Erste Professur für Demokratieforschung in der Schweiz

(zoon politicon) Gegenwärtig läuft eine Ausschreibungsverfahren, das der Schweiz eine Professur für Demokratieforschung bringen wird. Der Lehrstuhl wird von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich ausgeschrieben und soll schon am 1. September 2008 besetzt sein.

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Die Arbeit selber wird in Aarau geleitstet werden. Die Stadt hat finanziert vorerst befristet ein Zentrum für Demokratie, das durch die Stiftungsprofessur geleitet werden soll. Das Zentrum soll mit normativen Grundlagen, institutionellen Ausgestaltungen und der Leistungsfähigkeit demokratischer Systeme befassen, eigene Forschungsprojekt realisieren und insbesondere die Weiterbildung auf dem Gebiet der Politik aufbauen.

Für den neuen Lehrstuhl wird bis Mitte April 2008 eine ausgewiesene Persönlichkeit gesucht. Die Lehrstuhlinhaberin oder der Lehrstuhlinhaber sollte mit dem politischen System der Schweiz und ihren direktdemokratischen Institutionen sehr gut vertraut sein. Sie oder er sollte auch in der Lage sein, dem Aarauer Zentrum für Demokratie zu öffentlicher Sichtbarkeit zu verhelfen und eine entsprechende öffentliche Rolle zu übernehmen.

Ich freue mich auf diese Erweiterung der schweizerischen PolitologInnen-Landschaft und hoffe, die Stelle und das Zentrum werden etwas dazu beitragen, die schweizerischen Erfahrungen mit der (direkten) Demokratie namentlich im Ausland besser zu verankern.

Claude Longchamp


Ausschreibung

Die Kampftruppen der Freiheit

(zoon politicon) Man erinnert sich: Als der Kalte Krieg zu Ende war, zwangen juristische Untersuchungen über mysteriöse terroristische Aktionen in Italien Premierminister Giulio Andreotti 1990 zu bestätigen, dass die NATO in Italien und anderen europäischen Staten, eine Geheimarmee unterhalte. Koordiniert wurde sie durch den CIA und den MI6. Gerichtet war die Aktion, die in Italien unter dem Decknamen “Gladio” lief, gegen den Kommunismus in Westeuropa.

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Daniele Ganser vom Basler Historischen Institut, der die Geschichte der Nato-Geheimarmeen während des Kalten Krieges aufgearbeitet hat und provokativ die Frage nach der Souveränität der europäischen Staaten zwischen 1945 und 1989 stellt.

Diese Aufdeckung hat den Basler Zeithistoriker und Politikwissenschafter Daniele Ganser beflügelt, ein unübliches Dissertationsprojekt zu starten: Die Geschichte der NATO-Geheimarmeen in Europa sollte für die ganze Nachkriegszeit bis in die Gegenwart aufgearbeitet werden.

Bedenken, die renommierte Professoren wie Georg Kreis wegen des Quellen an die Adresse des Projektes formulierten, überging der Doktorand. Er arbeitet, während drei Jahren und nun unterstützt von Georg Kreis, zugängliches Archivmaterial auf, erhielt weiteres von verschiedener Seite zugestellt und entwickelte dabei die Kunst, immer mehr auch bisher uneditiertes Quellenmaterial zu erschliessen. Damit doktorierte Ganser bei Professor Jussi Hanhimäki an der LSE in Politikwissenschaft. Sein Werk erschien 2005 auf Englisch und avancierte in dieser Sprache zum Bestseller. Zwischenzeitlich ist es in Italienische, Türkische, Slowenische, Russische, Französische und Estnische übersetzt worden. Und seit einigen Tagen liegt auch eine deutsche Fassung vor, die, erweitert um ein Vorwort von Georg Kreis und ein Nachwort von Albert A. Stahel auf dem Buchmarkt erworben werden kann.

Der Doppelcharakter von Geheimarmeen
Daniele Ganser fasst seine Forschungsergebnisse so zusammen: Die NATO-Armeen hätten einen Doppelcharakter gehabt. Zunächst seien sie eine kluge Vorsichtsmassnahme gewesen, die aus den Erfahrugnen des Krieges entstanden, während der Zeit des Friedens vorbereitet worden sei. 19 Nato-Staaten, aber auch vier Neutrale, darunter auch die Schweiz, seien daran beteiligt gewesen. Handumkehrt seien diese NATO-Truppen aber auch eine Quelle des Terrors gewesen. Denn mit dem Ausbleiben der erwarteten Invasionen der Roten Armee in Westeuropa habe sich das Ziel verlagert. Aus Angst, das linke Parteien namentlich in Italien, Frankreich, Belgien, Finnland und Griechenland, die Regierungen übernehmen und so die NATO von Innen her zerstörten könnten, hätten die Geheimdienste der USA und Grossbritannien die Geheimarmee als Instrumente verwendet, um die Demokratien Westeuropa von innen her zu manipulieren und zu kontrollieren. Das habe weder die europäische Bevölkerung noch deren Regierungen wissen dürfen und so einen rechtsfreien Raum geschaffen.

Genau hier greift der Politikwissenschafter Ganser dezidiert ein: Der dokumentierte Sachverhalt stelle die Souveränität der Staaten Westeuropas zwischen 1945 und 1989 in Frage. “Die Manipulation durch Washington und London, deren Umfang für viele in der Europäischen Union auch heute noch schwer zu glauben ist, hat eindeutig gesetzlichen Regeln verletzt.” In einigen Operationen seien linke Politiker nur beobachtet worden. In anderen sei antikommunistische Propaganda betrieben worden, der schliesslich auch vor Blutvergiessen nicht zurückgeschreckt habe. Das sei entstanden, weil man sich mit rechtsextremen Terroristen zusammengetan haben, die zu Terroranschlägen, Folterungen, Staatsstreichen und andere Gewalttaten geführt habe. Das meiste davon, sei im Geheimen unterstützt und erfolgreich vertuscht worden.

Demokratische Kontrolle und staatliche Souveränität
Das ist dicke Post, die man auf dem Büchertisch von Schweizer Buchhandlungen erwerben kann. Dabei kann es schon mal Vorkommen, dass man das Buch zwischen Krimis und James-Bond-Geschichten vorfinden kann. Doch es sind nicht nur Erfindungen und Fiktionen, die da aufgeführt werden. Es handelt sich um eine Stück zeitgeschichtlicher Realität, die man vielleicht vermutet und befürchtet hat, jetzt aber in einer bisher unbekannte Form vorgeführt vorfindet. Deshalb liesst man fast noch aufmerksamer als bei einem Krimi das Buch von A bis Z durch, und staunt von der Aufdeckung der Aktion “Gladio” vor 18 Jahren in Italien über die detaillierten Länderberichte quer durch die europäischen Staaten bis zur Würdigung. Diese nimmt, nach 450 flüssig geschriebenen Seite, die für die Politik zentrale Frage auf: jene nach der demokratischen Kontrolle von Geheimarmeen, die aus inhärenten Gründen zwischen Oeffentlichkeit und Geheimhaltung abwägen muss.

Ganser ist in der Beantwortung dieser Frage unmissverständlich: “Der Exekutive sollte keinen Verschwiegenheit gewährt werden, und sie sollte jederzeit von der Legislative kontrolliert werden”, denn die Gewährung komme einen fundamentalen Versagen der demokratischen Institutionen gleich. Doch der Zeithistoriker hält auch hier nicht inne. Seine Ueberlegung werden bis in die Gegenwart, sprich bis zum 11. September 2001, nachgezeichnet. Und sie führen ihn zu folgendem Schluss: Die Spirale der Frucht, der Manipulation und der Gewalt müsse durchbrochen werden. Der Terorismus können nicht durch Krieg besiegt werden. Denn der Krieg sei kein Teil der Lösung, sondern des Problems. Die Aussteigsstrategie müsse sich auf jeden einzelnen Menschen und sein Bewusstsein konzentrieren. “Der Einzelne kann sich von Furcht und Manipulation befreien, indem er sich ganz bewusst auf die eigenen Gefühle konzentriert, auf seine Gedanken, seine Worte und Handlungen achtet und damit immer friedliche Lösungen anstrebt.”

Das Stauen verarbeiten
Wahrlich, ich habe seit langem keine so provokante und spannende Disseration in Geschichte oder Politikwissenschaft gelesen, die nur schon deshalb berichtenswert ist, selbst wenn man sie noch nicht vertieft verarbeitet hat. Denn die Problematik, dass die Freiheit sich mit nicht freiheitlichen Mittel verteidigt kann weder demokratietheoretisch noch demokratiepraktisch stehen gelassen werden. Das wäre eine Kapitualtion von den Kampftruppen der Freiheit!

Claude Longchamp

Daniele Ganser: Nato-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung, Zürich 2005 (Original 2005 auf Englisch erschienen)

Vorbildliche Lektion in Demokratietheorie

Demokratie nahm in den griechischen Stadtstaaten ihren Anfang. Die bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts beförderten die Sache. Zum Siegeszug als Herrschaftsform setzte Demokratie jedoch erst im 20. Jahrhundert an.
Anders als erwartet, bildete sich dabei nicht nur eine Form der Demokratie heraus, sondern unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen verschiedenste Erscheinungweisen. Deshalb erstaunt es nicht, dass die Nachfrage nach wissenschaftlichen Theorien der Demokratie im letzten Jahrhundert rasant angestiegen ist.

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26 Theorien im Vergleich
Ein besonders geglückter Versuch, eine weitgehend unvoreingenommene Ordnung in diese ausufernde Diskussion zu bringen, ist das deutschsprachige Lehrbuch “Demokratietheorien” des Heidelberger Politikwissenschafters Manfred G. Schmidt. Auf rund 600 Seiten handelt der Autor Vorläufer und Hauptvertreter der modernen Demokratietheorien ab, und stellt er die Demokratietheorien vor, die in der Forschung der Gegenwart von zentraler Bedeutung sind vor. 26 Definitionen und Herleitungen des Gegenstandes, die einen Bogen schlagen von Aristoteles bis zur Transitionstheorie von Diktaturen in Demokratien sind so zusammen gekommen. Diskutiert werden sie durch einen kritischen Befürworters von Demokratien, der legale Herrschaft, allgemeines, freies und gleiches Wahlrecht, Parteienwettbewerb, liberale Freiheiten, Abwahlmöglichkeiten und Verfassungsrecht zur Minimaldefinition der Demokratie zählt.

Der besondere Wert des Lehrbuches besteht darin, dass die Begründungen und Kritiken der verschiedenen Demokratievorstellungen nicht nur gerafft und materialreich zugleich vergestellt werden. Vielmehr werden sie in einem abschliessenden Teil aus einer systematischen, theorievergleichender Perspektive rekapituliert. Dafür hat Schmidt 10 Fragen für die Bewertung Demokratietheorien formuliert, die eine bisher nicht gekannte Uebersicht über den Gegenstand erlauben.

Die geprüfte Leistungsfähigkeit von Theorien
In einem 11 Vergleichspunkt kommt der Autor auf seine eigentliche Absicht des Buches, das schon mehrere Auflagen erlebt hat, zu sprechen: die Leistungsfähigkeit heutiger Demokratietheorien zu beurteilen. Zu seinen Favoriten zählen Demokratieforscher Schmidt Alexis de Tocqueville, Max Weber und Joseph Schumpeter, die die Funamente der Demokratietheorien legten. Ausgebaut wurde sie durch die Pluralismustheorie, die kritische Theorie und die komplexe Demokratietheorie. Die Ausweitung der Beschreibungen und Analysen durch den Staatenvergleich zählt er ebenfalls zu den wesentlichen Gründen für den Erkenntnisfortschritt. Schliesslich – und das kommt auch im Band selber breit zum Ausdruck – hält der Empiriker Schmidt die Vermessung von Demokratien für eine der wesentlichen Verbesserungen in der Gegenwart.

Rousseau, der während der Aufklärung das Prinzip der Volkssouveränität begründete, kommt in diesem Band auffällig schlecht weg, denn er blieb bei einem rudimentären Demokratieverständnis stehen; bemerkenswert gute Noten bekommt dafür der erste Theoretiker und Empiriker der Demokratie überhaupt, der griechische Philosoph Aristoteles.

Meine Würdigung
Ich kann das Buch Interessierten der Demokratieforschung nur empfehlen. Beendet wurde es fast schon symbolisch an der Schwelle des 20. zum 21. Jahrhunderts. Doch damit nicht genug; drei Vorteile des Buches von Schmidt seien hier herausgestrichen: Zuerst ist ein gut lesbarer Einstieg in eine nicht immer einfache Materie. Dann ist es eine Fundgrube für zentrale Ueberlegungen und relevante Daten zum Thema zugleich. Schliesslich eröffnet es einen nüchternen Blick auf die unverändert spannendste Herrschaftsform überhaupt.

Dass man am Schluss der Lektüre fast so weit ist, nach eine neuen, ideale Demokratietheorie greifen zu wollen, ist bei einem Einführungsbuch in einen politikwissenschaftlichen Gegenstand selten genug.

Claude Longchamp

Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Opladen 2000

Freiheiten und Demokratie weltweit vermessen

(zoon politicon) Demokratietypisierungen sind heutige in demokratischen Staaten in. Der wesentliche Gegensatz in den politischen Systemen, im 20. Jahrhundert entstanden, betrifft jener zwischen demokratischen und nicht-demokratischen Regimes. Mit dieser Polarität beschäftigt sich eine der weltweit am häufigsten zitierten Ländereinteilungen, jene, die das Freedom House in Washington, D.C. (USA) herstellt.

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Weltweit aktuellste Länderklassierung aufgrund der existierenden politischen und bürgerlichen Freiheiten, erstellt durch das Freedom House

Die amerikanische Forschungseinrichtung erstellt jährlich einen Bericht über den Grad der demokratischen Freiheiten, gemessen am Stand der verbrieften bürgerlichen und politische Rechte. Die politische Freiheit wird aufgrund des Wahlprozesses, des Pluralismuses und der Partizipation in der Politik bestimmt, während Rede-, Glaubens- und Versammlungsfreiheit auf der einen, Rechtstaatlichkeit und Garantie individueller Rechte auf der anderen Seite die bürgerlichen Rechte ergeben.

Das Freedom House unterstützte in der Vergangenheit verschiedene Grossprojekte wie den Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg, die Bürgerrrechtsbewegungen der 60er Jahren, Solidarnosc in Polen und Demokratie-Bestrebungen in der Ukraine und in Serbien.

Freedom House sieht sich damit im Trend. Nach ihren Berichten nimmt der Anteil liberale Demorkatien weltweit zu. 1973 galten 43 Staaten als “frei”, 2003 waren es 89″. 48 galten ausdrücklich als “unfrei”, während 55 als “halbfrei” klassiert wurden. Zwischen 1993 und 2003 nahm deren Zahl allerdings nicht zu Gunsten der frei, sondern auch der unfreien ab.

Das Freedom House sieht sich mit seinen Aktivitäten im Gefolge der Erklärung der Menschenrechte. Indes, es steht damit nicht allein. Der Index der ökonomischen Freiheiten, ebenfalls jährlich durch die Heritage Foundation erstellt und durch das Wall Street Journal publiziert, benasprucht ebenfalls, die Realisierung von Freiheit bestimmen zu können. Das gilt, ebenfalls spezifiziert, auch für den den Weltweiten Index der Pressefreiheit, durch die Reporter ohne Grenzen herausgegeben (der auch die Blogosphäre berücksichtigt).

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Uebersicht über die weltweite Verteiligung von Demokratien und Diktaturen aufgrund des Economist Intelligence Unit’s Index of Democracy

Spezifischer auf die Demokratie zugeschnitten ist schliesslich der Economist Intelligence Unit’s Index of Democracy. Er teilt die Staaten in volle, weitgehend und hybride Demokratien resp. autoritäre Regimes oder Diktaturen ein. Dabei stellt der Index auf verschiedenste Indikatoren ab wie die bürgerlichen Freiheiten, die Wahlen, Medienfreiheit, politische Partizipation, öffentliche Meinung, funktionierende Regierung , Korruption und politische Stabilität. Daraus entsteht nicht nur eine qualitative, sondern auch eine quantitative Beurteilung der 169 untersuchten Länder.

Die Schweiz rangiert im Demokratie-Index weltweit an 10. Stelle. Die Abstriche entstehen wegen gewissen Problemen mit der politischen Partizipation. In den drei oben genannten Ranglisten, die qualitative Aussagen machen, ist die Schweiz jeweils in der obersten oder freisten Kategorie.

Claude Longchamp

Uebersicht über alle Indices

Vertiefender Literaturhinweis:
Alexander Gallus, Eckehard Jesse (Hg.): Staatsformen von der Antike bis zur Gegenwart. Wien 2007 (2., erweiterte Auflage)

Aktueller Hinweis:
Gedenktag der Märzrevolution von 1848 in Berlin zum Thema “Freiheit und Demokratie”

Demokratie-Muster

(zoon politicon) Lang schien alles klar: Demokratie beruht auf Wettbewerb, braucht mindestens zwei Parteien, die sich in die Rollen der Regierung resp. der Opposition teilen. Bestimmt wird die Aufgabenverteilung über Wahlen, bei der die Mehrheit entscheidet. So lautete die knappste Demokratiedefinition im Westminster Verständnis.

Doch bekam man damit Probleme, wenn man beispielsweise die schweizerische Demokratie bestimmen wollte. Volksrechte kennt die Definition gar nicht, und von der Möglichkeit, statt auf Konkurrenz auf Konkordanz zu setzen, spricht sie auch nicht.

Die Klassifikation von Arend Lijphart

Den letzten Mangel hat der niederländische Politikwissenschafter Arend Lijphart, der im Eldorado der amerikanischen Universitäten lehrt(e), mit seinem epochalen Werk “Patterns of Democracy”, 1999 erschienen, aufgehoben. Denn ihm ist es gelungen, eine neue Demokratietypologie zu entwickeln und durchzusetzen, welche kulturelle Selbstverständnisse der amerikanisch-britisch geprägten Definitionen überwinden. Dafür hat(te) er 36 Demokratie untersucht, und sie

. entweder als mehrheits-orientiert
. oder als konsens-orientiert

bezeichnet. Dabei entstand nicht nur eine neue Klassifikation, wie es sie in der Demokratieforschung viele andere auch gibt. Lijphart’s Verdienst ist es, seine Demokratie-Unterscheidung auch an 10 klar definitierten, brauchbaren Kriterien dingfest gemacht zu haben:

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(Quelle: Adam 2003)

Die Kriterien lassen sich nach Lijphard auf zwei Dimensionen reduzieren: Das Verhältnis von Exekutive und Parteien resp. zwischen Unitarismus und Föderalismus. Daraus entsteht dann auch seine berühmte Landkarte der Demokratien, die bis heute befruchtend wirkt.

Das britische und das schweizerische Muster
Nimmt man nun diese zum Nennwert, dann ist das britische Demokratie-Modell kein Normal- eher ein Spezialfall. Der kann zwar unverändert Vorbildfunktionen haben, Allgemeingültigkeit kann er aber nicht mehr beanspruchen.

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Quelle: Lijphart 1999.

Die Schweiz wiederum erscheint auf der Demokratie-Landkarte als Gegenstück. Sie ist, anders als das britische Modell, weder zentralstaatlich noch parlamentarisch ausgerichtet. Sie ist ausgesprochen föderalistisch, fast so stark wie die USA, Kanada, Austrialien und Deutschland, die alle viel grösser sind; und sie ist – unter den untersuchten Staaten – die typischste Konsensusdemokratie, nur noch mit Island und Finnland vergleichbar.

Meine Bilanz
Lijphart’s bleibendes Verdienst ist es, ein neues Verständnis von Demokratieformen entwickelt zu haben. Die Bedeutung der Mehrheitsentscheidung als Definitionskriterium wird dabei relativiert, und durch Prozesse der Verhandlung in und mit Gliedstaaten erweitert. Das macht die politikwissenschaftliche Optik schon mal realistischer. Entsprechend sind Lijphart’s Bemühungen für ein zeitgemässes Demokratieverständis gerade von vergleichenden Politikwissenschaftern aus der Schweiz, wie beispielsweise Jürg Steiner, gebührend gewürdigt worden.

Nicht glücklich bin ich allerdings mit der Terminologie im Deutschen. “Konsensus-Demokratie” sind die wenigstens, die zum britischen Gegenpol gehören; Verhandlungs- und Proporzdemokratien, die auf den deutschen Politikwissenschafter Gerhard Lehmbruch zurückgehen, dagegen schon. Die Typologie sollte also zwischen dem Konkurrenz- und dem Konkordanzmuster unterscheiden.

Damit ist eines der beiden Probleme, die man als SchweizerIn, in der Schweiz oder mit der Schweiz in Demokratieklassierung regelmässig bekommen hat, überzeugend gelöst. Das andere harrt noch der Dinge: Wie man die schweizerische, direkten Demokratie in die allgemeinen Definition einbauen kann, ohne dass man gleich von Sonderfall sprechen muss! Die PolitikwissenschafterInnen unserer Landes haben das eine ungelöste Herausforderung vor sich …

Claude Longchamp

Arend Lijphard: Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries, Yale 1999.

weitere, gebräuchliche Klassifikationen von Demokratien in der Uebersicht von Hermann Adam

Was tun PolitikwissenschafterInnen in der Praxis?

Ich selber bezeichne mich als Politikwissenschafter mit eigener Praxis. Was das ist, habe ich vor einiger Zeit auf Einladung der Studentenschaft der Universität Bern erläutert.

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Nur ein von vielen Tätigkeiten von PolitikwissenschafterInnen in der Praxis: Politische Analysen für Massenmedien

Meine Thesen
Hier meine zentralen Thesen und Schlussfolgerungen, die ich den kommenden AbsolventInnen des Faches präsentiert habe:

These 1: Nichts wird in Zukunft so sein, wie es bisher war.
Meine Erfahrungen aus 20 Jahren Berufstätigkeit als Forscher lehrt mich nämlich, von einer Transformation der Rollenbilder auszugehen, die spätestens alle drei Jahre über uns kommt. Wer in die angewandte Forschung einsteigen will muss fit sein, und wer sich darin länger aufhalten will, muss fit bleiben. Dies heisst, sensibel für Neues sein, kreativ mit Herausforderung umzugehen, Risikobereitschaft und Innovationsgeist zu zeigen und vor allem nicht zu vergessen, dass die Produktion neuen Wissens eine stetige Lernbereitschaft erfordert.

These 2: Für praktisch tätige PolitologInnen braucht es eine besondere Balance für Engagement und Distanz.
Ein Biologe, der nie in den Wald geht, betrachtet seinen Gegenstand nur gefiltert durch die Reagenzgläser seines Labors. Und StudentInnen der Politikwissenschaft, die nicht in einer politischen Veranstaltung für oder gegen etwas gekämpft zu haben, riskieren, geblendet durch gescheite Bücher aus den USA über hiesige Politik zu sprechen, ohne etwas zu verstehen. Allerdings sind politische AktivistInnen in der politikwissenschaftlichen Praxis nicht unproblematisch, müssen sie doch meist noch zuerst Lernen, was es heisst, “Distanz” zu einem Thema zu haben.

These 3: Wer als Politikwissenschafter/Politikwissenschafterin in der Praxis steht, lebt nicht ohne gelegentliche Anfeindungen.
Gerade die Demoskopie wird rasch auch als Demagogie verschrieben, werden praktische Politologen mit parteilichen Ideologen gleichgesetzt, und kommunikative Wissenschafter als “Medien-Politologen” tituliert. Nicht selten sind es dabei die KollegInnen von der Universitätswissenschaft, die einem die Leviten lesen. Geschieht dies mit der Absicht, gemeinsam etwas besser zu entwickeln, kann man auch nichts dagegen haben. Manchmal überwiegt aber auch der Neid über den Erfolg auf Prestigemärkten oder schlicht der Konkurrenzdruck bei der Akquisition von Projekten, was kein Anlass sein sollte. Dem Ganzen schädlich sind angestrengte Angriffe via Medien.

These 4: Politikwissenschaft in der Praxis ist ein Teil der aufkommenden Wissensgesellschaft.
Überblickt man die Tätigkeiten von praxisorientierten PolitologInnen, wird ersichtlich, in welchem Masse sie ein Teil der politischen Steuerung geworden sind. Sie beschreiben Politik nicht nur, sie beschleunigen und bremsen sie gelegentlich, indem sie spezifisches Wissen produzieren, das in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft genutzt werden kann resp. auch genutzt wird. Das macht letztlich den übergeordneten Reiz der Tätigkeit aus, als Wissenschafter in der Praxis zu sein. Der Dynamik der noch sehr jungen Wissensgesellschaft entspricht es, dass man gelegentlich auch nicht weiss, wie es weiter geht. Das hält aber Erfordernisse wach, die für die Forschung unabdingbar sind: Unermüdliches Fragen, kreative Suche nach Lösungen. Innovationsgeist, Originalität und nicht zuletzt die Freude, stets eine Nasenlänge voraus zu sein.

So, wer sich mehr dafür interessiert, schlage hier das ganze Referat nach!

Claude Longchamp

Schlüsselwerke der Politikwissenschaft handlich aufgearbeitet

(zoon politicon) Da geht die Praxis der Theoretiker und der Praktiker weit auseinander: Muss man die Klassiker der Politikwissenschaft ausführlich gelesen haben, oder reicht es, wenn man die relevanten Zusammenfassungen kennt? Die Antworten stehen sich da diametral gegenüber: In der wissenschaftlichen Ausbildung sagt man: Ja, man muss sie in extenso gelesen haben. In der ausseruniversitären Praxis wird man Antworten: Unmöglich!

Ich gebe folgende Antwort: Im eigenen Arbeitsgebiet lohne es sich, die grossen Gedankengänge der relevanten Literatur einmal von A bis Z durcharbeitet zu haben. Und es ist sinnvoll, in einzelnen Forschungsgebieten die verzweigten Hinweise auf Neues selber aufgespürt zu haben.
Darüberhinaus mache ich mir nichts vor: Eine Uebersicht über die schnelle Entwicklung des Faches bekommt man so nicht. Doch das ist häufig essenziell. Gerade auch für Nicht-Fachleute.

Da bleibt nur der Griff zu Lexikas, um Begriffe sauber bestimmt zu bekommen, zu Handbüchern, um thematische Zusammenfassungen zu erhalten, oder eben zu diesem Buch:

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Steffen Kailitz: Schlüsselwerke der Politikwissenschaft. Wiesbaden 2007, 499 S.

In diesem Buch bekommt man rasche und knappe Antworten auf herausragende Werke der Politikwissenschaft, etwa zu Klaus von Beymes “Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa”, zu Walter Bagehots “The English Constitution” oder zu Max Webers “Wirtschaft und Gesellschaft”.

In diesem neuartigen Band werden 129 zentrale Werke der Politikwissenschaft handlich besprochen. Das ist verdankenswert, wenn man gezwungen ist, für eine Fragestellung, für ein Projekt oder für eine Vorlesung schnell abzuschätzen, was der Gehalt der Ergebnisse und Erkenntnisse ist.

Gerade dann, wenn man von einem Werk der Politikwissenschaft so angesprochen wird, steht es einem ja frei, bei geweckter Muse mal das ganze Buch zu lesen!

Claude Longchamp

Selbstverständlich bleiben zwei Werke zur Politikwissenschaft unverzichtbar:
Kurzfassung: Dieter Nohlen und Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.): Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe (2 Bd.). München 2005 (3. Aufl.)
ausführliche Fassung: Dieter Nohlen (Hrsg.): Lexikon der Politik (7 Bde.), München 1995 ff.

Die online Kurzversion kann man hier nachschlagen:
PolitikWissen.de

Politologie für die Zeitungslektüre

Wie die meisten Menschen lesen auch PolitologInnen Zeitungen. Doch sie machen es mit anderen Filtern. Für Sie sind Zeitungsinformationen auch Ausgangslagen für die Schnellanalyse dessen, was politikwissenschaftlich Relevantes berichtet wird. Und das kann auch für Nicht-PolitologInnen ganz nützlich sein.
Werner Patzelt, Politikprofessor in Dresden, der eine erfolgreiche Einführung in die Politikwissenschaft verfasst hat, machte hierfür zwei Vorschläge, die man sich gut merken kann.

Das PPP/MINK-Schema von Werner Patzelt für die rasche Analyse politikwissenschaftlich interessanter Zeitungsberichte

PPP: der dreifach differenzierte Politikbegriff

Im Deutschen haben wir nur einen Begriff für “Politik”; im Englischen sind es drei: “PPP” steht für “policy”, “politics” und “polity”.
“Policy” umschreibt den Inhalt einer Politik, “politics” den Prozess der Entscheidung, und “polity” die strukturellen resp. kulturellen Voraussetzungen, aufgrund derer eine Entscheidung hierzu stattfindet.
In einem Artikel zum Handeln eines politischen Akteures (z.B. Staatspräsident, Ministerin, Parlamentarier, Gerichtvorsteher, Polizeibehörde, ParteivertreterInnen, Quartierverein) stellt sich also zuerst die Frage, um was es geht: um ein Programm, um eine Entscheidung oder um das System.
Meist reicht eine der drei Begriffsbestimmungen, gelegentlich braucht man zwei, selten drei. Das zeigt, wie undifferenziert der deutsche Politikbegriff ist. Es verweist auch darauf, mit Vorteil in den englischen Politik-Kategorien zu denken.

MINK: die vier zentralen Politikdimensionen
Nun sind wir wieder beim Deutschen. Das Wort besteht aus den Anfangsbuchstaben der vier zentralen, politikwissenschaftlichen Dimensionen: der Macht, der Ideologie, den Normen und der Kommunikation.

Ideologie ist die selektive Wahrnehmung oder Schilderung einer Ausgangslage. Es interessiert vor allem, was ausgeblendet wird und bleibt. Denn es gilt: Politische Akteure handeln aufgrund ihrer Ideologie, also ihrer selektiven Definition von Realität. Sie unterscheiden sich von anderen Akteuren aufgrund der Unterschiede im Zugriff auf Situationen und Veränderungen.
Wenn gehandelt wird, steuern Normen jegliche Handlung. Politologisch relevant ist vor allem, wie ein Akteur mit rechtlichen, politischen oder sozialen Normen umgeht, denn so lassen sich seine Absichten bestimmen. Regierungen müssen in der Regel legal und konventionell handeln. Oppositionelle dagegen spielen mit dem Tabubruch, der Normverletzung oder dem Gesetzbruch, um auf ihre speziellen Situation aufmerksam zu machen.
In einer Entscheidung haben jene Akteure Macht, welche die Chancen haben, ihren Willen auch gegen das Widerstreben anderer durchzusetzen. Macht zeigt sich auch, wenn man Entscheidungen verhindern oder die Voraussetzung von Entscheidungen so gestalten kann, dass der eigene Wille begünstigt wird. Macht zeigt sich in jeder Entscheidung, in der Unterscheidung von Entscheidern und Entscheidbetroffenen.
Schliesslich ist Kommunikation der direkte oder medial vermittelte Austausch von Informationen und Sinndeutungen. Kommunikation ist bei der Konstitution ideologischer Wirklichkeiten massgeblich, Kommunikation zeigt den Umgang mit Normen, und mit Kommunikation propagieren Akteure auch Ziele und Mittel, die in Entscheidungen eingesetzt werden.

Nicht immer sind alle vier Dimensionen werden durch jede politische Handlung angesprochen. Das liegt in der Natur der Sache. Meist kommt in Zeitungsartikeln jedoch die Akteurskommunikation in Kombination mit Ideologien, mit Normen oder mit Macht in Verbindung vor.

Meine Erfahrung
Meine Erfahrung bei der Anwendung des Schemas sagt mir: Das MINK-Schema kann bei der Zeitungslektüre immer dann verwendet werden, wenn ein politische Akteur handelt und man nach den politikwissenschaftlich relevanten Begriffen und Dimensionen dieser Handlung fragt. Das erschliesst einem Zusammenhänge, ob sie im Bericht vorkommen oder nicht. Und genau das hilft, die letztlich meist positionslose Zeitungslektüre, deren Informationen jenseits von Sensationen sofort wieder vergessen werden, politologisch interessanter zu gestalten!

Claude Longchamp

Werner Patzelt: Einführung in die Politikwissenschaft. Grundriss des Faches und studiumbegleitende Orientierung, Passau 1993 resp. eine der Neuauflagen davon

“politik digital” setzt in den Neuen Medien Massstäbe

(zonn politicon) Die Website ist ausgezeichnet. Sie wurde auch mehrfach ausgezeichnet.

politik-digital” setzt auf dem Internet Massstäbe in der Politikvermittlung. Betrieben wird sie vom eingetragenen Verein “pol-di.net”.

Im Mittelpunkt steht, mehr Transparenz zu schaffen zu politischen Institutionen und politischen Entscheidungen. Damit will man einen Betrag leisten zujm Aufbau der europäischen Informations- und Wissensgesellschaft.

Die Website kennt drei Schwerpunkte:

. eConsumer: Hier geht es um politische Bildung für Netznutzer.
. e Democracy: Hier geht es um politische Meinungsbildung via Internet.
. eGovernment: Hier geht es um Entwicklungen im elektronischen Behördenverkehr.

Die Autoren sind anerkannte Politikwissenschafter, gewählte Mitglieder des (deutschen) Parlaments und WebjournalistInen mit Erfahrungen.

Wer sich interessiert, kann einen Newsletter abonnieren, mitdiskutieren, Kommentare verfassen, oder ganz einfach: ausdrucken und nachlesen!

Zurecht bezeichnet man “politik-digital” als die grösse unabhängige Internet-Plattform für Politik und Neue Medien. Schade nur, dass der Export der deutschen Fassung in anderen Ländern wie der Schweiz nicht recht Fuss fassen will.

Claude Longchamp

Konkordanz in der Schweiz auf dem Prüfstand

(zoon politicon) Seit die SVP Schweiz sich nicht mehr in der Regierung sieht, ihren Wählerauftrag aus der Opposition zum Bundesrat heraus sichtbarmachen will, an den Bundesratsparteiengesprächen nicht mehr teilnimmt, und in der “Arena” gleich starke Delegationen von Regierung und Opposition fordert, ist die Konkordanz wieder in aller Leute Mund. Seither wird auch viel behauptet, wie man sich in der Konkordanz nicht zu verhalten habe, wer den Rubikon überschritten habe, und welche Institutionen der Konkordanz überflüssig geworden seien.

Die Untersuchung
Gerade recht, um die tagesaktuelle, von parteipolitischen Interessen bestimmte Diskussion zu spiegeln, kommt da die politikwissenschaftliche Dissertation von Christian Bolliger, die 2007 unter dem Titel “Konkordanz und Konfliktlinien in der Schweiz, 1945 bis 2003”, erschienen ist. Bolliger interessiert sich dabei nicht für alles und jedes, was mit der Konkordanz zu tun hat, sondern für eine spezifische, in der Schweiz aber wichtige Fragestellung: “Wie stark entsprach die politische Praxis der schweizerischen Regierungsparteien im Wandel der Zeit dem Modell der Konkordanz, und trug diese Praxis zur Verminderung der gesellschaftlichen Praxis bei?”

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Analyseschema für die parteipolitische Praxis der Konkordanz von Christian Bolliger (anclickbar)

Nach 467 kohärent und flüssig geschriebenen Seiten, die sich den Grundlagen der Fragestellung und dem empirisch anspruchsvollen Test der relevanten Hypothesen zu den Akteursbeziehungen widmen, kommt der Berner Politikwissenschaft zu folgendem bündigen Schluss: “immer weniger”. eigentlich hätte er noch beifügen müssen: ziemlich unberechtigterweise!

Der Analyseansatz
Bolliger denkt nicht streng institutionell. Konkordanz ist für ihn eine Praxis. Begründet sieht er sie, in Anlehnung an die international etablierte Konkordanztheorie, zuerst in der Segmentierung der Schweiz. Diese hat vier starke Konfliktlinien hervorgebracht, die es so kombiniert in andern Gesellschaften nicht gibt: die konfessionelle Konfliktlinie zwischen Katholiken und Reformierten, den Gegensatz von Stadt/Land, die Unterschiede zwischen den Sprachregionen und die Klassenstruktur im Besitzstand. Doch auch die direkte Demokratie, speziell das Referendum, sieht er im Gefolge der schweizerischen Konkordanztheorie, als Rechtfertigung, denn sie hat nach den Erfahrungen in der Zwischenkriegszeit den Zwang zur Zusammenarbeit der politischen Eliten erhöht.

Daraus leitet der Autor sein analytisches Modell der Akteursbeziehungen ab. Zwischen den grösseren Parteien braucht es Kooperation, hier als Parteienkonkordanz beschrieben, denn zwischen den BürgerInnen einer segmentierten Gesellschaft herrscht Polarisierung. Die Parteien wiederum haben die Aufgabe, Bindungen herzustellen zwischen den StimmbürgerInnen und den Eliten, die konfliktmindernd wirken. Sie müssen dabei, eingebunden in die Parteienkonkordanz, ihre innere Geschlossenheit bewahren können.

Wie das genau ausgeprägt ist, interessierte den ehemaligen Doktoranden. Wenn Parteienkooperation und innere Geschlossenheit funktionieren, spricht er von Stabilität der Konkordanz. Gibt es nur Parteikooperation, halten die Parteien die inneren Widersprüche aber nicht aus, redet er von brüchiger Konkordanz. Gekittet ist die Konkordanz, wenn wenn die innere Geschlossenheit tief und die Parteikooperation gering ist. Und schliesslich ist die Parteienkonkordanz gescheitert, wenn es keine Parteienkooperation mehr gibt, dafür die Geschlossenheit der parteilichen Eliten hoch ist. Das jedoch ist nur die horizontale Konkordanz. Die vertikale entsteht aus den alles entscheidenden Bindungen der Parteieliten und den StimmbürgerInnen:

. Wirksam ist die Konkordanz dann, wenn Parteienkooperation und gesellschaftliche Bindungen hoch sind, denn das führt zu einer Verminderung der Polarisierung.
. Unwirksam ist sie, wenn die Parteienkooperation funktioniert, es aber an gesellschaftlichen Bindungen mangelt.
. Ein offener Parteienwettbewerb herrscht vor, wenn die Polarisierung in der Bürgerschaft gering, in den parteilichen Eliten aber stark sind.
. Schliesslich ist von manifesten Konflikten die Rede, wenn sowohl die gesellschaftliche wie auch die parteipolitische Polarisierung ausgeprägt ist.

Die Ergebnisse
Was nun ist, bei der Analyse von Volksabstimmungen, Parteikampagnen und politischer Praxis Sache?

Den gewählten Zeitraum unterteilt der Autor zunäcsht in drei Phasen: die unmittelbare Nachkriegszeit, die er mit Blüte der Konkordanz zusammenfasst, die 70er und 80er Jahre, welche die etablierte Konkordanz herausgefordert haben, und die Jahrtausendwende, in der die schweizerische Konkordanz entwertet worden sei. Vertieft beschäftigen muss man sich also nur mit der letzten Phase.

Den generellen Befund gilt es allerdings hinsichtlich der vier eingeführten Konfliktlinien zu differenzieren:

. Bezogen auf den Religionsfrieden in der Schweiz sieht Bolliger die Konkordanz weiterhin wirken. Die Parteien sind weiterhin in den Konfessionsgruppen verankert, und sie suchen in konfessionellen Fragen das Einvernehmen untereinander.
. Wechselhaft ist die Konkordanz in Sprachfragen geworden. Das hat weniger mit dem Verhalten der Parteien untereinander zu tun, als mit den Aufleben der Sprachgegensätze unter den Stimmberechtigten vor allem angesichts der aussenpolitischen Oeffnung.
. Verringert hat sich die Konkordanz bei den Klassenfragen. Hier ist man zu einem offenen Parteienwettbewerb übergegangen, bei dem man sich auf Eliteebene konkurrenziert, ohne dass in der stimmenden Bevölkerung ein vergleichbarer Konflikt festzustellen sei.
. Wenn das alles die Krisenbefunde der Konkordanz relativiert, so sieht Bolliger diese bei den Stadt/Land-Gegensätzen generell aufgebrochen: Sowohl die Elitekooperation sei um die Jahrtausend-Wende verschwunden, als auch die Bevölkerung in den Zentren und ihren Peripherien würden in unterschiedliche Richtungen tendieren. Das ist denn auch die eigentliche Herausforderung unserer Zeit.

Das alles führt den Autor zu vier Folgerungen für die gegenwärtige Situation:

. Erstens, die innere Geschlossenheit der Parteien bleibt, trotz selbständigen Kantonalparteien und ausdifferenzierten Verbänden, relativ hoch und konstant.
. Zweitens, die Bindungen der Parteien in der stimmberechtigten Bevölkerung sind aber schwach, sie ist aber teilweise im Wandel begriffen.
. Drittens, die gesellschaftlichen Konfliktlinien ihrerseits bestehen oder brechen auf, vor allem in räumlicher Hinsicht bei der Sprache und bei der Siedlungsart.
. Viertens, die Konkordanz ist angesichts dieser Verhältnisse in ihrer Praxis erheblich erschüttert.


Die Würdigung

Vieles von dem, was Christian Bolliger in seiner Doktorarbeit berichtet, dürfte Zustimmung finden. Sein Ansatz ist weitgehend deskriptiv, und seine Beschreibung treffen wohl zu. Allerdings neigt der Autor zu erheblichen Schematisierungen, die im Zeitverlauf, auf Ebene der einzelnen Parteien und bezogen auf die untersuchten Volksabstimmungen differenzierter hätten ausfallen können.

Die eigentliche Leistung der Disseration ist aber, eine Ordnung in die Begriffe der Konkordanzpraxis gebracht zu haben. Diese ist, so darf man folgern, nicht zwangsläufig eine theoretische Grösse, die aus der Gesellschaft, ihren zurückliegenden Konflikten, deren Verabreitungen in institutionellen Regelung entsteht. Vielmehr ist eine gewisse Bandbreiten an verschiedenen Praxen möglich, wie die Akteurskonstellationen zeigen: Wirksame Konkordanz in Konfessionsfrage steht eine offenen Wettbewerb bei Wirtschaftsinteressen gegenüber, brüchige Konkordanz in der Sprachenfrage koexistiert tiefen Konfliktlinien bei den Stadt/Land-Gegensatzen. Die einfache Schematisierung zwischen geeinter und gespaltener Gesellschaft, die Konkordanzdemokratie erfordert oder Wettbewerbsdemokratie zulässt, ist damit aufgehoben.

Die politische Praxis, die sich seit dem 12. Dezember 2007 stellt, erhellt die Studie von Christian Bolliger damit noch nicht. Der wissenschaftliche Praxis zur Konkordanzpraxis , die seit den Arbeiten von Neidhard und Lijphard zementiert erschien, erweitert die Arbeit um eine willkommene Innovation.

Claude Longchamp

Das generelle Forschungsprojekt
Christian Bolliger: Konkordanz und Konfliktlinien in der Schweiz 1945 bis 2003, Diss. Bern 2007
Die Buchreihe