Der unverrückbare Kern der Konkordanz

Die Schweiz hatte mal eine Zauberformel zur Besetzung des Bundesrates. Zuerst verflog der Zauber, jetzt schwindet auch die Strahlkraft der Formel. Das ist der Zeitpunkt, Konkordanz neu zu verstehen.

Nach 2003 richteten sich die Parteien mehrheitlich an der arithmetischen Konkordanz aus. Die Parteistärke allein solle den Ausschlag geben, wie sich der Bundesrat zusammensetzt. Wie er dabei funktioniert, sei nicht so wichtig. Die aktuelle Fortsetzung dieser Diskussion steckt im Patt: Die FDP macht die Wählerstärke zum Massstab, und die CVP stützt sich auf die Fraktionsstärke.

Vordergründig klärt das Wahlbarometer der SRG SSR idee suisse, das heute erscheint, diesen Parteienzwist nicht. Denn sowohl WählerInnen-Anteile wie Fraktionsstärken interessieren nur Minderheiten. Selbstredend sind Prozentwerte bei der FDP-Wählerschaft wichtiger, Sitze im CVP-Elektorat. Und es sind auch nur Minderheiten, die sich für eine ganz bestimmte Partei ausprechen. Unter ihnen liegt die FDP vorne.

Hintergründig erhellt die Umfrage unter den Wahlberechtigten aber, in welche Richtung sich das Konkordanzverständnis des Elektorates entwickelt. Das Numerische an der Konkordanz ist keine Richtschnur mehr, eher noch eine negative Schablone: Die vier grösseren Parteien sollen, so die Mehrheit der Befragten, auf jeden Fall im Bundesrat vertreten sein. Ihre Sitzzahl genauso wie die fallweise Berücksichtigung anderer Parteien hängt jedoch von der Person der BewerberInnen ab.

Damit sind wir bei der einen Lehre aus dem aktuellen Wahlbarometer: Gefragt sind heute Persönlichkeiten. Man sehnt sich nach Politiker und Politikerinnen, die aufgrund ihrer Ausstrahlung, ihres Auftritts und ihrer Auffassungen zu überzeugen vermögen. Sie sollen das Land regieren. Die zweite Lektion lautet: Gefordert wird, dass die Parteien, die im Bundesrat vertreten sein wollen, zur Zusammenarbeit gewillt sind und dass sie – gerade unter dem Eindruck weltwirtschaftlichem und aussenpolitischem Druck – bereit sind, gemeinsam ein Programm zu realisieren, das der Schweiz dient. Bundesratsbeteiligungen sind nicht mehr eine Frage des Rechenschiebers, vielmehr eine der vertretenen Inhalte.

Das ist der unverrückbare Kern der Konkordanz, wenn es inskünftig um Bundesratswahlen geht.

Claude Longchamp

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Selten so gestaunt

Am 27. September 2009 kommt es in der Schweiz zu einer Volksabstimmung, um das Ergebnis einer anderen ausser Kraft zu setzen, weil das Parlament das Verlangte nicht umsetzen will. Ein demokratiepolitisch erstaunlicher Vorgang.

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Seltene Einmütigkeit: Der Nationalrat hat den Bundesbeschluss mit 178 Ja bei 1 Gegenstimme und 15 Enthaltungen angenommen, der Ständerat mit 42 zu 0 Stimmen und 1 Enthaltung.

SpezialistInnen erinnern sich: Am 9. Februar 2003 haben Volk und Stände die Vorlage der allgemeinen Volksinitiative mit über 70 % der Stimmen angenommen, obwohl es von links und rechts eine Elitenopposition gab. Dies spiegelte sich gemäss VOX-Analyse aber nicht einmal bei den AnhängerInnen von SVP und SP. Doch konnte sich das Parlament in der Folge nicht einigen, wie man den Auftrag umsetzen solle. Weil es unverändert Opposition vor allem rechts, aber auch von links gab. Deshalb schickte man das Ganze an den Absender zurück, und stimmen wir am 27. September 2009 erneut über die allgemeine Volksinitiative ab.

Mit der allgemeinen Volksinitiative wollte man den Bürgern ermöglichen, mittels allgemein formulierten Anliegen Gesetze einzuführen, anzupassen oder aufzuheben. Das Parlament hätte dann über die Frage entschieden, ob das Anliegen auf Gesetzesstufe oder in der Verfassung umgesetzt wird und wie der entsprechende Artikel genau formuliert werden soll.

Nun will man das alles rückgängig machen: Stimmt das Volk der Vorlage diesmal zu, wird auf die beschlossene, bisher aber nicht eingeführte Erweiterung des Initiativrechts ganz verzichtet. Die Möglichkeit, eine Initiative starten zu können, die zu einer Änderung eines Bundesgesetzes führt, würde zurückgenommen.

Als Beobachter staunt man nicht schlecht, wie Mehrheiten entstehen, und wie sie mit verfahrenstechnischen Begründungen für obsolet erklärt werden können. Und man ist überrascht, dass es zu diesem Rückwärtssalto praktisch keine öffentliche Debatte gibt. Organisierte Gegner werden keine sichtbar, obwohl sie im Parlament auftraten, und die Befürworterschaft des Verzichts hält sich im gestarteten Abstimmungskampf fast ganz zurück, – ganz in der Hoffnung, niemand merkt, was geschieht.

Claude Longchamp

Parteien verschwinden aus der Gemeindepolitik

Trimstein zählt 500 EinwohnerInnen. Der Gemeinderat hat 7 Sitze. Politische Parteien gibt es in der Berner Gemeinde nur 1 – die SVP. Offiziell hat sie 1 Sitz in der Exekutive, denn die 6 andern GemeinderätInnen sind parteilos. Das alles ist gar nicht so unüblich, sagt eine Nationalfonds-Studie.

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Rund die Hälfte der Mitglieder in Gemeindeexekutiven der Schweiz sind parteilos, interessieren sich für Sachpolitik und sind dafür bereit einige Jahre ihres Lebens einzusetzen.

Gemäss Urs Meuli vom Soziologischen Institut der Universität Zürich ist Trimstein für kleine Gemeinden typisch. Denn seit geraumer Zeit kennt er die Ergebnisse der ersten Befragung bei allen 15’500 kommunalen Exekutivmitgliedern der Schweiz. Demnach gehören fast die Hälfte von ihnen keiner Partei an. Und, das Phänomen ist vor allem in kleinen Gemeinden noch ausgegeprägter.

Die Tendenz zur Parteilosigkeit in der Kommunalpolitik ist seit den 1980er Jahren beobachtbar. Früher ging der berufliche Aufstieg geradezu mit der Erfüllung der Bürgerpflichten einher. Angesichts individualierter Lebensläufe erweist sich das heute jedoch immer häufiger als Hindernis. Man zieht umher, will aber nicht ganz auf Politik verzichten. So sucht man neue Wege für politische Karrieren.

Fast alle befragten Parteilose sind überzeugt, dass Gemeindepolitik ohne Parteien ebenso gut funktioniert wie mit Parteien. Sie haben in ihrer Wohngemeinde die für sich richtige Partei nicht gefunden. Oder sie monieren, die Parteien seien zu stark auf Konflikte untereinander anstatt auf die Sachfragen in der Gemeinde ausgerichtet.

Das bestätigt auch die Gemeindeschreiberin von Trimstein: «An den Sitzungen des Gemeinderates dominiert die Sachpolitik», sagt Leila Arn Müller Trimstein über Dorfexekutive.

Claude Longchamp

“Volkswahl des Bundesrates”: indirekte Wirkungen wichtiger als direkte

Das Volk lehnte bis jetzt die Wahl des Bundesrates in Volksabstimmung immer ab. Dennoch hatten entsprechende Initiative oder Projekte indirekte Wirkungen, stärkten sie doch die Vertretung der Parteien, welche die Initiativen lancierten, im Bundesrat früher oder später.

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Das Ergebnis der Abstimmung von 1900 zur KK/SP-Initiative: 35 Prozent Ja bei einer Beteiligung von 59 Prozent der Stimmberechtigten.

Bereits zweimal wurde über die Volkswahl des Bundesrates abgestimmt: 1990 aufgrund einer Volksinitiative, getragen von den Katholisch-Konservativen und den Sozialdemokraten; 1942 als Folge eine Volksinitiative der SP. In beiden Fällen mobilisiert das Thema im Schnitt; zweimal scheiterte das Anliegen in der Volksabstimmung klar: 1900 votierten 65 Prozent dagegen, und es lehnte 14 Kantone ab; 1942 waren 68 Prozent und alle Kanton gegen die Vorlage.

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Das Ergebnis der Abstimmung von 1942 zur SP-Initiative: 32 Prozent Ja bei einer Beteiligung von 62 Prozent der Stimmberechtigten.

Das Abstimmungsergebnis erhellt nicht nur der Blick auf den räumlichen Kontext der Resultate. Der Zeitpunkt der Entscheidung ist mindestens so wichtig.

1900 befand sich die KK im Aufstieg zum Regierungspartei. Seit 1891 war sie als Minderheit mit einem Sitz im siebenköpfigen Bundesrat; im Parlament, vor allem im Ständerat hatte sie aufgrund ihres regionalen Profiles aber mehr Gewicht. 1942 war die SP auf dem Weg in den Bundesrat. Was ihr seit Längerem von bürgerlicher Seite verwehrt wurde, sollte 1943 effektiv erstmals erfüllt werden.

Volksinitiativen für die Volkswahl des Bundesrates gehören damit zu den Instrumenten, die Parteien einsetzen, welche ihre Macht in der Regierung stärken wollen. Sie kennen deshalb ein ausgesprochen taktisches Element. Von einer eigentlichen Konfliktlinie, die alle bestimmen würde, kann damit, wenigstens im historischen Rückblick, nicht gesprochen werden. Die Initiativen scheiterten recht deutlich, da sie keine soziologisch oder ökonomisch beschreibbares Potenzial kannten.

Angewendet auf die Gegenwart heisst dies: Die SVP fühlt sich im Bundesrat untervertreten. Sie verspricht sich, dass von der diskutierten Initiative Druck aus geht; das war schon im Jahr 2000 so, und es dürfte auch momentan der Fall sein. Direkte Wirkungen zeigten die Initiative nicht, weil sie in der Volksabstimmung scheiterten; indirekte Wirkungen stellten sich aber bisher immer ein: 1919 wurde die KK mit zwei Vertretern im Bundesrat bedient, und 1943 wurde die SP erstmals in die Bundesregierung aufgenommen. Bei der SVP reichte schon die Ankündigung der Initiative, dass die Verdoppelung ihrer Vertretung 2003 vorbereitet werden konnte.

Claude Longchamp

Einwände zur Volkswahl des Bundesrates

Die Volkswahl des Bundesrats wird in der Schweiz wieder zum Politikum. Vorgetragen wird sie gegenwärtig erneut durch die SVP, die ein entsprechendes Initiativprojekt diskutiert, obwohl ein analoger Vorschlag erst 2009 durch den kommunistischen Abgeordenten eingebracht, im Nationalrat klar abgelehnt worden ist.

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Quelle: Tages-Anzeiger, 30. Juni 2009

Seit 1848 sind alle Bestrebungen dazu gescheitert

Seit 1848 die Volkswahl des Bundesrats in der Diskussion der ersten Verfassung der Schweiz abgelehnt worden ist, wird das Thema regelmässig wieder diskutiert; alle Vorschläge hierzu sind bisher verworfen worden.

Sicher, die Voraussetzung seit damals haben sich geändert; die Kantone sind nicht mehr ausschliessliche und nach Innen gerichtete Teilstaaten. Dennoch gibt es kaum nationale Medien, eher ein sprachregional geprägtes Mediensystem, das die Möglichkeiten gesamtschweizerische Diskussion und Wahlen mindestens einschränkt.

Drei Einwände gegen die Volkswahl des Bundesrats werden immer wieder vorgebracht:

1. Der permanente Wahlkampf

Die Volkswahl des Bundesrates würde die Anbindung der Regierung an die Oeffentlichkeit stärken. Bei allen Vorteilen, die das auch hat, bleibt ein Problem: Die Gewählte würden sich dem ständigen medialen Dauerdruck der Abwahl ausgesetzt sehen. Diese wären letzlich auch in der Lage, die Abwahl in eigener Regie zu inszenieren. Ganz sicher wären die Medien auch eine zentrale publizistische und werberische Wahlvoraussetzung. Denn nur wenige PolitikerInnen erreichen die Bekanntheit, die nötig wäre, um national gewählt werden zu können. Faktisch sind das heute die Bundesräte nach der Wahl und Spitzenvertreter der Opposition wie das bei James Schwarzenbach, Jean Ziegler und Christoph Blocher der Fall war. Letztere sind geeignet, neue Themen aufzubringen und der politischen Diskussion zuzuführen, haben sich aber letztlich als zu wenig geeignet erwiesen, auch lösungsorientierte Sachpolitik zu betreiben.

2. Die Schwächung des Parlaments

Der Parlamentarismus ist die Norm der Demokratie. Darüber hinaus sind die direkte Demorkatie und das Präsidialsystem als Erweiterungen bekannt. Eine Kombination der drei System gibt es nationalstaatlich gesehen letztlich nirgends. Auf der Ebene der Gliestaaaten kommt Kalifornien dem am nächsten, – und zeigt mit hoher Regelmässigkeit die Schwäche: Da der Gouverneur, das Parlament und Volksabstimmung, alle ähnlich legitimiert, sehr unterschiedliche Politiken befürworten können, mangelt es schnell an Kohärenz, womit die politischen Satbilität, wie auch die jüngste Krise gezeigt hat, schnell leidet. Die Schweiz hat sich für den starken Ausbau der direkten Demokratie entschieden. Sie ist nach 1874 in verschiedenen Schritten stark ausgebaut worden, sodass sie die Bedeutung des Parlaments strukturell und in Policy-Fragen relativiert hat. Mit der Volkswahl des Bundesrates würde man dem Parlament nun auch die Wahlfunktion nehmen, womit nicht auszuschliessen wäre, dass das Parlament ganz zwischen Stuhl und Bank fallen würde, demokratiepolitisch eindeutig verantwortungslos.

3. Der erschwerte Minderheitenschutz

Volkswahlen der Regierung finden nach dem Mehrheitswahlrecht statt. Denn nur dieses legitimiert, im Namen der Mehrheit sprechen zu können. Entsprechend werden in aller Regel nicht Regierungen direkt gewählt, sondern das Präsidium. Die konsequente Anwendung des Mehrheitswahlrechtes auf nationaler Ebene für jedes einzelne Regierungsmitglied hebt konsequenterweise den Minderheitenschutz auf, oder aber schränkt über diesen das Mehrheitswahlrecht ein. Der Kanton Graubünden, als einziger Gliedstaat der Schweiz mit drei Regionalsprachen, hat ganz bewusst darauf verzichtet, den Sprachenproproz in die Volkswahl des Regierung einzuführen. Ohne das ist aber davon auszugehen, dass die deutschsprachige Schweiz – und mit ihr die Zürcher Optik – Volkswahlen der Bundesregierung dominieren müsste. Umgekehrt müsste man bei einem geregelten Minderheitenschutz müsste man klar sagen, wer in den Genuss kommen würde: nur die französischsprachige Schweiz? auch die italienischsprachige Schweiz? Und in welcher Zahl: je einen? zusammen zwei? Die Siebner-Zahl ist da nicht die einfachste.

Fazit
In der Tat kennt die Schweiz in den Kantonen die Volkswahl der Regierungen, kombiniert mit einem Parlament und direkter Demorkatie. Könnte man das nicht einfach auf die Schweiz übertragen? Meine Einschätzung lautet: eher Nein. Denn die Stabilität des Systems ist auch in den Kantonen nur gewährleistet, solange sich die grösseren Parteien untereinander an einen freiwilligen Proporz halten, der dem gleich, was wir im Bundesparlament haben. In den grösseren Kantonen werden in die Grenzen immer wieder sichtbar: Zürich, Bern, Waadt, Genf und Aargau kennen faktisch keine festen Schlüssel mehr für die Regierungszusammensetzung. Blöcke bilden sich, die bei Regierungswahlen gegeneinander antreten. Gesamtschweizerisch muss man klar Farbe bekennen: Wer die Volkswahl einführen will, will genau diese Polarisierung und verabschiedet sich von der politischen Konkordanz.

Claude Longchamp

Initiativprojekt zur Volkswahl des Bundesrates angekündigt

Die Zürcher Sektion der SVP greift mit der Volkswahl des Bundesrates eine Idee auf, welche die Mutterpartei im Jahre 2000 vorbereitet, dann aber fallen gelassen hatte. Sie will eine Volksinitiative, die es bei Annahme ermöglichen würde, dass die WählerInnen inskünftig Parlament und Regierung gleichzeitig wählen könnten.

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Alfred Heer, Zürcher Nationalrat und Präsident der SVP des Kantons Zürich, präsentierte das Projekt für die Initiative “Volkswahl des Bundesrates”

Die Forderung
Das Vorhaben für eine Volksinitiative sieht vor, dass der Bundesrat gleichzeitig mit den Nationalratswahlen von den Wahlberechtigten bestimmt würde. Die direkte Wahl der BundesrätInnen soll nach dem Mehrheitswahlrecht erfolgen und der lateinischen Sprachminderheit fest zwei Sitze garaniteren. Diese sollen nach dem Verfahren vergeben werden, das im Kanton Bern für die Bestimmung der fest gesetzten Vertretung des Berner Juras gilt.

Systemreform im Selbstverständnis der SVP
Das reaktualisierte Initiativprojekt wendet sich deutlich gegen andere Reformversuche des Bundesrates, etwa gegen die Ausweitung der Departementszahl, die unter einem Präsidenten durch MinisterInnen geführt würden, aber auch gegen die Stärkung des Präsidiums im jetzigen Gremium. Denn man möchte bei der knapp ausgestalteten Kollegialregierung bleiben, mit einem Präsidenten oder einer Präsidentin aus der Mitte der Mitglieder, jeweils für ein Jahr bestimmt.

Die SVP versteht ihren Reformvorschlag nicht als Schritt zu einem Präsidialsystem im amerikanischen Sinne. Vielmehr sieht es als Komplettierung des schweizerischen Sonderweges in der Demokratie-Entwicklung, die durch einen analogen Aufbau von unten nach oben bestimmt ist, und überall Volkssouveränität durch die Wahl von Parlament und Regierung, aber auch durch Abstimmungen über Sachfragen garantiert. Die jetzige Abhängigkeit der Regierung vom Parlament und nicht vom Volk betrachten die Gutachter für schlicht systemwidrig.

Recht offen kritisiert wird der Proporzgedanke für die Zusammensetzung der Bundesrates, weil er die Wahlfreiheit einschränke. Das hält man mit demokratischen Grundsätzen für unvereinbar. In solche Sätzen kommt denn auch der angestrebte Systemwechsel hin zu einer Konkurrenzdemokratie am klarsten zum Ausdruck.

Pikantes im Kleingedruckten
Etwas unbedacht wirkt in der gegenwärtigen Debatte über “Romand(e)s” das Kleingedruckte. Zur Regelung des Minderheitenschutzes hat man nämlich die lateinischen Gebiete der Schweiz aufgezählt. Dabei wird eine Zuordnung ganzer Kantone zu den Sprachregionen postuliert. Der Kanton Freiburg gilt demnach integral als Kanton der Romandie.

Das dürfte Urs Schwaller, möglicher Kandidat der CVP bei der anstehenden Bundesratswahl, freuen. In der Oeffentlichkeit wird bestritten, dass der deutschfreiburger Ständerat die Romandie vertreten können. Der diskutierte Initiativtext sähe hier keine Probleme. Ich werde mich umschauen, wie sich die SVP im Fall seiner Nomination verhält.

Claude Longchamp

Input Salat

Es war der Versprecher des Tages: “Der Gast will zum Input-Salat ansetzen, während das Referat kommt.” Das sagte einer der Teilnehmenden in meinem Kurs zum “Lobbying”. Und musste selber über sich lachen, obwohl es um eine ernste Sache geht.

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Links das Berner Bundeshaus mit den Parlamentssäälen, rechts das Bellevue, wo täglich zahlreiche Lobbyistenveranstaltungen stattfinden.

Meine Kursleute – die meisten von ihnen als Kommunikations-, Public Affairs oder Lobbyfachpersonen in Non-Profit-Organisationen, Firmen oder Verbänden tätig – berichteten aus ihren Erfahrungen mit der Beziehungspflege gegenüber dem Bundesparlament.

Kritisch zur Sprache kamen die verbreiteten Mittagessen mit eidgenössischen ParlamentarierInnen, die man während der Session gerne in einem der Berner Restaurants organisiert. Geboten wird meist ein Input-Referat eines Experten oder einer Vertreterin der Firma, des Verbandes oder des Netzwerkes. Dazu gibt es ein Essen, meist an runden Tischen, an denen sich die ParlamentarierInnen und die Lobbyisten mischen.

Die Frage wurde gestellt, ob das überhaupt noch wirkungsvoll sei. Meines Erachtens nicht zu unrecht.

Ein Blick beispielsweise in die Veranstaltungsliste im Berner Bellevue während den Sessionswochen zeigt, dass an Mittagen und Abenden je ein halbes Dutzend parallele Lobby-Veranstaltungen im 24-Stunden-Rhythmus keine Seltenheit mehr sind. Das Angebot ist reichlich, thematisch und kulinarisch, und man muss sich gegenseitig fast schon gezielt überbieten, um Besucht von mehr als einem Dutzend PolitikerInnen zu erhalten. Diese wieder schwanken zwischen Freude, Geladene zu sein, und Belastungen durch die vielen Verpflichtungen. Einzelne klagen einem im privaten Gespräch schon mal, nach einer Session gut und gerne fünf Kilo zugenommen zu haben, und sich deshalb, über die LobbyistInnen zu ärgern.

Das stellt die Frage, wie die gleichen Ziele mit anderen Mitteln erreichen erreicht werden können? Mein Tipp: Weniger ist mehr! Gezielt vorgehen und etwas bieten, was andere nicht machen, ist die devise. Statt Ritualen sind wirkliche Erlebnisse gefragt. Wenig bestritten sind zum Beispiel Treffen zwischen PolitikerInnen und LobbyistInnen, die regelmässig, aber in nicht zu dichter Folge stattfinden, die personalisiert sind und die keine Traktandenlisten haben. Denn so können sie dem gegenseitigen Gedankenaustausch dienen. Diesen schätzen PolitikInnen eindeutig mehr als unilaterale Kommunikation, weil sie informativen Charakter, nicht aber instrumentellen Charakter haben, und durch den ungezwungenen Dialog aber Vertrauensbasen schaffen.

Und weil so auf keine Gefahr bieten, dass das Referat und der Salat verwechselt werden kann, wie ich seit heute weiss!

Claude Longchamp

Terminator am Ende?

Kalifornien lehnt die Vorschläge zur Haushaltssanierung, die Gouverneur Arnold Schwarzenegger vorgebracht hat, in einer Volksabstimmung weitgehend ab. Der Bundesstaat im Westen der USA braucht jetzt eine harte Haushaltssanierung und wohl auch einen Reform der parlamentarischen wie auch direktdemokratischen Entscheidungsverfahren.


Am Tag davor: Gouverneur Schwarzenegger wirbt für seine Haushaltssanierung, die er im Parlament durchgebracht hat. IN der Volksabstimmung von gestern scheitert er aber deutlich.

Arnold Schwarzenegger, der Gouverneur von Kalifornien, weilte am Dienstag in Wahington, um der Verkündung neuer Umweltstandards für amerikanische Autos beizuwohnen, die Präsident Barack Obama auf der Basis von Vorschlägen Schwarzeneggers beschlossen hatte. Gleichentags wie dieser in der Hauptstadt grosse Erfolge feierte, erlitt er in seiner Wahlheimat drastische Niederlagen. Fünf der sechs Propositionen, die Schwarzenegger zur Sanierung der maroden Staatshaushaltes vorgelegt hatte, scheiterten in der Volksabstimmung mit Nein-Anteil von 60 Prozent und mehr. Einzig angenommen wurde der Vorschlag, die Politikergehält einzufrieren, solange der Staat Defizit ausweise.

Das Ergebnis der Referenden ist ein herber Rückschlag für Gouverneur Schwarzenegger, der die Wählënden in allen sechs Initiativen um Zustimmung gebeten hatte, denn bei Ablehnung droht ein Budgetdefizit von 21 Milliarden Dollar. Nötig geworden waren die vorgeschlagenen Reformen, weil Kalifornien derzeit ganz besonders unter der Wirtschaftskrise leidet. Erstmals seit 1938 fehen in diesem Jahr die Steuereinnahmen in absoluten Zahlen zurück. Korrigieren wollte ihre Gouverneur das, in dem er die Einkommens-, Mehrwert- und Fahrzeugsteuer erhöhte. Zudem hätte mit einer Zustimmung in der Volksabstimmung die Möglichkeit bestanden, eine grossen Geldanleihe aufzunehmen, um die Löhne der Staatsangestellten garantieren zu können.

Vergeblich hatte Schwarzenegger die Stimmenden vor einem Nein gewarnt. Jetzt bleibt ihm nichts anderes übrig, als den dicken Rotstift anzusetzen. Vor allem Schulen sowie das Sozial- und Gesundheitssystem müssen mit drakonischen Einsparungen rechnen. 5000 Staatsbediensteten droht die Entlassung. Außerdem will Schwarzenegger sieben wertvolle Immobilien verkaufen – darunter das Gefängnis San Quentin bei San Francisco und das Sportstadion Los Angeles Coliseum.

Bruno Kaufmann, Präsident von iri europe, der Schwarzenegger und Kalifornien gut kennt und eine Denkfabrik für direkt Demokratie leitet, glaubt, dass es nötig sein wird, die Entscheidungsstrukturen der parlamenarischen wie auch direkten Demokratie in Kalifornien zu überprüfen, um die Regierungsunfähigkeit der volkswirtschafltich bedeutsamen Bundesstaates der Vereinigten Staaten von Amerika zu verhindern. Er würde sich freuen, wenn seine Organisation nächstes Jahre den ersten Weltkongress für direkte Demokratie in den US durchführen könnte, um mitzuhelfen, alle Möglichkeiten der Institutionenreform auszuloten.

Claude Longchamp

Das Ende der Politik?

“90:60:90”, sei, spottete diese Woche der “Spiegel”, die einzige Frauenquote, die Silvio Berlusconi, Italiens Ministerpräsident, kenne. Damit spielte das deutsche Magazin auf die Nominierung für die Europawahlliste seiner Partei, bei welcher der Parteichef von “Volk und Freiheit” Frauen wie der “Big Brother”-Teilnehmerin Angela Sozio, der Soap-Opera-Darstellerin, Camilla Ferranti, der Schauspielerin Eleonora Gaggioli und Fernsehansagerin Barbara Matera vorschlug. Deren Gemeinsamkeit bestand nicht im politischen Programm, das sie erst in einem Crahs-Kurs kennen lernten, sondern ihrem medientauglichen Aussehen.

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Silvio Berlusconi, Italiens Ministerpräsident: In seiner Partei gäbe es gut kultivierte und kompetente Menschen, sagt er, die anders als bei den andern nicht schlechtgekleidet und übelriechend seien.

Der so angestrebte Coup misslang allerdings ziemlich gründlich. Veronica Lario, Berlusconis derzeitige Ehefrau, diskreditiert die Aktion als “Unverschämtheit und fehlende Zurückhaltung der Macht”, die “einzig und alleinder Unterhaltung des Imperators” diene. Der so bloss gestellte Berlusconi erklärte, seine Gattin sei Opfer einer linken Desinformationskampagne geworden. Seine Kandidatinnen seien “kultivierte und kompetente Personen” und anders als die Vertreter anderer Parteien keine “schlecht gekleideten und übelriechenden Meschen”.

Am EAPC-Kongress 2009 mehrfach aufgenommen

An der gestrigen Tagung der Europäischen Politischen BeraterInnen in Zürich wählte ich diese Episode aus dem italienischen Nationaldrama der Gegenwart als Einstieg in mein Referat, – und war damit im Workshop zu den Beiträgen der Schweiz und der EU füreinander nicht allein: Auch Hanspeter Kriesi, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Zürich, brauchte den Fall, um seine Thesen zur wachsenden Bedeutung von Medien einzuleiten.

In der Tat ging es auch mir um eine ähnliche Frage, jener nämlich, ob wir heute in einer Mediengesellschaft leben würden, wie das insbesondere verschiedenen Medienwissenschafter nahelegen. Ihr neuerdings bevorzugtes Phänom definieren sie als Vordringen der Massenmedien ins Herz der Gesellschaft, das dadurch neu konstituiert werde. Alle von den Medien erfassten Bereiche würden öffentlich und beobachtbar, gleichzeitig durch die Anpassung an die Logik der Medien in ihrer Substanz verändert.

Pro und Kontra zur These “typisch für die politische Kommunikation in der Mediengesellschaft”

Ohne Zweifel wirft das gewählte Beispiel die Frage auf, ob die Nominationen für die italienischen Europawahlen, der gegenwärtig bestmögliche Ausdruck für die Zerstörung der Politik durch die Medien sei. Dafür spricht, dass Silvio Berlusconi nicht einfach einer von vielen Politikern, sondern ein Medientycoon ist, der mit seinem privatem Kommunikationsimperium ein Vermögen von knapp 10 Milliarden Euro aufgebaut hat. Sicher ist auch, dass Berlusconi mit der Definitionsmacht seiner Medien regiert, Themen besetzt und verschwinden lässt, und Wahlkämpfe für seine Partei führt. “Forza Italia”, wie seine ursprüngliche Partei, entstanden insbesondere nach der Auflösung der Democrazia Cristiana, hiess, ist, seit der Fusion mit der “Alleanza nationale”, die einzig relevante Rechtspartei in Italien.

Für die These spricht auch die enorme Medialisierung von Wahlen und Wahlkämpfen, die dadurch immer mehr der Medienlogik unterworfen werden. Denn immer weniger geht es um die Legitimierung politischer Programm durch organisierte Akteure, die gesellschaftliche Interessen bündeln und nach gewonnen Wahlen vertreten wollen. Zum wichtigsten Kriterium der massenmedial vermittelten politischen Kommunikation wird, wer die höchste Medienaufmerksamkeit gewinnt, die Medienthemen strategisch setzen kann, welche die emotionale Grundierung legen, die Wahlentscheidungen bestimmen sollen. Der Kampf zwischen Programmen und Ideologien tritt dabei im Umfeld von Wahlen in den Hintergrund, während die Identifizierung mit Person, Lebensstilen und Geschichten massgeblich wird. Man ist geneigt zu sagen, das Ende der Politik in der Oeffentlichkeit sei gekommen.

Der Fall “Berlusconi” zeigt allerdings auch, wie anfällig die reine Kontrolle der Politik durch Medien selbst in Italien bleibt. Denn mit Berlusconis Gattin Veronica Lario, einer bekennenden Wählerin der linken Opposition, stolperte der Imperator nicht zum ersten Mal über ein Person, die vormals private, heute gänzlich öffentliche Angelegenheiten medial ebenso wirksam thematisieren, kann wie er das in gewohnter Manier überspielen möchte. Schon als ihr Ehemann dem früheren Topless-Modell Mara Carfagna, zwischenzeitlich Ministerin für Gleichstellungsfragen im vierten Kabinett Berlusconis, öffentlich einen spontanen Eheantrag machte, kam es zum Rosenkrieg, während dem sich Berlusconi bei seiner Frau entschuldigen musste. Nun hat eine bestrittene Liaison mit der minderjährigen Neapolitanerin Noemi Letizia die politische Macht des Ministerpräsidenten ins Wanken gebracht. Gleichzeitig mit der Einreichung der Scheidung durch seine Gattin, musste Berlusconi auf Druck seiner Partei die umstrittenen Kandidatinnen für die anstehenden Europawahlen zurückziehen.

Meine Bilanz: typisch für eine bestimmte politsiche Kommunikation der Mediendemokratie
Politik, könnte man daraus folgern, lässt sich selber in der perfektionierten italienischen Mediokratie nicht ganz auf Medienherrschaft reduzieren, sondern folgt, wenn auch erheblich transformiert, ihren eigenen Logik: der Eroberung der politischen Macht, die danach durch ein politisch eingebundenes und geschultes Personal auch gesichert werden muss. Die politische Kultur, welche diese Eroberung bestimmt, wird allerdings immer mehr durch eine politische Kommunikation, die den Gesetzmässigkeit der Mediengesellschaft folgt, beeinflusst. Das ist meine These.

Claude Longchamp

Mehr dazu:
Parteien in der Mediendemokratie, hgg. von U. von Allemann und Stefan Marschall, Verlag für Sozialwissenschaften 2002
Otfried Jarren, Patrick Donges: Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft. Eine Einführung, Verlag für Sozialwissenschaften, 2006 (2. Auflage)
Plasser, Gunda
Fritz Plasser, Gunda Plasser: Global Political Campaigning: A Worldwide Analysis of Campaign Professionals and Their Practices, Greenwood Pub Group Inc, 2002