Personenfreizügigkeit aus historischer, juristischer, ökonomischer und politologischer Sicht

Schweiz – Europa: wie weiter?” heisst ein kleines Buch in der Reihe “Die neue Polis” des NZZ-Verlags, das Georg Kreis jüngst editiert hat. Es versammelt vier Aufsätze, die sich historisch, juristisch, ökonomisch und politologisch mit der anstehenden Volksabstimmung zur Personenfreizügigkeit beschäftigen. Entstanden sind die Texte am Europa-Institut der Universität Basel, das der Herausgeber leitet.


“Ein langer Weg in Etappen”, das erste Kapitel, stammt vom Historiker Kreis selber. Den Text zur “Fortführung und Ausdehnung” hat die Juristin Christa Tobler verfasst. “Hohe Integration ohne Beitritt” wiederum stammt aus den Tasten des Oekonomen Rolf Weder, während “Die Einführung der Personenfreizügigkeit durch die Schweiz” durch den Politologen Laurent Goetschel verfasst wurde.

Dabei wird mehrfach die Wandlungsfähigkeit der Schweizer EU-Politik betont. Kreis etwa schreibt. “Zwischen 1992 und jetzt legte die Schweiz einen weiten Weg zurück. Sie machte in den letzten 15 Jahren einen Entwicklung durch, die manche zuvor kaum für möglich gehalten hatten. Die beachtliche Oeffnung, die in diesem Jahren eintrat, muss man sich vor Augen halten und sich nicht nur an den ewigen Verweigern orientieren, wenn man von der Schweiz spricht.”

Alle vier AutorInnen aus Basel sind in ihrer Grundhaltung liberal oder sozial inspirierte BefürworterInnen der Personenfreizügigkeit. Das könnte den Nutzen des Buches mindern. Wenn das dennoch nicht der Fall ist, hat das seinen Grund: Alle vier AutorInnen haben sich bemüht, ein aktuelles Sachbuch, gut verständlich und leicht nachvollziehbar zu schreiben. Es ist nicht nicht ohne Standpunkt, interveniert aber eigentlich nie parteiisch. Es folgt der Logik, die sich in Volksabstimmung bisher mehrfach bestätigt hat, dass der bilaterale Weg, von der Schweiz verlangt, auch über die kommende Abstimmung hinaus weiter beschritten werden soll.

Wenn ich dennoch nicht restlos glücklich geworden bin bei der Lektüre, hat das mit dem Titel zu tun: Die aufgeworfene Frage nach dem “Wie weiter?” wird explizit nicht diskutiert und beantwortet. Keine Szenarien für die nächsten 10 Jahre der Europa-Politik runden den Band ab, obwohl man genau das erwartet hätte, wenn man ihn öffnet.

Denn über dem Bilateralismus, der Basis der Personenfreizügigkeit im schweizerischen Sinne, schwebt nach Ansicht von Fachleuten wie dem zurückgetretenen EDA-Staatssekretär Franz von Däniken das Damokles-Schwert, eine Projekt auf Zeit zu sein. Eine systematische Auseinandersetzung mit dieser wissenschaftlich bisher kaum erörterten Annahme aus Sicht dr EU und der Schweiz hätte das Buch über die Abstimmung hinaus zur Referenz auf Dauer gemacht.

Claude Longchamp

Schweiz – Europa: wie weiter? Kontrollierte Personenfreizügigkeit, herausgegeben von Georg Kreis, Zürich 2008

Irisches Nein demokratisiert Entscheidung zum Vertrag von Lissabon

Man erinnert sich: Am 14. Juni 2008 verwarf EU-Mitglied Irland in einer Volksabstimmung den Vertrag von Lissabon mit 53 Prozent Nein. Der Reformprozess der EU-Institutionen wurde damit erneut empfindlich gebremst, nicht aber gestoppt. Die gestrige Entscheidung der EU-Kommission verfolgt den wohl sinnvollsten Ausweg aus der Verfassungskrise: Das Führungsorgan setzt auf mehr Integration, und den spezifisch irischen Bedenken wir mehr Rechnung getragen.

Ausweg aus der Verfassungskrise: EU und Irland einigen sich über eine zweite Abstimmung mit modifiziertem Inhalt (Bild: keystone)
Ausweg aus der Verfassungskrise: EU und Irland einigen sich über eine zweite Abstimmung mit modifiziertem Inhalt (Bild: keystone)

Drei mögliche Auswege
Im Oktober dieses Jahres diskutierte man auf Initiative des iri-Instituts Europa am neu gegründete Demokratiezentrum in Aarau (Schweiz) unter Beteiligung von EU-Vertretern Möglichkeiten, um die entstandene Problematik bei der Verfassungsrevision zu lösen. Ausgehend von den schweizerischen Erfahrungen habe ich drei Wege skizziert:

Erstens, die nochmalige Abstimmung über den gleichen Vertrag.
Zweitens, eine weitere Abstimmung über einen modifizierten Vertrag.
Und drittens, eine Reform des ganzen Prozess, bei der die frühzeitige Mitwirkungen potenzieller Opponenten verstärkt wird.

Dem ersten Ausweg entspricht die Analyse, Volksabstimmungen würden, egal wozu sie stattfänden, durch Elitenkommunikation entschieden. Da die irische Ja-Kampagne im Frühsommer 2008 nicht gerade überzeugend war, wäre von einer besser Informations- und Ueberzeugungsarbei im Vorfeld einer weiteren Volksabstimmung ein anderer Abstimmungsausgang zu erwarten. Es ist offensichtlich, dass es sich dabei um ein eher gering entwickeltes Verständnis von direkter Demokratie handelt. Die Bürger und Bürgerinnen sind manipulierbar. Im Wesentlichen werden Abstimmungsausgänge durch Regierungen bestimmt, die Entscheidunge ansetzen, die Inhalte der Diskussion und die Interpretation von Ergebnissen nach ihren eigenen Interessen gestalten können.

Der zweite Ausweg nimmt ein Nein in einer Volksabstimmung für das, was es ist: Für ein Nein zum konkreten Abstimmungsgegenstand. Weder ist die EU gescheitert, noch muss Irland aus ihr austreten. Doch der Vertrag von Lissabon kann in der vorgelegten Version nicht in Kraft treten. Eine zweite Abstimmung in Irland macht nur dann Sinn, wenn der Vertrag angepasst wird und den relevanten Bedenken Rechnung trägt, die zum irischen Nein geführt haben. Dieses Verfahren ist ohne Zweifel demokratischer. Es hat aber den Nachteil, dass es die bisherigen Entscheidungen zum alten Vertragstext relativiert.

Der dritte angesprochene Ausweg ist keine Lösung für den aktuellen Fall. Er ist eine generelle Reform der Willensbildung. Er geht davon aus, dass der Einbau direktdemokratischer Entscheidungen in die insitutionell gesicherte Entscheidung nahe legt, diese selber zu demokratisieren. Das (Ueber)Gewicht der Regierungen determiniert demnach das Ergebnis von Vorschlägen, die später einer Volksabstimmung unterliegen, zu stark. Sinnvoller ist es, auch Parlamente, ja selbst NGO in die Willensbildung miteinzubeziehen, um deren allfällige Bedenken präventiv in die Entscheidfindung einzubauen.

Der Entscheid der EU

Nun hat der jüngste EU-Gipfel in Brüssel unter Nikolas Sarkozy entschieden, was in der Irland-Frage Sache ist: Als Erstes hielt er fest, dass die EU weiter bestehe und der Reformprozess fortgesetzt werden solle. Irland solle entsprechend die Möglichkeit geboten werden, weiterhin ein vollwärtiges Mitglied der EU zu sein. Das spricht für eine relativ rasche zweite Entscheidung. Konkret soll diese im Herbst 2009 stattfinden.

Zweitens sollen sich die Irinnen und Iren zu einem modifizierten Lissabonner-Vertrag äussern können. Generell geändert wird die Vertretung kleiner Mitgliedstaaten in der EU-Kommission. Wie bisher soll jedes Mitglied einen Kommissar stellen können. Damit trägt man dem wichtigsten Bedenken im Vorfeld der Entscheidung in Irland Rechnung. Zudem soll der Vertrag für Irland einige Zusätze bekommen, welche die Neutralität, das Steuerrecht und die Abtreibungsfrage aus irischer Sicht betreffen. Damit sollen Unsicherheiten abgebaut werden, welche die Gegner der Vorlage in der zweiten Abstimmung erneut zu ihren Gunsten mobilisieren könnten.

Die EU-Kommission befürwortet damit den oben skizzierten Ausweg 2. Er ist in der gegenwärtigen Situation ohne Zweifel der sinnvollste. Die Möglichkeit, direktdemokratisch legitimierte Verfassungsänderungen in der EU zu bekommen, bleibt gewahrt. Die Bedenken der Stimmenden sind aufgenommen. Mit der vermehrten Berücksichtung der Komponente Integration in den EU-Institutionen wurde dem föderalistischen Charakter der Europäischen Union vermehrt Rechnung getragen. Dem müssen zwar die anderen Mitgliedstaaten noch zustimmen. Doch hat Prozess selber einen Lernschritt gemacht, der für direktdemokratische Entscheidungen typisch ist.

Claude Longchamp

Die Schweiz als Referenz

Es gibt nicht viele Eigenheiten des politischen Systems der Schweiz, die weltweit als Referenz dienen können. Zweifelsohne ist das aber bei der direkten Demokratie so. Jetzt ist das “Handbuch zur direkten Demokratie in der Schweiz und weltweit” von iri europe auf Deutsch erschienen, das es bereits in verschiedenen Weltsprachen gibt. Es dürfte zur Referenz in Sachen Volksabstimmungen auch in der Schweiz werden.


Sie wagen einen Blick auf die Volksrechte weltweit: iri Präsident Bruno Kaufmann (links) und iri Stiftungsrat Adrian Schmid (rechts).

Die Politikwissenschafter Bruno Kaufmann und Rolf Büchi, in Schweden und Finnland lebend, und die Juristin Nadja Braun aus der Schweiz haben vor drei Jahren einen kleinen Bestseller zur politischen Praxis in der Schweiz geschrieben, der schon mehrere Neuauflagen erlebt hat. Sie haben dokumentiert, wie Volksabstimmungen in der Schweiz funktionieren. Typische Entscheidungen, Akteure und Wirkungen wurden hierzu portraitiert. Das Weschselspiel mit dem Föderalismus, der Wirtschaft und den Medien wurde dargestellt. Und geschichtliche Leistungen wurden genauso diskutiert wieder der Reformbedarf für die Zukunft.

Der Ueberblick hat im Ausland eingeschlagen, obwohl oder gerade weil das Herzstück des Buches auf die Schweiz gerichtet ist. Denn hierzulande gibt es weltweit die reichhaltigsten Erfahrungen mit Initiativen und Referenden. Diese Focusierung ist allerdings kein Grund, sich auf die Schweiz alleine zu konzentrieren. Die AutorInnen wissen nänlich aus eigenem Erleben, dass die Entwicklungen in anderen Ländern rasant verlaufen.

Dabei müssen auch die SchweizerInnen hinzu lernen. Direkte Demokratie entsteht weltweit weniger als genuines politisches System, sondern als Erweiterung der repräsentativen Demokratie. Die Schweiz wird dabei nicht als Vorbild gesehen, wie sie das selber gerne tut, sondern als Referenz, die mit ihrem Wissen etwas zur Demorkatisierung von Demokratie in der Welt beitragen kann. Entsprechend runden zahlreiche Merkblätter, ein Glossar zur direkten Demokratie und eine Selbstdarstellung von iri europe als europäisch-globaler Think Tank zur direkten Demokratie das vorzüglich gestaltete und editierte Handbuch ab.

Als Zeichen der Wertschätzung für das Engagement, welches iri europe seit Jahren in der (Weiter)Entwicklung von Volksabstimmungen leistet, hat Bundeskanzlerin Corina Casanova ein Vorwort geschrieben. Sie sei erstaunt gewesen, als man sie anfragte, ein solches zu verfassen. Denn das Buch lag, als sie sich entschied, das zu machen, einzig auf Englisch, Spanisch, Chinesisch und anderen Weltsprachen vor. Die Bundeskanzlerin zeigte sich an der gestrigen Buchvernissage deshalb besonders erfreut, dass jetzt auch Ausgaben in schweizerischen Landessprachen folgen.

Casanovas Wunsch, das neue Standardwerk zur Direkten Demokratie in der Schweiz und der Welt möge eine neugierige und interessierte Leserschaft in der ganzen Welt finden, ist nichts beizufügen.

Claude Longchamp

Die SVP unter der Lupe des Analytikers

Die SVP in der Krise. Das beschäftigt uns zwischenzeitlich fast täglich, seit Ultimaten die Runde machen, Säuberungen angesagt sind, Abspaltungen sich mehren, weil sich die Partei zwischen Opposition und Integration neu positioniert.

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Doch was eigentlich ist diese SVP? – Dieser interessanten und relevanten Frage geht der Tessiner Historiker und Politikwissenschafter Oscar Mazzoleni in seinem bemerkenswert schlank und elegant formulierten Buch “Nationalisme et populisme en Suisse. La radicalisation de la “nouvelle” UDC” nach. Es lohnt sich seinen material- und kenntnisreichen, aber distanziert gehaltenen Einschätzungen aufzunehmen, um die gegenwärtigen Entwicklungen zu verstehen.

Die Umstände des Aufstiegs
Zunächst spricht in diesem Buch des Zeitgeschichtler zu seinen Lesern. Er hält einleitend fest, dass der Aufstieg der SVP in den letzten 20 Jahren in der Wahlgeschichte der Schweiz einmalig ist. Ohne in eine platte Zustimmung zur besprochenen Partei zu verfallen, bilanziert Mazzoleni, der Wandel vom Junior-Partner in der Regierung zur wählerstärksten Partei sei eine Erfolgsgeschichte ohne Vorbild. Dabei werden die Etappen des Aufstiegs analysiert. Grob gesagt werden drei unterschieden: die Entstehung zahlreicher neuer rechter Oppositionsparteien in den 70er Jahren bis zur ersten Uno-Volksabstimmung, die Sammlung in sprachregional typische Bewegungen bis zur EWR-Entscheidung und die Bildung einer neuartigen Partei aus der alten SVP und eben dieser neuen rechtspopulitischen Formationen unter Führung der neuen SVP nach Züricher Vorbild.

Dann kehrt der Autor den Sozialwissenschafter in ihm heraus. Er analysiert einerseits die sozio-ökonomischen Voraussetzungen, anderseits die politisch-kulturellen Rahmenbedingungen deer Erfolgsgeschichte. Behandelt werden die Krise der Wohlstandsgesellschaft und die Antworten, welche Neoliberale resp. Neokonservative entwickelt haben. Während erstere auf eine funktionale Betrachtungsweise der Politik setz(t)en, beton(t)en die anderen ganz bewusst, die identitätsstiftende Bedeutung der Politik. Ein sei man sich nur in der Diagnose des Vetrauensverlustes bürgerlicher Regierungspolitik und der daraus folgenden Personalisierung des öffentlichen Geschehens.

Die Bedingungen des Aufstiegs
Nach Mazzoleni reicht das aber nicht, um den Aufstieg der SVP zu verstehen. Diese könne nur aus ihrer programmatisch ausgeklügelten Abwehr der Oeffnungspolitik in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht verstanden werden. Dabei stützt er sich ausgiebig auf das Konzept der “Gewinnerformel”, das der amerikanische Populismusforschers Herbert Kitschelt entwickelt hat.

Demnach, so Mazzoleni, kann man den konkreten Populismus nur historisch und national aufgrund seiner spezifischen Rhetorik analysieren. Denn anders als der militante Rechtsextremismus setze dieser nur auf Botschaften, die in den Medien und der Bevölkerung ankommen: Konsitutierend seien der Appell an das Volk, die Diskreditierung der falschen Eliten, die Betonung des schweizerischen Sonderfalls, die Stilisierung des Alleingang, die Mobilisierung von Ueberfremdungsängsten, verbunden mit der Attakte auf den Missbrauch schweizerischer Institutionen.

Die daraus resultierende konservativen Moral sei bewusst nationalistisch ausgerichtet, schreibt Mazzoleni, und sie unterscheide sich damit von liberal ausgerichteten Konzepte in der Weltanschauung diametral. Am besten zeige sich das bei der Debatte über die Zukunft des Sozialstaates, der nicht generell zurückgefahren werden, aber den Schweizern vorbehalten bleiben solle.

Der Autor vergisst dabei nicht, dass die Gewinnerformel nicht nur mit kommunikativer Kompetenz zum Erfolgsrezept werde, sondern auch einen organisatorischen Unterbau braucht. Entscheidend sei hier der Faktor “Blocher”: Parteistrukturen seien unter ihm modernisiert und durch thematische Sammelbecken wie die AUNS entlastet worden. Die Medienarbeit sei professionalisiert so weit professionalisiert worden, dass selbst schlechte Presse parteiintern zum Mobilisierungsfaktor geworden sei. Ohne Charisma, das vom Parteineugründer Christoph Blocher ausging, wäre das alles nicht möglich gewesen.

Die Kerntruppen und Supporter

Angesprochen werden von der SVP, so der Wahlforscher Mazzoleni, drei recht unterschiedliche Kerngruppen: vor allem Anti-Europäer, dann Konservative und schliesslich auch Neoliberale. Für den elektoralen Erfolg sei dieses recht bunte Gemisch indessen nicht entscheidend.

Massgeblich zusammengehalten werden es durch die nicht primär ideologisch bestimmte Mobilisierung von Frustrationen mit den bisherigen Parteien, durch generell misstrauisch gestimmte BürgerInnen und durch die gezielte Ansprache von bisherigen Nicht-Wählern.

Die Zwischenbilanz
Der Politikwissenschaft Oscar Mazzoleni, Lehrbeuaftragter an den Universitäten Genf und Lausanne, weiss in seiner Bilanz, dass das alles, will es von dauerhaftem Erfolg bleiben, institutionalisiert werden muss. Hier sieht er Grenzen im politischen System der Schweiz. Genauso wie es mit seinen direktdemokratischen Möglichkeiten den Einsteig neuer Parteien erleichtert, erschwere es mit seinen Instiutitionen die Stabilisierung des Extremen.

Namentlich nennt der Autor die relative Autonomie der Kantonsregierungen, aber auch der Exekutive auf kantonalere Ebene. Er diskutiert auch den Stellenwert von Kantonalparteien im förderalistisch strukturierten Parteiwesen, das die bürgerlich ausgericheteten politischen Kräfte hierzulande kennzeichnet. Und er weist darauf, dass Leadership an der Spitze von Parteien in der Schweiz innerhalb von Organisationen ambivalente Wirkungen zeigt. Deshalb kommt er zum Schluss, die SVP befindet sich in einem instabilen Gleichgewicht der Kräfte.

Im Vergleich zu anderen Analysen begegnet Mazzoleni generellen Charkateristierung der Partei wie etwa die nationalkonservative Revolte. Er widerspricht auch Analytikern, die in der SVP eine rechtsradikale Partei sehen. Vielmehr bleibt der der Einschätzung von Kitschelt verbunden, die SVP sei eine Kombination aus Nationalismus und Populismus, die sich im rechten politischen Spektrum erfolgreich radikalisiert habe.

Das Nachwort
Kurz, aus heutiger Sicht wohl etwas zu zu kurz, fällt das 2008 verfasste Nachwort zum Buchmanuskript aus, das im Wesentlichen die Entwicklungen und Diskussionen bis 2003 reflektiert. Dennoch lesen sich die Passagen wie eine Hinführung zur Gegenwart. Zur vorherrschenden Ausrichtung der Partei, gäbe es einen Minderheitsflügel, sachpolitisch gemässigt und loyal zur Konkordanzkultur. Sie sei aus Frucht vor dem Bruch im Herzen der SVP verblieben, ohne die Ausrichtung der Partei zu teilen, was das politisches System der Schweiz erlauben würde. Genau das habe aus der SVP aber einen europäischen Sonderfall gemacht, der sich durch Kohabitation von spektakulärer Radikalisierung einerseits, durch Regierungsbeteiligung anderseits auszeichne.

“Auszeichnete” wird man immer deutlicher das ansonsten ausgezeichnete Buch verbessern müssen.

Claude Longchamp

Oscar Mazzoleni: Nationalisme et Populisme en Suisse. La radicalisation de la “nouvelle” UDC. Collection “Le savoir suisse“, Lausanne 2008 (2ième édition)

Karte des weltweiten Wertewandels

(zoon politicon) Kaum ein Name wird so eng mit der Untersuchung des Wertewandels verbunden, wie der des amerikanischen Politikwissenschafters Ronald Inglehart. “Materialismus-Postmaterialismus” lautete seine erste, in den späten 70er Jahren begründete Gegenüberstellung, die weltweit rezipiert wurde. Seine neue Polarität, die den globalen Wertewandel beschreiben soll, lautet “Modernismus-Postmodernismus”.

Inglehart stützt sich für seine neuen Thesen zum Wertewandel auf das weltumspannende Projekt “World Value Survey”, dessen Direktor er ist. 43 Länderstudien hat er dazu synthetisiert, um zentrale Dimensionen des gegenwärtigen Wertewandels zu bestimmen. Zwei Ausrichtungen der Veränderungen kristallisieren sich dabei heraus:

. die Polarität von traditionell-religiösen und und säkular-rationalen Werten einerseits,
. die Gegenüberstellung von Werten des kollektiven Ueberlebens und der individuellen Selbstentfaltung anderseits.

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Die 43 Fallstudien verortet Inglehart in beiden Dimensionen, sodass eine neue Weltkarte des Wertewandels entsteht. Das Ueberzeugendste dabei ist, dass die Länder nicht zufällig, sondern sehr systematisch auf beiden Achsen steuen.

In beiderlei Hinsicht ursprünglich erscheinen die Wertemuster in Afrika; am weitesten davon entfernt ist das protestantische Europa. Weite Teile Asiens und Lateinamerikas zeigen keinen eindeutigen Wertewandel, wie ihn Inglehart untersucht. Klar in Richtung Säkularisierung haben sich dagegen die meisten ex-kommunistischen Länder entwickelt; für sie ist typisch, dass sie sich auf der Ebene der individuellen Seltentwicklung jedoch kaum verändert haben. Beschränkt davon abweichend sind die konfuzianisch geprägten Kulturen Asiens. Sie stehen damit den angelsächsischen gegenüberstehen, für die eine starke Ausrichtung an der individuellen Selbstentfaltung, gepaart mit einer bechränkten Säkularisierung typisch ist.

Das katholische Europa hat sich auf den beiden Dimensionen halbwegs bewegt, jedoch bei weitem nicht so stark wie das protestantische. Hier ist der globale Wertewandel am fortgeschrittensten, namentlich in Schweden und den anderen nordischen Ländern. Das gilt notabene auch für die Schweiz, die nach Inglehart durch eine starke Säkularisierung und Individualisierung gekennzeichnet ist.

Bei der Lektüre des Buches geht es einem so, wie immer bei Inglehart: Ausgesprochen plastisch sind seine Beschreibungen, deren Evidenz nicht zu bestritten werden kann; theoretisch hergeleitet sind sie aber nicht vertieft, was einem nicht hilft, die Hauptabsicht des Buches, den Wandel zum Postmodernismus, zu verstehen. Und bleibt auch diesmal eine Frage im Raum: Ist es möglich, dass sich Länder auf der Karte nicht nur von unten-links weg bewegen, sondern auch wieder in diese Richtung?

Konkreter: Kann es sein, dass religiös-traditionelle Werte und solche des kollektiven Ueberlebens in Gesellschaften mit starkem Wertwandel wieder bedeutsamer werden?

Claude Longchamp

Ronald Inglehart: Modernismus – Postmodernismus. Politische, wirtschaftlicher und kultureller Wandel in 43 Ländern. Frankfurt am Main/New York 1997

Das Dilemma der “Politischen Kultur”-Forschung

(zoon politicon) “Politische Kultur” ist für die Sozialwissenschaft kein einfacher Begriff. Im Alltag häufig verwendet, ist er seit 1945 auch in die Sprache der Politik- und Gesellschaftswissenschaften aufgenommen worden. Im Englischen wird er mehrheitlich als “mass culture” verstanden, im Französischen normalerweise im Plural verwendet (“les cultures politiques”), und im Deutschen gibt es zahlreiche unterschiedliche Konotationen.

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Das breit angelegte Lehrbuch
Vor genau diesem Dilemma steht das Lehrbuch der beiden deutschen PolitikwissenschafterInnen Susanne und Gert Pickel. Und die AutorInnen stehen dazu: Die Politische Kultur-Forschung ist einerseits als Demokratieforschung nach dem 2. Weltkrieg entstanden und entwickelt sich dort weiter, anderseits beschäftigt sie sich vor allem seit den 60er Jahren mit den Einflüssen der gesellschaftlich bestimmten Kultur auf die Politik. Sie ist dabei zunächst empirisch-analytisch ausgerichtet, kann sich aber von den Zusammenhängen, in denen sie entstanden ist, nicht lösen.


Die Ausbildung der spezifischen politischen Kulturforschung

Im Lehrbuch kommen zunächst die wesentlichen Ansätze zur Sprache: Die allgemeinen Vorgehensweisen der amerikanischen Forschung in Anlehnung an Gabriel Almond und Sidney Verba, sowie die speziellen Ansätze, die Ronald Inglehard für den Wertwandel und Robert Putman für die Bestimmung von Sozialkapital in die Forschung eingebracht haben, werden vorgestellt. Das Buch spart nicht mit der Kritik dazu Die Einwände der Verhaltensforscher wie auch am kulturalistischen Selbstverständis des Wissenschaftszweiges kommen ebenso vor wie die eigenständige Konzipierung von politischer Kultur, die Karl Rohe vorgeschlagen hat, zur Sprache.

Für Rohe ist die aus der Umfrageforschung entstanden Bestimmung von politisch Kulturen im Nationalstaatenvergleich unzureichend, denn sie erschliesst einem nur die Soziokultur, wie es der Kritiker nennt. Vor allem entwickelt die vergleichende Sozialforschung kaum ein Verständnis für den Wandel politischer Kulturen. Rohe geht demgegenüber von einem dynamischen Konzept aus, das sich aus dem Verhalten und den Denkweisen der Akteure ergibt, die mit ihren Ordnungskonzepten des Politischen um die Deutungsmacht ringen und so nebst der Soziokultur auch Deutungskulturen etablieren. Diese sind zwar von der Soziokultur (oder Teilen davon) abhängig, einmal etabliert formen und verändern sie die Soziokultur auch.

Die Rückführung in die Demokratieforschung

Die Beobachtung politischer Kultur setzt bei der mainstream-Forschung beim Bürger/bei der Bürgerin an. Den möglichen individualistischen Fehlschluss überwindet sie, wie das Lehrbuch mehrfach zeigt, durch Aggregation und Ländervergleich. Die Minderheit der Forschenden, die Karl Rohe folgen, orientiert sich dagegen an der Meso-Ebene: dem Kampf der Akteure um die Deutungshoheit, die sich, so die beiden Pickels, besonders in Krisensituationen zeige.

Der zweite Teil des Buches konzentrieren sich die AutorInnen dann ganz auf die Makro-Ebene. Politische Kultur wird dabei nicht mehr hergeleitet aus Mentalität und Handlungsweisen, sondern anhand institutioneller und verfassungsrechtlicher Grössen bestimmt. Was Gabriel Almond für die Bestimmung von Massenkulturen bedeutet, ist Robert Dahl für die empirische Demorkatieforschung. Entsprechend stellt das Lehrbuch sein Polyarchie-Konzept breit vor und weist nach, wie es sich bis zum viel diskutierten Demokratieindex des Finnen Tatu Vanhanen weiterentwickelt hat. Schliesslich werden die heute so beliebten Untersuchungen der demokratischen Verfassungswirklichkeiten breit vorgestellt und diskutiert.

Wie es ist, wenn es kein Paradigma gib
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Lange Zeit wurde diskutiert, ob Thomas Kuhns Analyse der Wissenschaftsentwicklungen in Paradigmen richtig sei oder nicht; dabei ist auch viel Kritik geübt worden an der Vorstellung, dass die Wissenschaft sich revolutionär entwickle und nach jeder Revolution einen Muster an Denk- und Vorgehensweisen entwickle, das sich in der Forschung weitgehend durchsetze. Wer sich mit der politischen Kulturforschung beschäftigt, merkt schnell, wie es ist, wenn sich, für einmal, gar kein dominantes Paradigma in der Definition des Gegenstandes, der Wahl der Ansätze und der Bestimmung geeigneter Methoden entwickelt hat. Das wiederum haben Susanne und Gert Pickel zum Anlass genommen, die offen verwendeten Konzept zur Annäherung an politische Kultur in einem Lehrbuch Interessierten vorzustellen. Und genau das ist ihnen gelungen, – mit allen Stärken und Schwäche der Sozialwissenschaften, die sich nicht nur mit abtrakten Systemen, sondern mit kulturell gewachsenen Beispielen beschäftigen.

Claude Longchamp

Beyond Lijphart: Vatters Analyse der schweizerischen Konkordanz von heute

(zoon politicon) Arend Lijphart’s bahnbrechende Analyse von Demokratie-Muster habe ich hier ja schon gebührend vorgestellt. Seine Einteilung der Schweiz als extremer Fall einer Konsensdemokratie ist bei mir und ersten Kommentatoren nicht unbestritten geblieben. Jetzt liefert Adrian Vatter, seit Februar 2008 neuer Politologie-Professor an der Universität Zürich, eine empirisch gehaltvolle Re-Analyse von Lijphart’s Ueberlegungen, die zu einer vergleichbaren Relativierung gelangt.

Neue Zeit – neues Material

Wertvoll ist Vatters Studie, weil sie sich streng an der neue Konzept der international vergleichenden Demokratieforschung hält, dieses aber mit neuen Daten füllt, welche den Zeitraum 1997-2007 betreffen.

Das empirische Material bezieht Vatter aus 10 Veränderungen und Reformen, welche die Institutionenpolitik der Schweiz in den letzten Jahre bestimmt haben. Namentlich sind das

. die Wählergewinne der SVP,
. die Veränderungen im Wahlmodus für den Bundesrat und
. das erstmalige Eintreffen des Kantonsreferendums

als die zentralen Prozesse der Gegenwart, dann aber

. die Totalrevision der Bundesverfassung,
. die Bilateralen Abkommen I und II mit der EU,
. die Justizreform,
. der Beitritt der Schweiz zur UNO,
. die Reform der Volksrechte und
. der neue Finanzausgleich als die wichtigsten Reformen.

Bestehendes Konzept – veränderte Positionierung
Bezogen auf die Zeiträume, die Lijphart untersucht hatte (vor allem 1945-96, speziell aber auch 1971-96) bewertet Vatter seine neuen Beobachtungen nun wie folgt:

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Quelle: Vatter (2008)

Erstens, das Verhältnis von Exekutive und Parteien, in der Schweiz typischerweise zugunsten der Regierungen geregelt, verändert sich in Richtung politische Parteien. Das gilt als Zeichen dafür, dass Wettbewerbs- gegenüber Verhandlungsmuster gestärkt wurden. Ins Gewicht fallen die Veränderungen im Wahlrecht, die Stärkung der Legislativen und der vermehrte Pluralismus unter den Interessengruppen, die alle in Richtung majoritärem Typ wirken.

Zweitens, das Verhältnis von Bund und Kantonen beurteilt Vatter insgesamt stabiler; die Veränderungen halten sich in Grenzen, bei der Suprematie Dritter über den Gesetzgebungsprozess entwickeln sich die Schweiz sogar eher in Richtung gemischter Strukturen.

Beides zusammen hat zur Folge, dass die Schweiz, auf der Landkarte der Demokratien weiterhin im Süden angesiedelt wird, das heisst ausgesprochen föderalistisch bleibt. Bezogen auf die Ost/West-Achse kommt jedoch eine Abbau der weltweit extremen West-Position hinzu.

Bewertungen für Theorie und Praxis
Vatter stellt sich die Frage, ob die Schweiz unverändert eine akzentuiert machtteilende Verhandlungsdemokratie sei oder nicht. Er beantwortet sie mit einem vorsichtigen “Nicht-mehr-ganz-so-stark”. Er spricht von einem zunehmenden Normalfall einer Verhandlungsdemokratie. Von einer Wettbewerbsdemokratie sei die Schweiz noch weit entfernt, die Extremposition bei der Konsenssuche sei aber aufgeweicht.

Das lässt Adrian Vatter auch einige Folgerungen zur aktuell laufenden Debatte ziehen: Aller Normalisierungstendenzen zum Trotz befinde sich die Schweiz im Demokratienvergleich immer noch klar auf der Seite der Konkordanz. Sie sei “noch weit entfernt” von einen Regierungs/Oppositionssystem, wie es von der SVP aufgrund ihrer inneren Befindlichkeit diagnostiere. Zudem gäbe es erhebliche “Hindernisse für einen Systemwechsel zu einem Konkorrenzsystem in der Schweizerischen Referendumsdemokratie.”

Offen ist aber für Vatter, wie die Schweiz mit den beiden unterschiedlichen Tendenzen umgehen wird: der Polarisierung innerhalb des Parteienlogik einerseits, der weitgehend Stabilität im Verhältnis von Bund und Kanton andererseits.

Weshalb ich die Lektüre empfehle
Was mir an der Studie besonders gefällt? Erstens ist sie knapp gehalten und ausgesprochen lesbar verfasst. Zweitens ist sie materialreich und dieses ist konsequent verarbeitet. Und drittens werden die Befunden, die in der Binnensicht der Schweiz gerne dramatisiert werden, durch das international vergleichende Vorgehen in das Licht gerückt, in das sie gehören.

Allein schon damit ist Adrian Vatter über Arend Lijpharts Grundlagenwerk hinaus gegangen. Dass es dabei zu Schlüssen zwischen politikwissenschaftlicher Theorie und politischer Praxis kommt, ist für mich umso erfreulicher.

Claude Longchamp

Adrian Vatter: Vom Extremtyp zum Normalfall?, in: Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 14/2008, pp. 1 ff.

Erstanalyse des Fahrplanwechslers

(zoon politicon) Der Dokumentarfilm von Schweizer Fernsehen über die Abwahl von Christoph Blocher als Bundesrat mischte die Geschichte neu auf. Nun meldet sich einer der Wortführer des Fahrplanwechsels direkt zu Wort. Andi Gross, selber Politikwissenschafter, Publizist und Politiker, macht seine Diagnose zum wichtigsten Ereignis der jüngsten Zeitgeschichte in der “Berner Zeitung” deutlich. Ich fasse hier die vier Thesen von Andi Gross zu Ursachen und Folgen der Abwahl zusammen, lasse aber die eher parteipolitisch gefärbte Analyse der Parteien des SP-Nationalrates ganz weg.

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Gemeinsam mit KollegInnen untersuchte Andi Gross Ende August 2007 die Möglichkeit der Abwahl von Christoph Blocher als Bundesrat, und lancierte damit als Nationalrat die Kampagne gegen das Regierungsmitglied. Heute analysiert er als Politikwissenschafter, was wie die Abwahl zustande kam und was bisher daraus wurde.

1. These: Die Erklärungsebenen der Abwahl vob Bundesrat Blocher
Die Abwahl von Bundesrat Blocher hat nach Gross hat drei Erklärungsebenen: erstens, den persönlichen Umgang mit ParlamentarierInnen, der beleidigend und erniedrigend war; zweitens, das Kippen von ParlamentarierInnen, die 2003 Blocher gewählt hatten, um ihn zu zähmen und die SVP zu bändigen, bei den Parlamentswahlen 2007 aber enttäuscht wurden, und drittens, der politische Widerspruch zu Blocher und zur SVP, der Verfassungs- und Völkerrecht zum Gegenstand parteipolitischer Gefechte mit Blocher als Schiedrichter machen wollten.

2. These: Die Motivation von Bundesrätin Widmer-Schlumpf
Ueber seine Rolle bei der Suche nach einer Alternative zu Blocher, schweigt sich Gross jedoch aus. Die Wahlannahme durch Eveline Widmer-Schlumpf sieht er doppelt begründet: Sie habe das höchste der irdischen Güter, die man als PolitikerIn anstreben können, angenommen; Kollege Schmid habe ihr auch klar gemacht, dass der Sitz sonst an die CVP gehe.

3. These: Der selbstverschuldete Trugschluss der SVP
Den Aerger der SVP nach der Abwahl versteht Gross; andere Parteien hätten mit vergleichbaren Situationen auch schon umgehen müssen. Die SVP sei nach den erneut gewonnenen Parlamentswahlen übermütig geworden. Sie sei Opfer ihres eigenen Trugbildes, ihrer eigenen Rhetorik und ihrer unscharfen Analyse geworden. Zudem habe sie auf das Erfolgsrezept von 2003 vertraut: «Blocher oder Opposition».

4. These: Die Herausforderung der republikanischen Mehrheit gegen Blocher
Die republikanische Mehrheit, welche Blocher abgewählt hat, steht nach Auffassung von Gross nun in der Verantwortung. Sie müsse verhindern, dass die SVP zu einer Partei mit einem Wähleranteil von 35 Prozent werde. Sie habe ihre Aufgabe noch nicht begriffen und handle aufgrund innerparteilicher Ueberlegungen nicht koordinert. In zentralen Fragen werde sie das aber tun müssen, selbst wenn sie keine Koalition der Sieger werde; vielmehr sieht Gross kleine Konkordanzen kommen, die angesichts des Referendumsdruckes situativ geschlossen werden und ein fallweises Ausscheren auch weiterhin erlauben.

Mein Kommentar
Andi Gross hat seine Fähigkeit bewiesen, sowohl als Politikwissenschafter zu denken, als auch als Politiker zu handeln. Das gilt, was die Abwahl betrifft, und es gilt auch, was die Herausforderungen angeht.

Dabei vertritt Gross seit Jahren eine Position, die in der Politikwissenschaft nicht unbestritten ist. Es geht um das Verhältnis von politischer Konkordanz und direkte Demokratie, das er, anders als die Mehrheit der hiesigen Politikwissenschafter, stets recht flexibel interpretiert hat. Institutionell hat er gute Argumente auf seiner Seite, gegen die kleinen Konkordanzen, gibt es aber auch erhebliche Einwände.

Richtig ist an der Diagnose von Gross, dass es in der Schweiz keine Tradition gibt, in Mehr- und Minderheiten zu denken. Ohne diese Ueberlegungen wäre aber die Abwahl von Blocher nicht möglich gewesen. Sie hat sich hier, fallweise, personenbezogen und als Negativ-Allianz ergeben. Als Positiv-Allianz, die auch thematisch und strategisch denken würde, existiert sie indessen nicht, und ist das Bewusstsein dafür, eine solche zu schaffen, nur schwach entwickelt.

Claude Longchamp

Das Interview in der vollen Länge

Vorbildliche Lektion in Demokratietheorie

Demokratie nahm in den griechischen Stadtstaaten ihren Anfang. Die bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts beförderten die Sache. Zum Siegeszug als Herrschaftsform setzte Demokratie jedoch erst im 20. Jahrhundert an.
Anders als erwartet, bildete sich dabei nicht nur eine Form der Demokratie heraus, sondern unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen verschiedenste Erscheinungweisen. Deshalb erstaunt es nicht, dass die Nachfrage nach wissenschaftlichen Theorien der Demokratie im letzten Jahrhundert rasant angestiegen ist.

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26 Theorien im Vergleich
Ein besonders geglückter Versuch, eine weitgehend unvoreingenommene Ordnung in diese ausufernde Diskussion zu bringen, ist das deutschsprachige Lehrbuch “Demokratietheorien” des Heidelberger Politikwissenschafters Manfred G. Schmidt. Auf rund 600 Seiten handelt der Autor Vorläufer und Hauptvertreter der modernen Demokratietheorien ab, und stellt er die Demokratietheorien vor, die in der Forschung der Gegenwart von zentraler Bedeutung sind vor. 26 Definitionen und Herleitungen des Gegenstandes, die einen Bogen schlagen von Aristoteles bis zur Transitionstheorie von Diktaturen in Demokratien sind so zusammen gekommen. Diskutiert werden sie durch einen kritischen Befürworters von Demokratien, der legale Herrschaft, allgemeines, freies und gleiches Wahlrecht, Parteienwettbewerb, liberale Freiheiten, Abwahlmöglichkeiten und Verfassungsrecht zur Minimaldefinition der Demokratie zählt.

Der besondere Wert des Lehrbuches besteht darin, dass die Begründungen und Kritiken der verschiedenen Demokratievorstellungen nicht nur gerafft und materialreich zugleich vergestellt werden. Vielmehr werden sie in einem abschliessenden Teil aus einer systematischen, theorievergleichender Perspektive rekapituliert. Dafür hat Schmidt 10 Fragen für die Bewertung Demokratietheorien formuliert, die eine bisher nicht gekannte Uebersicht über den Gegenstand erlauben.

Die geprüfte Leistungsfähigkeit von Theorien
In einem 11 Vergleichspunkt kommt der Autor auf seine eigentliche Absicht des Buches, das schon mehrere Auflagen erlebt hat, zu sprechen: die Leistungsfähigkeit heutiger Demokratietheorien zu beurteilen. Zu seinen Favoriten zählen Demokratieforscher Schmidt Alexis de Tocqueville, Max Weber und Joseph Schumpeter, die die Funamente der Demokratietheorien legten. Ausgebaut wurde sie durch die Pluralismustheorie, die kritische Theorie und die komplexe Demokratietheorie. Die Ausweitung der Beschreibungen und Analysen durch den Staatenvergleich zählt er ebenfalls zu den wesentlichen Gründen für den Erkenntnisfortschritt. Schliesslich – und das kommt auch im Band selber breit zum Ausdruck – hält der Empiriker Schmidt die Vermessung von Demokratien für eine der wesentlichen Verbesserungen in der Gegenwart.

Rousseau, der während der Aufklärung das Prinzip der Volkssouveränität begründete, kommt in diesem Band auffällig schlecht weg, denn er blieb bei einem rudimentären Demokratieverständnis stehen; bemerkenswert gute Noten bekommt dafür der erste Theoretiker und Empiriker der Demokratie überhaupt, der griechische Philosoph Aristoteles.

Meine Würdigung
Ich kann das Buch Interessierten der Demokratieforschung nur empfehlen. Beendet wurde es fast schon symbolisch an der Schwelle des 20. zum 21. Jahrhunderts. Doch damit nicht genug; drei Vorteile des Buches von Schmidt seien hier herausgestrichen: Zuerst ist ein gut lesbarer Einstieg in eine nicht immer einfache Materie. Dann ist es eine Fundgrube für zentrale Ueberlegungen und relevante Daten zum Thema zugleich. Schliesslich eröffnet es einen nüchternen Blick auf die unverändert spannendste Herrschaftsform überhaupt.

Dass man am Schluss der Lektüre fast so weit ist, nach eine neuen, ideale Demokratietheorie greifen zu wollen, ist bei einem Einführungsbuch in einen politikwissenschaftlichen Gegenstand selten genug.

Claude Longchamp

Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Opladen 2000

Demokratie-Muster

(zoon politicon) Lang schien alles klar: Demokratie beruht auf Wettbewerb, braucht mindestens zwei Parteien, die sich in die Rollen der Regierung resp. der Opposition teilen. Bestimmt wird die Aufgabenverteilung über Wahlen, bei der die Mehrheit entscheidet. So lautete die knappste Demokratiedefinition im Westminster Verständnis.

Doch bekam man damit Probleme, wenn man beispielsweise die schweizerische Demokratie bestimmen wollte. Volksrechte kennt die Definition gar nicht, und von der Möglichkeit, statt auf Konkurrenz auf Konkordanz zu setzen, spricht sie auch nicht.

Die Klassifikation von Arend Lijphart

Den letzten Mangel hat der niederländische Politikwissenschafter Arend Lijphart, der im Eldorado der amerikanischen Universitäten lehrt(e), mit seinem epochalen Werk “Patterns of Democracy”, 1999 erschienen, aufgehoben. Denn ihm ist es gelungen, eine neue Demokratietypologie zu entwickeln und durchzusetzen, welche kulturelle Selbstverständnisse der amerikanisch-britisch geprägten Definitionen überwinden. Dafür hat(te) er 36 Demokratie untersucht, und sie

. entweder als mehrheits-orientiert
. oder als konsens-orientiert

bezeichnet. Dabei entstand nicht nur eine neue Klassifikation, wie es sie in der Demokratieforschung viele andere auch gibt. Lijphart’s Verdienst ist es, seine Demokratie-Unterscheidung auch an 10 klar definitierten, brauchbaren Kriterien dingfest gemacht zu haben:

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(Quelle: Adam 2003)

Die Kriterien lassen sich nach Lijphard auf zwei Dimensionen reduzieren: Das Verhältnis von Exekutive und Parteien resp. zwischen Unitarismus und Föderalismus. Daraus entsteht dann auch seine berühmte Landkarte der Demokratien, die bis heute befruchtend wirkt.

Das britische und das schweizerische Muster
Nimmt man nun diese zum Nennwert, dann ist das britische Demokratie-Modell kein Normal- eher ein Spezialfall. Der kann zwar unverändert Vorbildfunktionen haben, Allgemeingültigkeit kann er aber nicht mehr beanspruchen.

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Quelle: Lijphart 1999.

Die Schweiz wiederum erscheint auf der Demokratie-Landkarte als Gegenstück. Sie ist, anders als das britische Modell, weder zentralstaatlich noch parlamentarisch ausgerichtet. Sie ist ausgesprochen föderalistisch, fast so stark wie die USA, Kanada, Austrialien und Deutschland, die alle viel grösser sind; und sie ist – unter den untersuchten Staaten – die typischste Konsensusdemokratie, nur noch mit Island und Finnland vergleichbar.

Meine Bilanz
Lijphart’s bleibendes Verdienst ist es, ein neues Verständnis von Demokratieformen entwickelt zu haben. Die Bedeutung der Mehrheitsentscheidung als Definitionskriterium wird dabei relativiert, und durch Prozesse der Verhandlung in und mit Gliedstaaten erweitert. Das macht die politikwissenschaftliche Optik schon mal realistischer. Entsprechend sind Lijphart’s Bemühungen für ein zeitgemässes Demokratieverständis gerade von vergleichenden Politikwissenschaftern aus der Schweiz, wie beispielsweise Jürg Steiner, gebührend gewürdigt worden.

Nicht glücklich bin ich allerdings mit der Terminologie im Deutschen. “Konsensus-Demokratie” sind die wenigstens, die zum britischen Gegenpol gehören; Verhandlungs- und Proporzdemokratien, die auf den deutschen Politikwissenschafter Gerhard Lehmbruch zurückgehen, dagegen schon. Die Typologie sollte also zwischen dem Konkurrenz- und dem Konkordanzmuster unterscheiden.

Damit ist eines der beiden Probleme, die man als SchweizerIn, in der Schweiz oder mit der Schweiz in Demokratieklassierung regelmässig bekommen hat, überzeugend gelöst. Das andere harrt noch der Dinge: Wie man die schweizerische, direkten Demokratie in die allgemeinen Definition einbauen kann, ohne dass man gleich von Sonderfall sprechen muss! Die PolitikwissenschafterInnen unserer Landes haben das eine ungelöste Herausforderung vor sich …

Claude Longchamp

Arend Lijphard: Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries, Yale 1999.

weitere, gebräuchliche Klassifikationen von Demokratien in der Uebersicht von Hermann Adam