen, und zwar auf der Basis explizierter Hypothesen zum erwartbaren WechselwählerInnen-Verhalten, wie es hier aufgezeigt worden ist.

Aggregatdatenanalysen hätten den unbestreitbaren Vorteil, dass sie jederzeit erstellt werden könnten, auch rückwirkend, womit die Plausibilität der Hypothesenbildung, der Analysetechniken und der Ergebnisdiskussion erhöht und wohl auch differenziert werden könnte. Individualdatenanalysen könnte dann auf einer verbesserten Grundlage gemacht werden.

In der Schweiz wäre ein solches Projekt besonders bedeutsam, denn Wechselwählen ist nur ein digitaler Entscheid, sondern ein gradueller. Meist beginnt er angesichts gelockerter Parteibindungen mit dem Panaschieren, was ja nichts anderes als parzielles Wechselwählen ist.

Mehr darüber zu wissen, heisst, die Dynamik der WählerInnen-Entscheidungen zu verstehen, die das Parteiensystem verändert.