Mehr als nur Verstärkerwirkungen möglich

Welche Rolle spielt die politische Information bei Wahlentscheidungen? Eine vermehrt eigenständige und zunehmend massenmedial bestimmte, sagt der Mannheimer Politikwissenschafter Rüdiger Schmitt-Beck.

Klassisch wird die aufgewordene Frage durch die Forschungsergebnisse beantwortet, welche die amerikanischen Columbia-School im Gefolge von Paul Lazarsfeld beginnend in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts erarbeitet hatte. Medien als den wichtigsten Verbreitern von Informtion kommt dabei vor allem eine Verstärkerwirkung bestehender Prädispositionen der Menschen zu.

Differenzierter fallen die Schlüsse aus, wenn man der Habilitationsschrift von Rüdiger Schmitt-Beck folgt, die sich auf Sekundäranalysen von Wahlbefragungen in den USA, Grossbritannien, Spanien sowie West- und Ostdeutschland aus den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts stützt.

Politischen Prädispositionen der WählerInnen, kollektiv auch Grundlinien einer Entscheidung genannt, mischen sich in Entscheidungen mit Informationen, welche Wahlergebnisse oszillieren lassen. Das ist auch bei Schmitt-Beck der Ausgangspunkt. Als Einfluss von Information wird dabei jener Effekt definiert, der WählerInnen Entscheidungen treffen lässt, die sie ohne diese Informationen nicht gefällt hätten.

Die empirischen Ergebnisse, die Schmitt-Beck hierzu präsentiert, sind zunächst nicht unabhängig von der untersuchten Wahl resp. von ihrem Kontext: Personenwahlen wie die amerikanischen Präsidentschaftswahlen sind stärker informationsabhängig als Parteiwahlen; das gilt auch für Parteiwahlen in jungen gegenüber etablierten Demokratien. Schliesslich findet sich das Phänomen auch dort vermehrt, wo politische Entscheidungen von gesellschaftlichen Konfliktlinien unabhängiger, sprich individualisierter, ausfallen.

Unter den Prädisposition geht die Bedeutung der Schicht zurück, während Werthaltungen bei Wahlen wichtig bleiben, meist aber von Parteibindung überlagert werden. Informationen wiederum treffen auf zwei verschiedenen Wegen auf Parteibindungen: einerseits massenmedial resp. anderseits durch interpersonale Kommunikation. Dabei kommt dem Fernsehen generell die grösste Bedeutung zu, weil es ubiquitär verbreitet ist, während sich in der Nutzung von Printmedien und damit ihrer Bedeutung als Informationsquellen kulturell bestimmte Unterschiede finden. Das gilt auch für die Verbreitung von Gesprächen zur Informationsgewinnung, die zusätzlich durch den Grad der Politisierung von Wahlen beeinflusst sind.

Je pluralistischer ein Mediensystem ist, desto geringer fallen die erwarteten Medieneinflüsse aus. Konzentrationen im Mediensystem erhöhen diese jedoch ebenso wie die Abhängigkeit der Medien von politischen Akteuren. Hinzu kommt, dass moderat einseitige Berichterstattungen beeinflusender sind, als neutrale und klar gerichtete, weil letztere zu eigentlichen Gegenreaktionen unter den RezipientInnen führen.

Das Fernsehen trifft wegen seiner zentralen Stellung per definitionem auf vermehrt diskordante Prädispositionen. Gerichtete Printmedien in einem pluralistischen Mediensystem führen dagegen dazu, dass sich die WählerInnen jenen Medien zuwenden, von denen sie eine höhere Uebereinstimmung mit den eigenen Positionen erwarten. Das gilt ganz besonders auch für Primärbeziehungen wie Ehepartner, Verwandte und FreundInnen, weniger aber für Sekundärnetze wie Arbeitskolleginnen.

Informationen aus Kanälen, die Konkordanz mit den Prädispositionen versprechen, aktivieren diese in erster Linie. Sie verstärken damit die Grundlinie. Zu Konversionen kommt es vor allem dann, wenn diskordante Informationen aufgenommen und akzeptiert werden. Hierbei ist jedoch die Glaubwürdigkeit der Absender massgeblich. Dabei ist das Vertrauen meist wichtiger als die Kompetenz. Ist das Vertrauen von Absendern gegeben, können diskordante Informationen durch Prädispositionen überlagern oder verändern, sodass die Wahlergebnisse zu oszillieren beginnen. Das ist namentlich beim Fernsehen der Fall.

Insgesamt weichen die Ergebnisse, die Schmitt-Beck präsentiert, nicht fundamental von jenen der wahlbezogenen Kommunikationsforschung der amerikanischen Columbia-School ab. Doch reduziert der deutsche Politikwissenschafter angesichts verschiedenartiger Befunde die bisher übliche Beschränkung der Medienwirkung auf die übliche Verstärkerrolle. Ës kann auch zu einer Umkehr der Verhältnisse kommen, hält er in seiner Bilanz fest. Zahlreiche Fenster der Beeinflussung von Prädispositionen durch Informationen, sei dies bei parteiungebundenen BürgerInnen oder Wahlen, in denen Personen wichtiger sind als Parteien, werden angesichts der steigenden Durchdringung von Wahlkämpfen durch Massenmedien geöffnet.

Claude Longchamp

Wahlentscheidung unter Medieneinflüssen

Beeinflussen Massenmedien die Wahlentscheidungen? Dieser zentralen Frage der Wahlforschung geht der Mainzer Publizistikwissenschafter Stefan Dahlem in seiner Dissertation nach. Die Literaturübersicht integriert medien- und wählerInnen-orientierte Ansätze zu einem neuen interdisziplinären Vorgehen für die emprische Forschung, welche die aufgeworfene Frage theoretisch beantwortbar machen soll.

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Ueberischt über zentrale Argumentationsketten zum Medieneinfluss auf die Wahlentscheidung nach Stefan Dahlem

Für die Modellbildung konstitutiv ist die Unterscheidung innerer wie äusserer Faktoren der Wahlentscheidungen. Letztere entstehen aus dem sozialen Umfeld, der allgemeinen politischen Lage, den Massenmedien und der öfffentlichen Meinung. Dabei geht der Einfluss des sozialen Umfeld kontinuierlich zurück, und es nimmt die Bedeutung massenmedialer Darstellunger der politischen Lage zu. Dabei geht es weniger um eine direkte Einflussnahme, als um eine indirekte, indem die Medienberichterstattung die Vorstellungen der Wählenden über die Entscheidungsgegenstände bestimmt.

Diese Vorstellung sind die inneren Faktoren der Wahlentscheidung. Ideologien, Werte und Parteibindungen sind die langfristigen Prädispositionen der Wahl. Insbesondere die Rückläufigen Parteibindungen können als Folge der Negativberichterstattung über PolitikerInnen und Parteien in den Massenmedien gedeutet werden, was die Bedeutung kurzfristiger Informationen für den Wahlausgang erhöht, die ihrerseits in zunehmendem Masse auf massenmedialen Berichten basieren.

Drei Entscheidungsmechanismen erscheinen dabei als empirisch hinreichend geprüft, um verallgemeinert werden zu können:

. das Image von KandidatInnen,
. die vermutete Kompetenz der Parteien in den wichtigen Themen und
. das Meinungsklima, das sich aus dem Wahlkampf ergibt.

Namentlich bei WechselwählerInnen sind sie die massgeblichen Determinanten. Deren Bedeutung im Einzelnen lässt sich aber ohne das Studium des Wahlkampfes nicht vorhersagen.

Die gut lesbare und klar strukturierte Arbeit kommt trotz zahlreichen Ungereihmtheiten in der referierten Forschung zum Schluss, Einflüsse von Medieninhalten auf die Wahlentscheidung bestünden. Ihre Stärke hängt nach Dahlem zunächst von der Bedeutung von Netzwerken ab, in denen Wählende Informationen verarbeiten. Ohne sie, ist die Bedeutung massenmedialer Darstellung zentral, mit ihnen wird sie von den Netzwerken gebrochen. Sodann geht es auch um den Einfluss der Politik auf die journalistischen Darstellungen. Offensichtlich ist das Bemühen der Parteien und PolitikerInnen, die Medieninhalte zu bestimmen; diskret ist die Macht der Medien dort, wo sie mit ihren Selektionskritierien und Bewertungsmechanismus selber bestimmen, wer, wann und wie vor- oder nachteilhaft erscheint.

Modellmässig spricht nach Dahlem einiges dafür, dass die Enscheidungen der Wählen für Parteien und KandidatInnen heute vor allem durch Vorstellungen geprägt sind, die massenmedial vermittelt, von den Wählenden wahrgenommen und emotional verarbeitet werden. Diese Erkenntnis steht der rational-choice-Modellierung der Wahlentscheidung diametral gegenüber, die prinzipiell von informierten, vernunftgeleiteten Sachentscheidungen bei Wahlen ausgeht.

Meine Bilanz ist denn auch, dass das die spannendste These, welche die Dissertation von Stefan Dahlem nach fast 500 Seite Bericht für die empirische Forschung präsentiert.

Claude Longchamp

Stefan Dahlem: Wahlentscheidung in der Mediengesellschaft, München 2001

State-of-the-art in der politikwissenschaftlichen Wahlforschung

Die beiden Sozialwissenschafter Franz Urban Pappi und Susumu Shikano haben 2007 eine bemerkenswerte Uebersicht über den Stand der Wahlforschung vorgelegt. Fortgeschrittene StudentInnen finden hier eine knapp gehalten, weitgehend vollständigen Ueberblick.

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Wahlforschung gilt als eine der Königsdisziplinen in den Sozialwissenschaften. Nicht nur die Politikwissenschaft betreibt sie; auch die Oekonomie, Psychologie, Soziologie und Medienwissenschaft, ja auch die Geografie und Geschichte liefern Beiträge zur Erklärung von Parteien, Wahlergebnisse und BürgerInnenentscheidungen. Dabei beschäftigen sich ihre Modelle mit unterschiedlichen Aspekten der Wahlentscheidungen. Diese unterscheiden sich in der Reichweite, im Zeitbezug und aufgrund des Niveaus der Argumentation. Teilweise kommen sie zu gegensätzlichen Schlüssen, weil sie stärker axiomatisch oder empirisch ausgerichtet sind, oder weil sie unterschiedliche Wahlsysteme und Entscheidungssituationen vor Augen haben; teilweise ergänzen sie sich aber auch und bilden so ein Ganzes.

Den Entwicklungen der Forschung in den letzten Jahren trägt die Mannheimer Politikwissenschaft mit der aktuellen Überblicksdarstellung “Wahl- und Wählerforschung” Rechnung. Die Monografie des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung (MZES) ist einerseits der Wählerforschung, also der Untersuchung von Entscheidungen und ihrer vielfältigen Motive, andererseits der Wahlforschung, die die Wahl als Ganzes behandelt, gewidmet.

Die Autoren liefern eine umfassende, anspruchsvolle Gesamtshau, wie sie bislang weder auf Deutsch noch auf Englisch verfügbar ist. Pappi und Shikano stellen sowohl dem sozialpsychologischen respektive verhaltenswissenschaftlichen Ansatz gleich zu Beginn einzeln und vergleichend vor. Darauf folgt eine Aufschlüsselung wichtiger Teilgebiete der gegenwärtigen Wahlforschung. Schliesslich widmet sich das Buch, wenn auch nur rudimentär, der der Wahl- und Wählerforschung in der politischen Praxis, besonders in Deutschland.

Der Band richtet sich an Studierende, die sich in Master-Programmen oder als Doktoranden spezialisieren wollen. Er ist vorbildlich knapp gehalten, vielleicht, was die kommunikationswissenschaftlichen Unterschungen des Wählens betrifft, sogar zu knapp.

Claud Longchamp

Franz Urban Pappi, Susumu Shikano: Wahl- und Wählerforschung. Forschungsstand Politikwissenschaft, Baden-Baden 2007

Wahlkämpfe in der Schweiz: amerikanisch oder modernisiert schweizerisch?

Eine neue Untersuchung beschäftigt sich mit der Amerikanisierung der politischen Kommunikation in der Schweiz. Und bejaht den Trend für die Wahlkämpfe weitgehend. Eine Buchbesprechung.

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Im Fazit zu seiner Untersuchung der Modernisierung politischer Kommunikation in der Schweiz kommt der Freiburger Kommunikationswissenschafter Benjamin Weinmann zu folgendem Schluss: Die Amerikanisierung von Wahlkämpfen ist weiter fortgeschritten, als wie es uns bewusst sind. Das hat viel damit zu tun, dass man in der Schweiz dem Begriff “Amerikanisierung” aus kulturellen Gründen kritisch gegenüber steht, die Phänomene selber, die damit gemeint seien, jedoch einiges neutraler beobachtet.

“Amerikanisierung” der politischen Kommunikation definiert Weinmann anhand von vier Eigenschaften:

. der Professionalisierung,
. der Emotionalisierung,
. der Personalisierung und
. der Wettbewerbsorientierung

der politischen Kommunikation.”

In einem Rundgang durch die Medienberichte und Auswertungen hierzu, die sich vorwiegend auf die Nationalratswahlen 2007 stützen, zeigt Weidmann für alle vier Bereiche Evidenzen auf. Dabei ist viel von der Offensive die Rede, welche die SVP mit ihrem Wahlkampf lanciert hat. Das so gewonnene Material bleibt aber nicht für sich stehen; vielmehr wird es in der eben publizierten Untersuchung anhand von 10 Experteninterviews gewichtet und bewertet. Je fünf Spitzenfunktionäre der Parteien resp. zentrale Akteure der Massenmedien gaben ihm hierfür unmittelbar nach dem Wahlkampf Auskunft.

Die Bilanz am Schluss des Buches ist auf der Ebene der Befunde eindeutig. “Eine Amerikanisierung der politischen Kommunikation in der Schweiz gibt es auf jeden Fall.” In der Diskussion wird diese These dann aber differenziert: Weinmann zieht, um die Trends übergreifend zu charakterisieren, den Begriff der “Modernisierung” der politischen Kommunikation jenem der Amerikanisierung vor. Denn die realen Veränderungen reflektierten sowohl vom System wie auch von der Kultur her nur bedingt die amerikanischen Voraussetzungen. Sie werden auch nicht zwingend direkt aus den USA kommend in die Schweiz importiert; häufiger kommen sie als Adaptationen aus Nachbarländer in unser Land.

Was das Ausmass betrifft, hält Weinmann drei der vier ausgewählten Kriterien der Transformation politischer Kommunikation in der Schweiz für erfüllt: Einzig bei der Wettbewerbsorientierung resp. dem damit verbundenen negative campaigning ist er sich nicht so sicher, ob es stattfindet oder nicht.

Pointiert ausgedrückt kommt die aktuelle Veränderung von Wahlkämpfen für den Kommunikationswissenschafter darin zum Ausdruck, dass es der SVP gelungen sei, werberisch und medial die Parlamentswahlen ’07 in eine Quasi-Bundesratswahl umzugestalten. Ein eigentliches Pferderennen um die politische Macht sei daraus aber nicht geworden, denn dafür spräche die politische Kultur mit ihrem Beharrungsvermögen dagegen.

Man kann bei einigem, das Benjamin Weinmann präsentiert, Fragezeichen anbringen. Das hat vor allem mit der Begriffsdefinition und ihren Folgen zu tun. Denn diese wird etwa von den Innsbrucker PolitikwissenschafterInnen Fritz und Gunda Plasser in ihrer weltweit führenden Uebersicht über die Amerikanisierung von Wahlkämpfen radikaler vorgenommen: Amerikanisierung sei der Uebergang von der parteien- zur kandidatengetriebenen Kampagne, verbunden mit der Kommerzialisierung der Aktion, mit der forschungsgestützten, von externen Beratern geführten Kampagne, die sich auf die Fernsehpräsenz ausrichtete. Davon sind wir in der Schweiz wohl noch einiges mehr entfernt, als es hier bilanziert wird. Plasser würde denn auch nicht von Modernisierung sprechen, eher von der Diffusion von Techniken aus der amerikanischen politischen Kommunikation in die anderer Systeme und Kulturen. Und schon diese bleiben nicht ohne Wirkung, wo sie den Verhältnissen angepasst eingesetzt werden.

Trotz dieses Einwandes kommt Weinmann das Verdienst zu, sich erstmals in einer Publikation mit den Phänomenen der Amerikanisierung politischer Kommunikation in der Schweiz auseinander gesetzt zu haben.

Claude Longchamp

Benjamin Weinmann: Die Amerikanisierung der politischen Kommunikation in der Schweiz. Verlag Ruegger, Zürich/Chur 2009

Spaltungen der Schweiz bei Volksabstimmungen systematisch untersucht

Ein Forschungsprojekt von Berner PolikwissenschafterInnen hilft, die Vielfalt von Gegensätzen in den Abstimmungsergebnissen historisch und typologisch zu überblicken.

Wer erinnert sich nicht an die Volksabstimmung vom 6. Dezember 1992, als die Schweiz in einer denkwürdigen beim Volksmehr knapp, beim Ständemehr deutlich entschied, dem EWR nicht beizutreten. Vom “Röschtigraben” war damals sinnbildlich die Rede, weil die Trennlinie zwischen mehrheitlicher Zustimmung und Ablehnung praktisch mit der Sprachgrenze zwischen deutsch- und französischsprachiger Schweiz zusammenfiel, und die Sprachregionen (mit Ausnahme der deutschsprachigen Grossstädte) fast gänzlich gegensätzlich stimmten.

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Cleavages oder Konfliktlinien nennt die Sozialwissenschaft gesellschaftlich bedingte Spaltungen, die historisch zurückliegende Konflikte reflektieren, nachwirken, verschiedenen Interessen oder Identitäten zum Ausdruck bringen und durch entschprechende Organisationen immer wieder mobilisiert werden. Das kann man erfolgreich für die Entstehung der Parteiensysteme verwenden, aber auch für Analyse von Volksabstimmungsergebnisse verwenden.

Ein Forschungteam der Universität Bern, geleitet von Wolf Linder, hat sich dieses Raster auf alle Volksabstimmungen seit 1874 angewendet und die raumbezogenen Resultate erstmals eine systematischen statistischen Analyse über die Zeit unterzogen. Die Ergebnisse ihrer Studie wurde vor kurzer Zeit im Band “Gespaltene Schweiz – Geeinte Schweiz. Gesellschaftliche Spaltungen und Konkordanz bei den Volksabstimmungen seit 1874″veröffentlicht (und ist teilweise auf via Web abrufbar).

Konfliktlinie “Stadt vs. Land” bei Volksabstimmungen
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Regula Zürcher und Christian Bolliger, welcher die empirischen Arbeiten geleistet haben, kommen zum Schluss, dass der Stadt/Land-Gegensatz nicht nur der wichtigste über die ganzen Betrachtungsperiode ist. Er nimmt auch klar zu. Oder anders gesagt: In Volksabstimmung der Schweiz ist die Konfliktlinie zwischen Stadt und Land am häufigsten relevant, um Zustimmung und Ablehnung zu kennzeichnen.

Konfliktlinie “Kapital vs. Arbeit” bei Volksabstimmungen
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An zweiter Stelle figuiert bei ihnen die Konfliktlinie “Arbeit/Kapital”; sie war zwischen 1895 und 1925 ausgeprägt wirksam und bei Volksabstimmungen die wichtigste. Seit 1986 ist die wieder zunehmend, bleibt aber hinter der erstgenannten zurück.

Konfliktlinie “deutschsprachige vs. französischsprachige Schweiz” bei Volksabstimmungen
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Damit sind die beiden interessenbezogenen Spaltungen an der Spitze. Die beiden identitätsorientierten Konfliktlinien, die ebenfalls untersucht wurden, folgen danach: Zuerst erwähnt wird der Sprachengegensatz (hier vereinfacht dargestellt durch die Spaltung zwischen deutsch- und französischsprachiger Schweiz), während die konfessionelle Teilung der Schweiz (gemessen an der Polarität zwischen Katholizismus und Protestantismus) an letzter Stelle folgt.

Konfliktlinie “Katholisch vs. reformiert” bei Volksabstimmungen
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Der grosse Vorteil dieser Art von Analyse ist, die Uebersicht zu erhalten und zu bewahren, wobei die Aufgeregtheit, mit der einzelne Phänomene gelegentlich kommentiert werden, relativiert wird. Das gilt notabene auch für die “Spaltung” der Schweiz beim EWR, die aus der Sicht der Abstimmungsgeschichte nur eine vorübergehende Episode war: ein Grund mehr, diese Konfliktlinie nicht bei jeder Gelegenheit zu bemühen!

Claude Longchamp

Den strukturellen Populismus der Gegenwart untersuchen

Noch in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts war es in der politikwissenschaftlichen Analyse üblich, die Entstehung populistischer Bewegungen an bestimmte Momente zu knüpfen, die einschneidende Brüche darstellten und zu Entwicklungen von Protest ausserhalb des Parteiensystems führten. Das sei passé, meint der Rostocker Politikwissenschafter Nikolaus Werz, der von einem strukturellen Populismus der Informationsgesellschaft spricht, der neue Ursachen habe und neue Fragen aufwerfe.

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Der Populismus ist selber in den etablierten Demokratie Westeuropas Teil der politischen Kultur und des politischen Systems geworden. Dabei verändert er den Stil der Demokratie, ohne sie zu zerstören, ist eine zentrale Botschaft des hier besprochenen Buches von Nikolaus Werz

Natürlich ist Italien das meist diskutierte Anschauungsbeispiel für das, was die neue Fragestellung zum Populismus ist. Drei Parteien, die allesamt populistischen Charakter haben, bilden seit dem Zerfall der traditionellen bürgerlichen Parteien fast ununterbrochen die Regierung, ohne dass die linken demokratischen Kräfte dem “Projekt Berlusconi“, das auf immer mehr Machtkonzentration ausgerichtet ist, ernsthaft etwas entgegenhalten können.

Aehnliches kommt aber auch anderswo vor, in Oesterreich, in der Schweiz, in Belgien, in den Niederlanden, Dänemark, ja in Deutschland und Frankreich, was die Diskussion der Phänomen über eine Beurteilung Italiens hinaus interessant macht.

Das politikwissenschaftlich unvoreingenommen zu analysieren, ist die Absicht der Analysen, die der Rostocker Politikwissenschafter Nikolaus Werz in einem Sammelband vorgelegt hat. Sein Fazit: Während in West- und Osteuropa der Rechtspopulismus dominiert, lässt sich in Nord- und Südamerika ein Populismus feststellen, der linke wie rechte Erscheinungsformen verbindet. Die Demokratie ist dabei nicht einfach abgeschafft worden, wenn auch in ihrem liberalen Verständnis erschüttert.

Der Frankfurter Historiker und Politologe Hans-Jürgen Puhle versucht, das in einem gewichtigen Ueberblickskapitel zu synthetisieren: Gesprochen wird von einem Designer-Populismus, einem neuen Politikstil, der sich in der Demokratie etabliert hat und genau deshalb regelmässig für Kontroversen sorgt. Seine Symptome sind die Sehnsucht nach Leadership und führungszentrierter Parteipolitik, was zu einer Dominanz der SpitzenpolitikerInnen kombiniert mit einer ideologsichen Beliebigkeit führe, die eine pragamtische Behandlung des Augenblicks mit einem gehörigen Schuss an medialer Empörung zur Folge hat. Der Bonapartismus ist, bilanziert Puhle, zum Element der etablierten Parteienpolitik und damit auch zu einem Kennzeichen der Staatspolitik geworden.

Für diesen strukturellen Populismus werden im Sammelband fünf Ursachen genannt:

. erstens, die Mobilisierung gegen die Globalisierung, als Interessen- und Machtkartell, begründet durch neoliberale Politik, welche den Rückzug des Staates auf zentralen Feldern der Konfliktregelung fordert;

. zweitens, einen generellen Antimodernismus, der unter den VerliererInnen von Transformationsprozess jedweder Art SympathisantInnen findet;

. drittens, den Bedeutungsverlust von Grossorganisationen wie Parteien und Verbänden aber auch des Staates, angesichts stagfaltionärer Veränderungen, bei denen der Umbau des Staats weg vom keynsianistischen Wohlfahrtsstaat am Anfangs steht,

. viertens, parteiinhärente Probleme vor allem von catch-all parties, die den Zusammenhalt ihrer AnhängerInnen nur noch gewährleisten können, wenn der richtige Nerv der Zeit permanent getroffen wird,

. und fünftens, die Auswirkungen der new campaign politics mit elektronischen Medien, welche die Lösung von Sachfragen in den Hintergrund treten lassen, dafür aber auf die Vermehrung von Glaubwürdigkeit zentraler Führungspersonen ausgerichtet sind.

Soweit die Analyse. Brisant ist der Schluss, der in Uebereinstimmung mit konservativen Politikverständnissen daraus gezogen wird: Populismus sei zu einem mehr oder weniger dauerhaften Bestandteil demokratischer Systeme geworden, ohne dass sie sich früheren, marxistisch inspirierten Vermutungen, Populimus führe zwangsläufig zu Bonapartismus und der automatisch zu semi- und vollfaschistischen Regimes bewahrheitet hätten.

Die Politikwissenschafter ziehen daraus auch den Schluss, die Populismus-Analyse solle untersuchen, wie dominant gewordene Politikstil heute in der Regierungs- und Parteienpolitik generell verwendet werden, um Wahlen zu gewinnen und Regierungen zu stabilisieren.

Claude Longchamp

Nikolaus Werz (Hg.): Populismus. Populisten in Uebersee und Europa. Opladen 2003

Gründe und Formen der rassistischen Logik neu bestimmt

Bücher über Rassismus lösen mit schöner Regelmässigkeit Diskussionen aus. Das Buch des deutschen Historikers Christian Geulen zu eben diesem Thema hat seit seinem Erscheinen vor gut einem Jahr eine ganz unübliche Debatte provoziert, von der gesagt wird, sie sei einer der besten Beweise dafür, dass weder der Rassismus noch die Geschichtswissenschaft an ihr Ende gelangt seien.

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JuniorProfessor Christian Geulen, Autor des bemerkenswerte Buches “Geschichte des Rassismus”

Verbreitet ist die Auffassung, Rassismus sei eine anthropologische Konstante, komme bei einer Minderheit von Menschen immer vor, werde politisch instrumentalisiert und müsse deshalb dauerhaft bekämpft werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe dieser Kampf gegen den Rassismus gesiegt.

Christian Geulen, Schüler von Hans-Urlich Wehler, Jahrgang 1969 und Juniorprofessor für Neuere Geschichte an der Universität Koblenz-Landau, hält das für nicht ganz falsch, aber mächtig ungenau. Von Rassismus könne man erst sprechen, hält er in seinem knapp gehaltenen Uebersichtswerk pointiert fest, seit angenommen werde, dass es menschliche Rassen überhaupt geben würde. Die heutige Einteilungen in der Biologie seien keine Ordnungen in der Natur, sondern aus dem Geist der Wissenschaft erst entstanden, was die Historiker herausfordere.

Von Rassen spricht man bis heute vor allem im Zusammenhang mit Hunden und Katzen, kaum aber von Pinguinen und Würmern. Denn Rasse als Begriff steht gemäss Geulen im Zusammenhang mit der Züchtung fremder Lebewesen. Im gesellschaftlichen Diskurs gehen die Ursprünge der Wortverwendung auf das 15. und 16. Jahrhundert zurück, um machtvolle Adelfamilien einerseits, deren Pferdezucht anderseits zu beschreiben. Rassismus versteht der Autor denn auch als Phänomen der westlichen Neuzeit. Der Abschluss der Reconquista, die Entdeckung Amerikas, der Buchdruck und der Durchbruch der Wissenschaft haben die Vorstellung menschlicher Rassen zugelassen, um spezielle Menschen, die sich vom gemeinen Volk unterschieden, aber nicht zur christlichen Adel gehörten, zu bezeichnen. Von da weg hat sich der Begriff in der Natur- und Geisteswissenschaft, um im 18. Jahrhundert popularisiert und im 19. Jahrhundert politisiert zu werden.

Die gesellschaftliche Bedeutung des Rassenbegriffs hängt nach Geulen von den Entwicklungsschüben der Globalisierung der Welt ab, die im 16., im. 18., an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stattfanden, und die heute wieder sichtbar werden. Rassismus, schreib der Autor, sei ein Versuch, “in Zeiten verunsicherter Zugehörigkeit entweder hergebrachte oder aber neue Grenzen von Zurgehörtigkeit theoretisch zu begründen und praktisch herzustellen.” Darin liege die besondere und unauflösliche Bezeihung zwischen rassistischer ideologie und rassistischer Praxis, die sich gegenseitig bedingen würden.

Genau dieses Verhältnis nimmt Christian Geulen zum Indikator, um die Frage zu beantworten, “wann und wie Vorurteilsstrukturen, Animositäten und Feindbilder, die an sich kaum als hinreichende Wegbereiter oder gar als Vorstufen des Rassismus seien, in rassitistische Ausgrenzung, Diffamierung und Anfeindung verwandelten, welche die Vernichtung von Leben, das als fremde angesehen wird, erlauben würden.” Und noch deutlicher: “Wenn diese Verknüpfung so weit reicht, dass Rettung oder Regeneration des Eigenen nurmehr durch Vrschluss oder Verschwinden des Fremden möglich erscheint, dann liegt eine ausgeprägte rassistische Logik vor.”

Diese Logik untersucht der kreative und produktive Autor Christian Geulen in der Folge in seinem sehr lesenswerten wie auch gut lesbaren geschichtlichen Ueberblick. Selbst- und Fremdwahrnehmung in der antiken Welt, das Verhältnis von christlicher und jüdischere Religion kommen dabei ebenso vor, wenn auch noch nicht als Teile der rassitischen Bio-Politik. Denn diese setzt ja erst mit der Wissenschaft, der Positionierung von Rasse zwischen Biologie und Politik ein, um im Evolutionismus des 19. Jahrhundert mit dem Kampf der Rassen, der Ablehnung des Rassenvermischung und der Forderung nach Rassenerzeugung ihren Höhepunkte zu erreichen. Der dabei herausragende Rassismus gegen Juden hat sein Ende nicht mit dem zweiten Weltkrieg gefunden, sondern sich in genetischen Diskursen der Naturwisssenschafter genauso weiter wie in der Globalisierung des Kulturkonflites der Gegenwart.

In vielerlei Hinsicht eine provokative Herausforderung des jungen Historiker, gerade für zeitkritische Menschen wie auch für die interdisziplinäre Rassismusforschung.

Claude Longchamp

Wählen. In der kürzest möglichen Form behandelt.

Die Wiener resp. Innsbrucker PolitikwissenschafterInnen Sieglinde Rosenberger und Gilg Seeber haben die kürzeste Einführung in die politikwissenschaftliche Betrachtungsweise des Wählens verfasst, die ich kenne. Das Taschenbuch zählt nur gut 100 Seiten, hat aber eine Einführung, einen materiellen Hauptteil und einen Serviceteil. Es ist besonders als Einstiegslektüre ins Thema für Studierende und Interessierte geeignet.

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Der Band, 2008 erschienen, stellt Wählen in den demokratiepolitischen Kontext der Gegenwart, präsentiert ausgewählte theoretische Diskussionen und verweist auf empirische Forschungsergebnisse aus verschiedenen Demokratie, einschliesslich der Europäischen Union.

Die Einführung bestimmt Wahlen als zentrale Methode der Demokratie, weil sie einerseits die quantitativ wichtigste Beteiligungspraxis darstellen, anderseits Wahlkämpfe meist die intensivste Form der politischen Kommunikation zwischen Parteien und BürgerInnen sind. So ergibt die Analyse von Wahlen die vollständigste Annäherung an den Stand des Erhalts und der Erneuerung der Demokratie.

Im Hauptteil geht es den AutorInnen um Wahldemorkatien, Wahlrechte, Wahlverhalten und Wahlsysteme als zentrale Themen der politikwissenschaftlichen Lehre. Damit hebt sich der Band deutlich von anderen ab, die Wahlen weniger politologisch und systematisch behandeln, den Gegenstand aber aus der Perspektive des Wählens und deer Forschungen hierzu erschliessen.

Jedes Kapitel wird kurz eingeleitet, damit man erfährt, was in aller Kürze kommt und was notgedrungenermassen auch fehlt. Zur Vertiefung der stichwortartigen Darstellung gibt es jeweils Literatur- resp. Linklisten, die vorbildlich knapp gehalten sind. Bebildert ist die Einführung nicht, ausgewählte Tabellen vermitteln aber numerische Uebersichten, und zentrale Modell geben einen Eindruck der diskutierten Zusammenhängen.

Am Ende gibt es eine Exkurs zu den Zusammenhängen und Unterschieden zwischen resp, von Wählen und Abstimmen. Dabei geht es im Wesentlichen um die Erweiterung von Wahlen durch Referenden im Zusammenhang mit der EU.

Was überzeugte mich bei der Lektüre am meisten? Zunächst die sachliche Darstellung, die in gut verständlicher Sprache geschrieben ist. Das macht das Buch für nicht-Fachleute interessant. Dann die Aktualität des Bandes, der Themen wie e-Voting als neue Partizipationsform, aber auch die Kritik der Postdemokratie in die Uebersichten aufnimmt. Schliesslich kann das Buch empfohlen werden, weil es zwar in einigem österreichisch geprägt ist, sich aber auf erhellende Vergleiche mit Deutschland und der Schweiz stützt.

Claude Longchamp

Sieglinde Rosenberger, Gilg Seeber: Wählen. Wien 2008.

Die postdemokratische Diagnose

Wir sind es uns gewohnt, Demokratie für die vollendeste Regierungsform zu halten. Entsprechend rechnen wir nicht damit, dass es ausser Perfektionierungen der Demokratie auch andere Formen ihrer Weiterentwicklung gibt. Obwohl das einer gründlichen, aber unvoreingenommen Diskussion wert ist.

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Die Wahl von Georges W. Bush im Jahre 2000 hat den Glauben Vieler in die Funktionsweise der Demokratie erschüttert. Letztlich blieb unklar, ob die BürgerInnen der USA den Ausschlag gaben, oder das oberste amerikanische Gericht die Wahl entschieden hatte.

Die Diskussion der Demokratiequalität, die seither zunimmt, hat die Symptomatik der möglichen Probleme ausgeweitet und sie unter den Titel “Post-Demokratie” gestellt. Generell gesprochen geht es um einen kulturellen Wandel, wie er in der politischen Kulturforschung seit längerem diskutiert wird:

Output-orientierte Demokratieverständnisse messen Demokratiequalität vor allem an den wirtschaftlichen Leistungen, die eine demokratisch legitimierte Herrschaft erbringt. Geringe Arbeitslosigkeit, tiefe Inflation, steigendes Durchschnittseinkommen zählen zu den wichtigsten ökonomischen Bestimmungsgrössen, die gelegentlich auch durch Fortschritte in der Freizeitgesellschaft ergänzt werden.

Input-orientierte Definitionen von Demokratie betonen dagegen die hohe Bedeutung des Prozesses der Willensbildung vor, während und nach der Entscheidung als Qualitätskriterien. Effektive BürgerInnen-Partizpation, die sich im ganzen Ablauf gegen bisherige Herrschaften durchsehen kann, gilt hier als zentrales Kriterium.

Die pointierteste Kritik an gegenwärtigen Zuständen demokratischer Regierungsweisen in fortgeschrittenen Demorkatien hat der britische Politikwissenschafter Colin Crouch 2004 verfasst. Zwischenzeitlich ist seine Streitschrift in mehrere Sprachen, so auch auf Deutsch, übersetzt worden. Dabei geht er von den Entwicklungen der Demokratie in Italien unter Silvio Berlusconis Regierungen aus, bleibt aber nicht dabei stehen. Alle Gemeinwesen, in denen nach wie vor Wahlen abgehalten werden, in denen konkurrierende Teams professioneller Experten die öffentliche Debatte so stark kontrollieren können, dass sie einerseits zum reinen Spektakel verkommen, anderseits nur über jene Problemen diskutiert wird, welche die Experten ausgewählt haben, nennt Courch Postdemokratien. Bürgerapathie in politischen Fragen, von gelenkten Parteien nur in symbolischen Fragen durchbrochen, korrespondiert dabei mit einem hohem politischem Einfluss von Interessengruppen in der effektiven Politikgestaltung.

Crouch behandelt in seiner Diagnose die Bedeutung globaler Unternehmen, die Veränderungen sozialer Klassen, die Lage der Parteien und die Kommerzialisierung öffentlicher Leistungen. Dabei trägt er eine anregende Fülle von Beobachtungen zusammen, die er jedoch vor einem nicht weit diskutierten Geschichtsbild interpretiert. Massgeblich ist die Vorstellung, dass politische Regimes generell, aber auch das der Demokratie, sich in Parabelform entwickeln. Entsprechend kann man eine erste, prädemokratische Phase unterscheiden, auf die die zweite Etappe mit dem Höhepunkt der Demokratie folgt, die während der dritten Phase, der postdemokratischen zwangsläufig in einen Abstieg mündet.

Diese Vorstellung der Phasenentwicklung von Demokratie ist so arbiträr fatalistisch, wie jene optimistische Vorstellung von Samuel Huntington, der von einer von einer stufenweisen Weiterentwicklung der Demokratie sprach, die sich dabei weltweit ausdehen und verbessern. Adäquater ist, gerade aus der Sicht der politischen Kulturforschung von Zyklen in demokratischen Regimes auszugehen, indenen in- und outputorientierte Vorstellungen mehr oder minder realisiert werden. Das reicht, um eine Leitlinie für Untersuchungen zu bekommen, sie sehr wohl helfen, die Gegenwart zu diagnostieren, ohne gewagte Spekulationen zur Zukunft der Demokratie zu machen.

Claude Longchamp

Crouch, Colin: Post-Democracy, Oxford 2004 (Postdemokratie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Mai, 2005)
Colin Crouch in der Berliner TAZ zur aktuellen Lage in Politik und Wirtschaft

Wie soll man ein allfälliges Nein zur Personenfreizügigkeit interpretieren?

Den Volkswillen bei Abstimmungen zu interpretieren, ist heikel. Politisch wie wissenschaftlich. Denn Entscheidung ist Entscheidung. Doch es ist sinnvoll, diese zu analysieren. Im Normalfall, wie auch im möglichen Spezialfall. Deshalb ist es Zeit, sich ein paar zusätzliche Gedanken zu machen, wie ein allfälliges Nein zur Personenfreizügigkeit untersucht werden müsste.


Wie kann man interessenbasierte Interpretationen eines allfälligen Neins zum 8. Fabruar 2009 verhindern?- Eine Herausforderung für die angewandte Politikwissenschaft, halte ich fest, mit der Absicht, sich ihr zu stellen

Die aktuelle Situation
Man erinnert sich: Kaum im Amt als Bundesrat, erklärte Christoph Blocher, es sei nicht die Aufgabe des Bundesrates, den Volkswillen zu interpretieren. Er solle sich an die Entscheidungen des Souveräns halten, und er solle danach handeln. Heute ist alles ganz anders: Schon vor der Volksabstimmung über die Personenfreizügigkeit ist ein Interpretationsstreit entbrannt, wie man ein allfälliges Nein interpretieren solle. Speziell die SVP-Exponnenten sind bemüht, ihre Sicht der Dinge durchzubringen, wonach ein Nein am 8. Februar 2009 nur ein Nein zur Erweiterung der Personenfreizügigkeit sei, nicht aber zu dieser als solcher und damit auch kein Verstoss gegen die Bilaterale I.

Zu den Positionen der Gegnerschaft
Die gestrige “Arena“-Sendung zur Volksabstimmung 2009 zeigte, dass die Sache komplizierter ist, denn auf Seiten der Opponenten wurden alle Positionen vertreten: “Nein” heisse Nein zur Erweiterung, meinte etwa Lukas Reimann von der SVP; “Nein” heisse Nein zur Personenfreizügigkeit an sich, konterte Ruedi Spiess von den Schweizer Demokraten. Ein “Nein” am 8. Februar 2008 wäre ein Nein zur gesamten Vorlage, über die abgestimmt würde, erwiderte Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, was der Bundesrat bis Ende Mai 2009 der EU mitteilen müsste, womit die Bilaterale Verträge, die seit 2002 in Kraft seien, nach 6 Monaten automatisch auslaufen würden.

Politisch kann diese Diskussion nur entschieden werden, wenn alle Akteure, die an der Entscheidung beteiligt sind, mitsprechen können: der Bundesrat und das Parlament, die Stimmberechtigten und die Europäische Union.

Die Möglichkeiten der angewandten Politikwissenschaft
Die angewandte Politikwissenschaft kann der Politik in einem Punkt Hilfen anbieten: Sie kann die stark interessen-geleiteten Interpretationen der Akteure auf schweizerischer und europäischer Ebene, die sich auch in der Deutung des Volkswillens äussern, mit vertiefenden Untersuchungen spiegeln, kritisieren und einer vernünftigen Interpretation zuführen.

Statt normative Abstimmungsanalysen zu machen, empfiehlt es sich solche empirisch zu leisten. Ganz einfach gesagt: Die Stimmenden selber sollen sagen können, was sie mit ihren Entscheidungen beabsichtigten.

Gegenwärtig wird unter den Analytikern, die so oder so die Volksabstimmung zur Personenfreizügigkeit untersuchen werden, überlegt, wie angesichts der üblichen, aber unübersehbaren Diskussion zur Interpretation eines Neins am 8. Februar 2009 die VOX-Nachbefragung erweitert werden könnte. Klar herausgearbeitet werden müsste in der Nachanalyse der Volksentscheidung, die diesmal das Institut für Politikwissenschaft an der Universität Bern leistet, …

… wie man im Lager den Nein-Stimmenden seine Ablehnung verstanden hat
… wie man zu einer weiteren Volksabstimmung in der Sache steht,
… wie man bei einer Trennung der Entscheidungen über Fortsetzung und Erweiterung(en) stimmen würde.

Das Ganze macht nur dann Sinn, wenn die Konsequenzen unterschiedlicher Entscheidungen nicht gleich wären, wie ein allfälliges Nein am 8. Februar 2009. Um keinen schweizerischen Bias zu haben, müsste auch erörtert werden, ob man zu Konzessionen in anderen Dossiers wie der Banken-, Steuer-, Landwirtschafts- oder Forschungspolitik bereit wäre, um Verhandlungen zu einer modifizierten Personenfreizügigkeit zu erreichen. Und: Ob bei einem Nein die Bilateralen zu Ende sind, und was danach kommen soll, – Alleingang oder EU-Beitritt?

Besser wissensbasierte Interpretionen als interessenbasierte Annahmen
Ich denke, es ist sinnvoll, diese Fragen zu klären. Das ist keine Aussage zum Ausgang der Volksabstimmung vom 8. Februar. Aber es ist eine rechtzeitige Auslegeordnung für den Fall B, denn die Nachanalyse startet so oder so am Montag nach der Volksabstimmung. Und sie soll, wie immer, zu einer wissens-, interessenbasierten Interpretation des Volkswillens führen.

Claude Longchamp