Die Entwicklung der SVP nach Kantonen

Wo wächst die SVP, und wo schrumpft sie? Kommt es 2011 zu einem Wachstum in der Innerschweiz, dem ein Rückgang in den grossurbanen Räumen entgegen steht? Diese Hypothese kann man aufgrund einer Detailanalyse nach Kantonen mindestens aufwerfen.

Die Erfolgsgeschichte der SVP auf schweizerischer Ebene ist bekannt. 1991 hatte sie mit 11.9 Prozentpunkten einen bescheidenden WählerInnen-Anteil. 2007 erreichte er mit 28.9 Prozentpunkt der bisherigen Höchstwert – nicht nur für die SVP, auch für alle Parteien insgesamt seit Einführung des Proporzwahlrechts.

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Anclicken um zu vergrössern (Quelle: BfS, eigene Darstellung)

Eine Analyse der Trends nach Kantonen zeigt unterschiedliche Stärken und Dynamiken, selbst wenn der Aufstieg fast flächendenkend verlief (sofern man sich auf jene Kantone konzentriert, die mehr als 1 Nationalratssitz haben).

Die höchsten WählerInnen-Anteil kannte die SVP 2007 in den Kantonen Schwyz, Thurgau und Shaffhausen. Da bewegt sie sich im Bereich von 39 Prozent und darüber.
Am schwächsten ist die SVP im Tessin, Jura und Wallis. Da bewegt sie sich zwischen 9 und 17 Prozent WählerInnen-Anteil.

Nahe dem nationalen Durchschnitt sind die Kantone Zug und Basellandschaft. Das gilt mindestens für die Jahre 2003 und 2007 recht gut, für die Zeit davor kann man es annäherungsweise stehen lassen.

Der höchste Zuwachs von Wahl zu Wahl kannt die schweizerische SVP 1999. Damals legte sie um 7.6 Prozentpunkte zu. Seither hat sich das Wachstum von Wahl zu Wahl verringert. 2003 lag das Plus bei 4.2, 2007 bei 2.2.

Gegliedert nach Kantonen, gibt es auch hier Trendsetter. Nachholend war das Wachstum in Schaffhausen, im Jura und im Kanton Bern.
In Baselstadt gab es erstmals sogar ein ganz kleines Minus, derweil die Zunahme in Zürich, Freiburg, Neuenburg und Graubünden unter 1 Prozentpunkt blieb.

Was ist seither in den kantonalen Wahlen geschehen. In Graubünden weiss man gab es einen herben Verlust, letztlich weil die Kantonalpartei ziemlich geschlossen zur BDP übertrat. In Neuenburg und Zürich verlor die SVP etwas an WählerInnenstärke, während Freiburg mit einer Legislatur von 5 Jahren gar keine Wahlen hatte.
Verluste gabe es auch in den kantonalen Wahlen von Glarus, Schaffhausen, Genf und Bern. Teilweise waren hier die Konkurrenzparteien wie die BDP oder das MCG erfolgreich.

Damit wird ein neues Muster in der SVP Entwicklung mindestens denkbar: Sie stagniert in einzelnen Kantonen, insbesondere im grossurbanen Raum, während sie andernorts, namentlich in der Zentralschweiz, nochmals erheblich zulegt.
Ob das am Ende ein Plus oder Minus ergibt, muss auch dieser Vergleich offen lassen. Nur soviel: In den beiden trendigsten Kantonen, Zug und Basellandschaft, steigerte sie ihren Anteil bei den Kantonalwahlen im Schnitt um 2 Prozentpunkte.
Was am 23. Oktober passiert, hängt jedoch weitgehend von der Mobilisierung ab, die national höher ist als kantonal – und von den konkreten Trends in Zürich mitbestimmt wird.

Claude Longchamp

Das bestgehütetste Parteiengeheimnis.

Innenpolitisch ist das Geld der Parteien kaum ein Thema. Jetzt erhöht der Europarat den Druck auf die Schweiz in dieser Sache.

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Quelle: L’Hébdo via Wahlkampfblog

Vor 5 Jahren ratifizierte die Schweiz das Anti-Korruptions-Abkommen des Europarates. Zwei Länderexamen hat unser Land seither bestanden. Beim dritten dürfte es jedoch scheitern.
Das jedenfalls berichtet die heutige “NZZamSonntag” unter Berufung auf ExpertInnen des Bundes. Denn seit Februar dieses Jahres überprüft der Europarat nicht die Wirkungen des hochgehaltenen Bankgeheimnisses, sondern … des bestgehüteten Parteiengeheimnisses.

“Wer finanziert die Parteien in der Schweiz? Sind es die Mitglieder? Sind es die Lobbyisten, die im Gegenzug verlangen, dass die Parteien ihre Interessen vertreten? Sind es die Schwerreichen, welche in ihrem Sinn steuern?”, sind drei nachollziehbare Erwägungen, die man zwischenzeitlich auch am Zürcher Falkenplatz macht.
Hilmar Gernet, vormals CVP-Generalsekretär und seit neuestem Buchautor in dieser Sache, versuchte den Schleier des Schweigens mit seiner Doktorarbeit ein wenig zu heben, ohne allzu konkret zu werden. Interna auszuplaudern, sei nicht seine Sache, eine Diskussion zu lancieren schon, fasst er seine Absicht zusammen. Selbst das bekam ihm nicht gut: Vor zwei Wochen wurde er aus dem Luzerner Grossen Rat abgewählt – und danach hing er seine Politkarriere ganz an den Nagel.

Die Schweiz hat als eines der wenigen europäischen Länder kein Parteiengesetz. Da sind internationale Diskussionen, europäische Vereinbarungen und unterschriebene Abkommen umso wichtiger. Das weiss auch Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die Ende letzten Jahres das federführende Justiz- und Polizeidepartement übernahm. Sie will gar nicht warten, bis die ExpertInnen des Europarates ihren Bericht fertig haben. Noch vor der heissen Phase des diesjährigen Wahlkampfes will sie mit einer eigenen Stellung den Boden für eine schweizerische Regelung vorbereiten.

Um es klar zu sagen: Ich mache mir keine Illusionen, das Parteien kein Geld brauchen würden. Doch gerade deshalb finde ich Transparenz in dieser Sache umso wichtiger. Denn nur das würde zeigen, ob Wahlergebnisse unabhängig vom eingesetzten Geld entstehen. Denn das ist demokratiepolitisch das Entscheidende.

Die Mentalität in der Romandie ist da schon etwas weiter als die übrigen Schweiz. Das Wochenmagazin L’Hébdo publizierte kürzlich ein Dossier über das “Geld der Parteien“; in den deutschsprachigen Massenmedien wurden nicht nur die Ueberlegungen hierzu, nein selbst die grundlegendsten Statistiken totgeschwiegen. Schön, dass es da mit polithink, Wahlkampfblog und zoonpoliticon wenigstens eine kleine Gegenöffentichkeit gibt.

A suivre!

Claude Longchamp

Drei Mal SP

Die SP Schweiz freut sich über den Wahlsieg der Partei im Kanton Jura. Zurecht. Doch ist das die erhoffte Wende mit Blick auf die Wahlenv on 2011. Skepsis ist angebracht. Denn es gibt wohl nicht eine SP, sondern drei Strömungen in einer Partei.

Im bernischen Seedorf brach die linke Allianz unter Führung der SP bei den Gemeinderatswahlen vor einer Woche förmlich ein. Sie verlor ihre beiden Sitze in der siebenköpfigen Dorfregierung. Grosse Siegerin war die BDP, die zulasten der rechten und linken Gruppierungen zulegte. Kleine Gewinnerin waren die Grünen, die sich aus der Linksallianz lösten und einen Sitz eroberten. Die SP beklagte sich nach der Wahl, angesichts der neuen Parteiausrichtung auf dem Land nicht mehr mobilisieren zu können.

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Wegen oder trotz neuem Parteiprogramm: Steht die SP im Kanton Jura nach dem Wahlsieg von heute für eine gesamtschweizerischen Wende? – Ich habe meine Zweifel.

Ganz anders das Resultat bei heutigen Regierungsratswahlen im Kanton Jura. Die SP gewann nach einem Sitzgewinn vor drei Wochen im Parlament auch einen in der fünfköpfigen Regierung hinzu – dies zulasten der Christlichsozialen. Damit repräsentiert die SP die linken WählerInnen in der jurassischen Regierung alleine, und sie hat allen KritikerInnen des neue Parteikurses gezeigt, dass man auch heute mit sozialdemokratischen Idealen punkten kann.

In Köniz, wo ich am Samstag an einer Klausur der Ortspartei der neuen SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga einen Vortrag über die SP-Wählerschaft hielt, begegnete ich einer dritten SP: Kein Desaster wie auf dem Land, aber auch keine Euphorie wie in der Romandie machte sich breit. Nach dem Parteitag ging ein Ruck durch die GenossInnen. Zahlreiche Aktive und Mitglieder waren geschockt über die Kritik, namentlich aus den Medien, wollen nun aber umso klarer beweisen, was sozialdemokratische Arbeit in Regierungen, Parlamenten und an der Basis leisten kann.

In meiner Analyse der linken Wählerschaft der Schweiz, die ich auf rund 30 Prozent veranschlage, gibt es drei relevante Strömungen:

. den rotgrünen mainstream: Linke Postulate in Sozial-, Wirtschafts- und Finanzfragen gehen hier einher mit den Forderungen der neuen sozialen Bewegungen wie die Umwelt- oder Frauenbewegung, welche die linke in den letzten Generation erneuert haben. Opposition insbesondere gegen bürgerlichen Sparpolitiken und fremdenfeindliche Tendenzen lassen kritischer Antworten zur Positionierung aufkommen. 2007 gewannen die Grünen vor allem hier zulasten der SP, und seither ist das Verhältnis der beiden Parteien trotz inhaltlicher Nähe ihrer mainstream-WählerInnen angespannt.

. den Linksliberalismus: Linksliberale mögen Grundsatzfragen und Positionierungsspiele weniger, denn sie sind pragmatischer. Linke Tabus leiten sich nicht, der Staat ist eine Möglichkeit des Handelns, aber nicht die einzige. Für innovative Projekte mit Exponenten der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft sind sie offen. Je mehr die SP und die Grünen dagegen sperren, umso eher wenden sie sich anderen Parteien zu, heute namentlich im urbanen Gebiete mit Vorliebe den Grünliberalen, mit denen sie bereit sind, auch andere Allianzen gegen die Mitte einzugehen.

. den Sozialkonservatismus: Die Errungenschaften der schweizerischen Arbeiterbewegung sind ihnen am wichtigsten. Der Aussenorientierung der SP mit Forderungen nach dem EU-Beitritt, aber auch mit offenen Grenzen und Einwanderung stehen sie skeptisch gegenüber. Mehr Schutz für die einfachen Leute wäre ihr bevorzugtes Parteiprogramm. Wenn sie es bei der SP nicht mehr genügend finden, steigen sie aus der Politik aus, oder wenden sich, namentlich in der deutschen Schweiz und auf dem Land schweizerisch ausgerichteten Parteien zu, in der Romandie bisweilen auf linken Bewegungen, die sich an Wahlen beteiligen.

Das alles zeigt auf, dass es gegenwärtig wohl drei SPs gibt: diejenige, die am Parteitag in Lausanne gewonnen hat und klar darauf setzt, wieder die Nummer 1 für linke WählerInnen zu sein; diejenige, die Real- über Idealpolitik stellt, dafür auch mit dem politischen Zentrum unvoreingenommen kooperieren will, und diejenige, die sich fürchtet, unter die Räder der globalen Wirtschaft, aber auch der Aktiven innerhalb der Linkspartei.

Der SP kann man eigentlich nur raten, alle drei Strömungen innerhalb des Potenzials ernst zu nehmen, nicht das Geschäft nur einer machen zu wollen und nach innen weniger polarisierend, dafür mehr integrierend zu wirken. Denn die einizige Hoffnung auf den Wahlsieg 2011, den Parteipräsident Christian Levrat seit längerem verspricht, ist, sich an Erfolgen bei Abstimmungen und Wahlen der Gegenwart soweit zu wärmen, um mit neuer Energie neue Menschen für das eigene Projekt zu mobilisieren, die in der Endabrechnung zahlreicher sein müssen, als die Abgänge, die angesichts der neuen Ecken und Kanten, die man sich zugelegt hat, unvermeidlich erscheinen.

Seedorf ist dabei der eine extreme Pol, der Kanton Jura der andere, was passieren kann. Entscheidend ist aber, was mit der SP wie in Köniz geschieht.

Claude Longchamp

Mutmassungen zur SP mit ihrem neuem Parteiprogramm

Langfristig hat sich die SP entschieden, den Führungsanspruch zu haben, wo es um Grundwerte der Links-Wählenden geht. Kurzfristig hat sie vergessen, ein Teil der pragmatischen Regierungspolitik zu sein.

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Quelle: Silvan Wegmann

Parteiprogramme sind nicht für morgen gemacht, sondern für übermorgen. Das jetzige hielt 28 Jahre – eine ganze PolitikerInnen-Generation lang. Extrapoliert heisst das, die SP machte sich gestern Gedanken über die Schweiz bis ins Jahre 2038, wenn die heute 20jährigen die politische Gangart bestimmen werden.

Ob die SP mit ihrer Analyse recht hat oder nicht, weiss letztlich niemand. Wird die Schweiz schon längst Mitglied der EU sein, oder wird es die EU gar nicht mehr geben? Wird sich die Schweiz eine eigene Armee nicht mehr leisten können, oder wird sie zur Igelstellung wie im Zweiten Weltkrieg genötig sein? Das waren ganz sicher die umstrittensten Fragestellungen, auf die die SP ihre eigene Antwort gegeben hat.

Ohne Zweifel, die SP hat gestern an ihrem Parteitag Flagge gezeigt. Sie hat Weichen gestellt. Sie hat sich unmissverständlich klar links positioniert. Sie hat damit allen eine Antwort gegeben, die nach der Wahlniederlage 2007 den veralteten Auftritt kritisiert, das von Grünen nicht mehr unterscheidbare Programm bemängelt und die Hoffnungslosigkeit des linken Pragmatismus angesichts der globalen Wirtschaftskrise als Ursache für den Niedergang gesehen haben.

Klar ist: Die SP hat gestern entschieden, programmatisch nicht in die Mitte zu gehen. Das ist riskant. Den Verlusten an WählerInnen an die GLP will sie nichts gegenüberstellen, nicht zuletzt weil sie nicht an die Rückkehr dieser WählerInnen glaubt. Klar ist auch, dass die SP im rotgrünen Lager wieder unbestrittener Leader sein will – um die Abwanderung von Stimmen an die GPS zu stoppen, was die Ursache vieler Wahlniederlagen war. Die Rechnung der SP lautet: Mehr im linken Lager zulegen als an dessen Rand zur Mitte verlieren!

Unklar ist allerdings, ob die SP auch gewillt ist, nebst dem Hoch auf den demokratischen Sozialismus auch ihr WählerInnen-Potenzial besser auszuschöpfen. Denn dafür braucht es nicht eine langfristige Ausrichtung mit Programmen, sondern auch eine kurzfristige Politik mit Aktionen. Sie muss darauf ausgerichtet sein, Erfolg im Hier&Jetzt zu haben, nicht erst im sozialdemokratischen Paradies.

Da wäre zu wünschen, dass die SP sensibler wird, wie sie mit sich selber, mit ihren VertreterInnen und mit ihrer denkbaren Wählerschaft umgeht. Denn den Siegen bei der BVG-Abstimmung und bei den Bundesratswahlen stehen Niederlagen bei der AVIG-Revision und der Departementsverteilung im Bundesrat gegenüber. Ueberheblichkeit, die auch auf dem Parteitag durchschimmerte, wird in der Schweiz meist mit dem Fall bei Wahlen bestraft.

Gerade mit ihrer Parole zum Gegenvorschlag hat sich die SP keinen Dienst erwiesen. Abgrenzung gegenüber der Politik der rechten Opposition ist bei einer linken Partei nachvollziehbar. Parlamentarische Kompromissvorlagen, an denen man selber mitgearbeitet hat, fallen zu lassen, gehört nicht zu Zuverlässigkeit in der Politik. Die Integrationspolitik gehört genauso zu den linken Forderungen wie die Ueberwindung des Kapitalismus. Mehr noch: Sie zählt zu den Schwerpunkten der Arbeit von Simonetta Sommaruga im EJPD. Es wäre ihr und der SP gegönnt gewesen, sie wäre dafür vom Parteitag mit einer Ja-Parole zum Gegenvorschlag zur Ausschaffungsinitiative voll unterstützt worden. So bleibt der Zwist in Erinnerung, zur Freude der Medien, die damit nicht über die Steuerinitiative berichten mussten.

Was das alles für die Wahlen heisst, bleibt vorerst offen: Sicher, die Mitte ist parteipolitisch zunehmend umkämpft und besetzt; die Kampfansage an die Adresse der Grünen ist erfolgt, doch die zentrale Herausforderung 2011 heisst auch für die SP: mobilisieren, mobilisieren, mobilisieren! Von Vorteil für die Linkspartei wäre, sie würde das mit der gleichen Verve beherzigen wie die Revision des eigenen Parteiprogramms – noch vor den nächsten Parlamentswahlen.

Claude Longchamp

Was nur heisst strategisches Wählen?

Zwei zentrale Aussagen kommunizierte FORS, das Schweizer Kompetenzzentrum für Sozialwissenschaften, gestern mit der Vertiefungsstudie zur Analyse der Nationalratswahlen 2007 im Rahmen einer Sondernummer der Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft: Erstens, der Kulturkampf überlagert den Klassenkampf; zweitens, die WählerInnen würden strategisch für ideologische Parteien stimmen, die extremer seien als sie, damit sich überhaupt etwas bewege. Ersterem kann man wohl vorbehaltslos zustimmen. Zweiteres ist jedoch diskussionsbedürftig.

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Positionen der KandidatInnen und der WählerInnen bei den Nationalratswahlen 2007. Die Polarisierung der KandidatInnen ist vor allem auf der Links/Rechts-Achse grösser als auch der 2. Dimension, welche die Wählenden mehr teilte.

Die Befunde sind recht offensichtlich: Die Wählerschaften der Parteien sind auf der neuen Konfliktdimension stärker polarisiert als auf der alten. Die Kandidierenden indessen trennt die alte Dimension mehr als die Neue. Das führt zu Inkohärenzen zwischen Parteieliten und Parteiwählerschaften. SP, aber auch Grüne sind oben und unten etwa gleich stark für gesellschaftlichen Offenheit, nicht aber wenn es um mehr oder weniger Staat geht. Da denken die Parteiwählerschaften viel pragamtischer als die BewerberInnen für politische Aemter. Aehliches findet sich bei SVP, tendenziell auch bei FDP in umgekehrter Richtung. Die Marktorientierung der Politiker ist akzentuierter als die der WählerInnen.

Die Autoren der Zweitanalyse der Selects-Daten zu den letzten Nationalratswahlen 2007 interpretieren die PolitikwissenschafterInnen (zusammengefasst) so: Gewählt werden nicht die Personen, mit denen man die grösste Uebereinstimmung hat, sondern jene Parteien, von denen man am ehesten erwartet, dass sie die Politik in die gewünschte Richtung verändern.

Das ist zunächst interessant: Denn es deutet darauf hin, dass Themen wie die Migrationsfrage 2007 polarisierten und die Wahlentscheidungen beförderten, das dabei aber PolitikerInnen gewählt wurden, deren primäre Gesetzlichkeiten gar nicht in dieser Frage liegen.

Ob man das alles positiv als strategische Wahl charakterisieren soll, kann man aber bezweifeln. Vielmehr müsste eine kampagnenkritische Untersuchung zeigen, wie es kam, dass eine Thematik zur vorherrschenden und wahlentscheidenden wurde, ob wohl diese gar nicht den Selektionskriterien der Parteien auf Ebene der KandidatInnen entspricht. Gefragt werden müsste auch, ob die Hoffnung, dass Wahlen ein Parlament bestimmen, das in entscheidenden Fragen der Wählerschaft repräsentativ zusammengesetzt ist, in der Mediendemokratie obsolet geworden ist, weil sich zwischen politischer Realität und wahlkämpferischer Medialität eine immer grössere Schere öffnet.

Man kann aber auch noch weiter gehen, nicht nur den Begriff, sondern auch die Interpretation in Frage stellen. Denn die Bi-Polarisierung der Parteienlandschaft, wie sie 1995-2003 die Wahlen in den Schweizer Nationalrat bestimmten, fand 2007 eine mindestens erhebliche Relativierung. Polartig formierte sich nur noch der nationalkonservative Teil der Parteienlandschaft in Form der SVP weiter. Links wuchs nicht mehr, kannte einzig noch eine Verlagerung der Schwergewichte von der SP zur GPS. Neu entstand 2007 die GLP, und mit der BDP, die sich 2008 als Abspaltung von der SVP formierte, setzte sich der Prozess der Neuformierung des politischen Zentrums gleich nochmals fort.

Die Frage ist deshalb berechtigt, ob die Parteien generell, mindestens einige wesentliche davon, die Zeichen der Zeit richtig erkannt hatten oder haben. Denn eine andere als von den Selects-Autoren favorisierte Interpretation des Datenmaterials wäre, dass ein Teil der WählerInnen von der harschen, eindimensionalen Polarisierungen des politischen Diskurses in den Medien und unter den Parteispitzen genug hat, und sich zwischenzeitlich wieder gemässigteren Positionen annähert. Das würde es dann auch heissen, dass strategisches Wählen nicht die Unterstützung von Parteien und KandidatInnen wären, die einem nicht wirklich entsprechen, sondern von Personen und Gruppierungen, die so sind, wie man das gerne hätte, nämlich moderater.

Der Erfolg beispielsweise von smartvote, dem Empfehlungen für KandidatInnen und Parteien aufgrund thematischer Uebereinstimmungen, spricht eher für diese Interpretation. Denn die Analyse von Selects würde dafür sprechen, dass man smartvote zwar verwendet, dann aber ganz anders entscheidet. Das mag ich schlicht nicht glauben, denn wer smartvote einsetzt, macht es, jene Personen und Parteien zu wählen, die ihnen effektiv nahestehen.

Claude Longchamp

Erstes Wahlbarometer 2011: Wie stark ist die SVP?

Wie stark wird die SVP 2011 sein? Diese Frage beschäftigt die politische Oeffentlichkeit im In- und Ausland bereits seit längerem. Denn die SVP ist grösste nationalkonservative Partei Europas, die in der Regierung ist. Und sie erreichte 2007 nicht nur das beste Ergebnis für sich, es war auch Schweizer Rekord für eine Partei, seit der Nationalrat nach dem Proporz bestellt wird. Wir sich das wiederholen?

Was sagt das Wahlbarometer der SRG SSR, erstellt von gfs.bern, das heute veröffentlicht wird? 26.1 Prozent der teilnahmewilligen BürgerInnen mit einer Parteiwahlabsicht würden sie heute unterstützen. Das ist eine Momentaufnahme, keine Unterstützung.

Ziehen wir Bilanz: Die SVP hat 10 der 17 kantonalen Wahlen seit 2007 gewonnen. Der Schwung war 2008 grösser als 2010. Addiert man die Sitze in den Kantonen, gewichtet nach Parlaments- und Kantonsgrösse, kommt die SVP heute auf 23 Prozent.

Mit anderen Worten: Sie ist seit ihren elektoralen Höhenflügen, die im Jahre 1999 begannen, national stärker immer stärker gewesen als kantonal. Das hat mit veränderten Rahmenbedingungen der Wahlen zu tun, vor allem mit der Möglichkeit, national oder wenigstens sprachregional werberisch Themen zu setzen, Medienaufmerksamkeit zu erringen und mobilisierend zu wirken. Keine andere Partei beherrscht das so gut wie die SVP, sodass sie vor allem national zugelegt hat. Die Diskrepanz zwischen nationaler und kantonaler Stärke ist sogar gewachsen. Selbst die Zunahme ist national grösser als kantonal.

Die SVP erreichte 2007 mit 28,9 Prozent ihr Rekordergebnis vor allem durch ihre Mobilisierungsfähigkeit. Sie profitierte am meisten von der erhöhten Wahlbeteiligung, und sie sog WählerInnen von existierenden oder früheren Parteien in ihrem Umfeld förmlich auf.

Das ist aktuell nicht im gleichen Masse der Fall. Die SVP hat in Graubünden ein Kantonalpartei an die Adresse der BDP verloren. Das Wichtigste aber ist, dass die SVP – gegenwärtig – eine abgeschwächte Ausstrahlungskraft auf die WählerInnen ganz am rechten Rand hat.

Summiert man das auf, kann man sagen: Sie ist heute, national schwächer als 2007 am Ende des Wahlkampfes. Dieser wird entscheiden, wo sie am 23. Oktober 2011 sein wird. Da ist bekanntlich vieles möglich. Ihre grösse Profilierungschance hat die SVP im Konflikt zwischen Oeffnung und Abkapselung. Das ist sie die einzige Partei, die klar gegen den mainstream ist.

Claude Longchamp

Laissez-faire in der Integrationspolitik fördert Unsicherheit, nicht Toleranz

Vor 20 Jahren witzelte er über die “zufriedene Nation”. Vor zehn Jahren polemisierte er gegen das “multikulturelle Drama” in den urbanen Zentren. Heute nennt er das laissez-faire-Prinzip in der Integrationspolitik einen Fehler. Den Applaus von rechts mag Paul Scheffer nicht, die Ignoranz auf der linken Seite auch nicht, denn der Amsterdamer Grossstadtsoziologe ist ein scharfer Kritiker der herrschenden Zustände ohne die Zuversicht in die Zukunft der Niederlande verloren zu haben.

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Paul Scheffer, führender Soziologe der Integration in den Niederlanden

Auf newsnetz erklärt Paul Scheffer, wie es zur Wende kam, welche Geert Wilders den grossen Aufstieg brachte. Man habe sich im Selbstbild der liberalen Gesellschaft gefallen, Homo-Ehe akzeptiert, Euthanasie zugelassen und die Repression aus der Drogenpolitik gestrichen. Trotzdem blieb die Niederlande eine stark organisierte Gesellschaft, ähnlich wie die Schweiz, Oesterreich oder Belgien, in denen der Wunsch nach Konsens dominiert und dessen Nichterfüllung die Politik verändert.

Mit der Globalisierung seien liebgewordene Sicherheiten in Frage gestellt worden, diagnostiziert Scheffer. Die wirtschaftliche Entwicklung gehe nicht mehr linear nach oben. Die traditionellen Parteiströmungen – die Sozialdemokratie, der Liberalismus und die Christdemokratie – steckten in einer tiefen Identitätskrise, denn Lösungen nach dem Links/Rechts-Schema versagten in EU-Fragen, in der Klimapolitik und bei Migrationsproblemen.

Deren Defizite seien schon vor 10 Jahren sichtbar gewesen. Jetzt würde alles Ungelöste an die Oberfläche gespült, lasse den Eindruck des totalen Politikversagens aufkommen und begünstige Einthemen- und Einmannparteien wie die PVV von Geert Wilders. Der Politik sei dies nicht dienlich, sie müsse sich deshalb darauf einstellen, vorerst mit instabilen Verhältnissen leben zu müssen.

Es sei falsch, die WählerInnen der PVV der Irrationalität zu bezichtigen. Gegen Heimatverlust zu stimmen, folge einer Logik, welche die etablierten Kräfte in der niederländischen Gesellschaft begreifen lernen müssten. Ausgangspunkt der Probleme sei die Unsicherheit im öffentlichen Raum. Ohne die gäbe es nur misstrauische BürgerInnen. Deshalb plädiere er für die Null-Toleranz gegenüber Uebergriffen auf Strassen, in Eisenbahnen und Schulen – zum Schutz der Toleranz in der Gesellschaft.

Einwanderungsgesellschaften wie den Niederlanden empfiehlt der Soziologe einen neuen Gesellschaftsvertrag. “Bisher haben wir nur über Freiheiten gesprochen, aber nicht über Pflichten”. Wer beispielsweise das Recht auf Religionsfreiheit einfordere, müsse auch die Pflicht akzeptieren, die Freiheit für andere zu verteidigen, diktierte er den Journalisten des Tages-Anzeigers ins Notizbuch.

Denn ohne Rechte mit Pflichten zu verknüpfen, komme es zu einer Radikalisierung, die zum Zerfall der politischen Mitte und zur demokratiebedrohlichen Polarisierung führen könne. Das aus den Zukunftsszenarien auszuschliessen, hält Scheffer für naiv. Selber gibt es sich zuversichtlich. Keine Integration sei bisher konfliktfrei verlaufen. Die Auseinandersetzung wie sie in den Niederlanden beobachtet werden können, zeige vielmehr, dass Integration stattfinde, wohl aber erst begonnen habe und nicht schon abgeschlossen sei: “Ich sehe uns in einer Übergangszeit, wo wir uns selber neu definieren, die Gesellschaft ihre Institutionen und den Umgang mit den Freiheiten neu überdenkt.”

Die Analyse könnte man in Vielem auch für die Schweiz machen. Die Befunde zur Ausgangslage sind ähnlich. Denn auch hier hat die Globalisierung bisherige Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt, am Fundament der Liberalen, der Christ- und Sozialdemokraten gerüttelt, und die Forderungen nach einer Neudefinition von menschlichem und kulturellem Zusammenleben geschärft. Nur neue Einthemen- und Einmannparteien haben wir nicht bekommen, dafür eine neudefinierte SVP, welche die Probleme der Migration artikuliert, ohne dass wir schon gesellschaftlich und politisch akzeptierte Lösungen haben.

Claude Longchamp

Vermessene Kantonalparteien – vermessene Nationalratswahlen?

Martin Senti gibt in der heutigen NZZ eine Uebersicht über die Parteistärken in der Schweiz auf kantonaler Ebene. Die wichtigste Frage, ob das auch auf die nationale übertragbar ist, bleibt aber offen.

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Daniel Bochsler, Schweizer Politikwissenschafter in Budapest, hat die Vermessung der Parteien neu definiert. Er berücksichtigt die kantonalen Wahlsitzverhältnisse, modifiziert sie aber in zweierlei Hinsicht, um daraus nationale Schätzungen zu machen: Zuerst standardisiert er sie aufgrund der Sitzgrösse der kantonalen Parlament, dann auch aufgrund der Bevölkerungszahl der Kantone. Das sind ohne Zweifel eine Verbesserung am Vorgehen, wie es etwa die sda seit Jahren macht, wo man ganz einfach Sitzzahlen aufaddiert.

Nach Bochsler ist die SVP die stärkste Partei auf kantonaler Ebene. Sie repräsentiert (standardisiert) etwa 23 Prozent der Parlamentsmitglieder. Die Verluste, die 2008 durch die Abspaltung der BDP eingetreten waren, sind weitgehend kompensiert worden. Die FDP rangiert an zweiter Stelle, kommt sie doch auf rund 21 Prozent; sie hat sich durch die Fusion mit der LP verbessert. Als dritte Partei folgt die SP mit rund 19 Prozent, gefolgt von der CVP mit etwa 16 Prozent. Beide haben in der laufenden Legislatur an Stärke eingebüsst. Die Grünen bringen es unverändert auf zirka 9 Prozent, die BDP auf 3, die glp auf 2 Prozent der Gewählten.

Ist das nun eine Vorschau auf die nationalen Wahlen 2011? Martin Senti, der Parteienspezialist in der NZZ-Redaktion, scheint davon einigermassen überzeugt zu sein. Für ihn dürfte die SVP ihr Niveau 2011 “mindestens halten können”. Ausländer- und sicherheitspolitische Themen dürften ihr den Zulauf bescheren, der die Abgänge an die BDP kompensieren werde. Bei rotgrün ortet er “erneut einen Abbau”. Die SP serble, die Grünen stagnierten, was links ein Minus ergebe. Absturzgefährdet sieht Senti auch FDP und CVP. Eine Aenderung der Rangfolge erwartet er dank der Fusion von FDP und LP nicht, mit einer weiteren Pluralisierung der zahlenmässig wachsenden Mitte hin zur BDP und glp rechnet er hingegen schon.

Mich beschäftigt eine Feststellung in diesen Analogien. Seit einigen Jahren laufenden die kantonalen und nationalen Parteistärken trotz immer mehr auseinander. SVP und Grüne sind national stärker als kantonal, bei SP, FDP und CVP ist das genau umgekehrt. Bei der SVP ist die Differenz eklatant: den knapp 23 Prozent in den Kantonsparlamenten 2007 standen fast 29 Prozent bei den Nationalratswahlen gegenüber.

Aus meiner Sicht unterschätzt die Vermessung von Parteien wie sie Bochsler macht und Senti verallgemeinert die Effekte neuartiger nationaler Kampagnen, in denen der Medienautritt der Parteien eine viel höhere Rolle spielen, führende Köpfe als Treiber von Kampagnen entscheidend sind, polarisierende Themen mindestens der Vorwahlkampf beherrschen, und Machfragen, insbesondere im Bundesrat zu einem der zentralen Wahlkampfsujets aufgestiegen sind.

Eine Partei, die sich so nicht profiliert, mobilisiert nicht nach den Gesetzmässigkeiten der Mediengesellschaft und gewinnt bei nationalen Wahlen nie, auch wenn sie kantonal den Platzhirsch spielen kann.

Claude Longchamp

Partij voor de Vrijheid als Partei neuen Typs

Die hier bereits einmal aufgeworfene Frage, ob mit islamfeindlichen Positionen eine neue Konfliktlinie in den europäischen Parteiensystemen entsteht, war Gegenstand einer Diskussion in meiner heutigen Vorlesung zur Wahlforschung. In den gegebenen Antworten überwog die Skepsis, wenn auch die niederländische PVV als Partei neuen Typs verstanden werden kann.

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Positionierung der PVV 2010 gemäss dem niederländischen Politikwissenschafter André Krouwel, für den die PVV 2010 konservativ ist. Der jüngste Berichte zu den Entwicklungen des niederländischen Parteiensystems bezeichnet die PVV etwas komplexer als neue radikale Rechte mit einer nationaldemokratischen Ideologie, aber ohne rechtsextreme Wurzeln.

Es war eine Woche, in der sich Vieles um Geert Wilders drehte: Zuerst sprach er vor Getreuen in Berlin. Dann gaben die niederländischen Konservativen grünes Licht für eine Minderheitsregierung mit den Rechtsliberalen, die sich nur mit Duldung Wilders Partei für die Freiheit an der Macht halten kann. Schliesslich musste sich Wilders wegen mutmasslicher Hetze gegen den Islam vor Gericht verantworten, ohne dass schon ein Urteil gefällt worden wäre.

Um sinnvollerweise von einer (neuen) Konfliktlinie im Parteiensystem eines Landes sprechen zu können, definierte der Florenzer Politikwissenschafter Stefano Bartolini drei Kriterien:

. Es braucht eine tiefgreifende Spaltung in der Gesellschaft.
. Auf dieser aufbauend müssen neue kollektive Identitäten entstehen.
. Diese müssen durch neue parteiähnliche Organisationen verfestigt werden.

Erstes ist gegenwärtig offensichtlich vielerorts vorhanden. Namentlich die Globalisierung hat soziologisch bestimmbare Gewinner und Verlierer hervorgebracht, die seit einiger Zeit gesellschaftliche Spannungen hervorbringen. Zu den zentralen Punkten des BürgerInnen-Alltag gehört insbesondere die Migration und die Durchmischung von Kulturen. Dazu gehört an verschiedenen Orten eine Anwachsen der Islamfeindlichkeit. Ob daraus auch verbreitet neue kollektive Identitäten entstehen, kann indessen beizweifelt werden. Damit verringert sich die Chance, dass politische Organisationen diese zur Basis einer Partei machen könnten.

Es ist aber auch möglich, die PVV ganz anders, nämlich als eine Partei neuen Typs zu analysieren. Sie hat nun ein Mitglied, ihren Gründer Geert Wilders. Alle anderen Aktivisten sind Supporter. Deshalb versucht man auch, die Partei im Sinne des politischen Entrepreneurships zu interpretieren. Sie begann als parlamentarische Gruppe, die rechtskonservativ politisierte, wird unverändert als rechtspopulistisch, positionsmässig neuerdings aber als konservativ eingestuft. Sie konzentriert sich auf die Islamfrage, hat hierzu eine offene Basis, lebt von der Behandlung in den Medien und hat kaum Parteistrukturen, die einen demokratischen Willensbildungsprozess strukturieren würden, entwickelt. Eine Herleitung aufgrund sozialstruktureller Bedingungen versagt damit weitgehend.

So kann man auch folgende Hypothese wagen: Die PVV nimmt gerade deshalb erfolgreich an Wahlen teil, weil sie konsequent auf die Kommunikation eines Themas mittels eines Kommunikators setzt, der sich wie ein Politunternehmer verhält. Das ist für die Politik in der Mediengesellschaft wohl typisch.

Claude Longchamp

Das Werden des schweizerischen Parteiensystems

Gegenstand meiner gestrigen Vorlesung zur Wahlforschung an der Uni Zürich war die Analyse von Parteiensystemen und ihrer Bedingungen. Hierzu braucht es ein Zusammenspiel von Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft.

Politologen haben immer wieder versucht, sie aus dem Wahlrecht abzuleiten. Frühe Theoretiker wie der Franzose Maurice Duverger, aber auch heutige Politikwissenschaft wie der Estländer Rein Taagepera haben uns die Zusammenhänge zwischen Mehr- und Verhältniswahlrecht einerseits, Zahl der Parteiensystem anderseits nahegelegt. Was die Schweiz betrifft, können wie gegenwärtig von einem polarisierten Pluralismus in einem Mehrheitparteiensystem sprechen, das im Nationalrat fragmentierter ist als das europäische Mittel der Parteiensysteme, nicht aber im Ständerat.

Parteiensystem
Parteiensysteme wie das der Schweiz kann man nur interdisziplinär analysieren.

Soziologen genügt diese Analyse nicht. Sie wollen begreifen, wie zentrale gesellschaftliche Konfliktlinie, Staatswerdung und Parteiensysteme zusammenhänge. Der Amerikaner Seymour Lipset und der Norweger Stein Rokkan haben mit ihrer Cleavage-Theorie die Basis hierfür gelegt. Der Verlauf der Revolutionen in der Neuzeit, beginnend mit Reformation/Gegenreformation, weiter führend mit der Französischen Revolution, bis hin zur Industriellen Revolution legte nach ihnen die Basis für europäische Staatsentwicklung, für die Brücken über die Gräben nötig waren, die so aufgerissen worden waren. Wie die Niederlande zählt die Schweiz nach ihnen zu jenen Staaten, für eine unvollständige Reformation typisch ist, mit der der Staat die Kontrolle über die nationale Kirche gewann, eine starke Minderheit Katholiken aber verblieb, mit der Industrialisierung das (klein)städtische Bürgertum die erste Regierungspartei, den liberal-radikalen Freisinn stellte, und der katholische Konservatismus, später auch die Bauern- und Bürgerpartei sowie die Sozialdemokratische Parteien mindestens vorerst aus der Opposition heraus politisierten.

Schweizer Historiker verweisen darüber hinaus auf die unterschätzten geschichtlichen Konflikte zwischen Stadt und Land, Herrn und Untertanen, aber auch innerhalb der Städte zwischen Patriziern und Bürger, Stadtadel und Zünften wird nur unzureichend erfasst. Zudem wurde der Erfolge einer nationalen Revolution durch die Beständigkeit der Kantone, die Mehrsprachigkeit des Landes und die Regionalismus in zahlreichen Kantonen immer wieder gebrochen. Schliesslich spaltete die Demokratisierung der staatlichen Strukturen den Freisinn, und verlangte die Etablierung der Volksrechte die Ausbildung nationaler Dachorganisationen über die weitgehend kantonal strukturierten Parteien. Ihre grundlegende Ausprägung hat das Parteiensystem der Schweiz durch den Uebergang von der regierenden Mehrheitspartei FDP hin zur Konkordanz-Regierung vin heute erhalten.

Daniele Caramani, Politikwissenschafter an der Universität St. Gallen, hat zudem klar gemacht, dass die aktuellen Entwicklungen der Parteiensystem durch die gegenwärtigen Cleavages geprägt sind: Während des 20. Jahrhunderts, der Zeit der grossen Ideologien interessierten namentlich die Spaltungen zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen, bürgerlich und faschistisch ausgerichteten Parteien. Anderseits geht es um die postmodernen Konfliktlinien, die im wesentlichen aus der Oekologiedebatte der 80er Jahre und der Gobalisierung seit dem Ende des Kalten Krieges entstanden sind. Sie können beigezogen werden, um grüne Parteien, aber auch Antipoden zu ihnen wie die Autoparteien zu erklären resp. um das Aufkommen antieuropäisch geprägter Parteien angesichts der Europäisierung der Politik zu analysieren.

Das eigentümliche der SVP ist, dass es ihr mit der Umpositionierung von einer bürgerlich-konservativen Zentrumspartei zu einer Mischung aus Volkspartei und Rechtspopulismus gelang, nicht nur Globalisierungsverlierer in den unteren Schichten für sich zu gewinnen, sondern auch neoliberal Denkende in Opposition zum politischen System. Sie ist auch nicht einfach mit der EU-Gegnerschaft insgesamt deckungsgleich ist, sondern, führungsmässig und kommunikativ getrieben, eine Sammelbewegung nationalkonservativ gesinnerter SchweizerInnen. Das macht sie zur stärken Partei am rechten Rand des Parteienspektrums in Europa, die in die Regierung auf nationaler Ebene eingebunden ist.

Claude Longchamp