Wi(e)der die unglaubliche Arroganz unter Partnern

Die aktuelle Ausgabe der deutschen Wochenzeitung “Die Zeit” provoziert die Schweiz. Den Gegnern der Bilaterale ist das Recht. Die Befürworter sind schockiert. Eine Auslegeordnung, warum Polarisierungen hüben wie drüben keine Basis für Partnerschaften sind.


Eine Woche vor der Abstimmung in der Schweiz liegen die Nerven blank. Doch in Partnerschaften empfiehlt es sich, sich wechselseitig nicht zu provozieren, bis die Fronten verhärtet sind.

Herausgefordertes Deutschland
Seinen bisher grössten Moment hatte der Deutsche Jorgo Chatzimarkakis, als er im September 2007 seine FDP zur bundesweiten Fusion mit den Grünen aufrief, um eine starke ökoliberale Mitte zu bilden und so die Polarisierung der nationalen Politik zwischen links und rechts zu überwinden. Selber lebt der Politiker diese Verbindung schon, wenn er als Mitglied des Europaparlamentes in Brüssel ist. Dann wohnt “Chatzi”, wie er sich selber gerne nennt, nämlich mit Cem Oezdemir, dem EU-Parlamentarier der Grünen in einer WG. Das ist nicht ohne, denn Chatzimarkakis ist griechischstämmig, während Oezdemir von türkischer Herkunft ist, denn das ist genau das, was man in Brüssel von Zypern erwartet: zusammen zu arbeiten!

Weniger gut klappt die Verständigungsarbeit allerdings, wenn Chatzimarkakis auf die Schweiz angesprochen wird. Da kritisiert der promovierte Agrar- und Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Europarecht die Schweiz in der aktuelle Zeit heftig: »Ich habe hohen Respekt vor der Schweizer Demokratie. Aber ich habe demokratietheoretisch langsam ein Problem damit, dass schon wieder eine kleine Minderheit 490 Millionen Europäer aufhalten können soll.« Und dann kommt’s faustdick: »Die unglaubliche Arroganz muss jetzt mal ein Ende haben! Die Schweiz wäre längst ein rückständiger Fleck in Europa, wenn sie nicht ihr wunderbares Bankensystem hätte und ihre tollen Ausnahmeregelungen. (…) Wer, bitte, legt denn das ganze Geld da drüben an? Die Schweizer müssen wissen: Sie schaden sich selbst mehr als uns, wenn sie am 8. Februar Nein sagen.«

Politik und Wirtschaft parallel entwickeln
Gerade demokratietheoretisch ist die EU, muss man entgegnen, kein Vorbild. Sie ist aus keiner Revolution hervorgegangen, die neues Verfassungsrecht geschaffen hätte, das nun im Sinne der Demokratie gelebt würde. Vielmehr ist sie aus der schlichten Notwendigkeit heraus entstanden, nach den Kriegen weiteres Blutvergiessen mitten in Europa zu vermeiden. Dabei setzten die Gründungsväter der EU auf die Hoffnung, gemeinsame Industrien und gemeinsmer Handel schafften grenzüberschreitende Verständigung.

Daraus ist zwischenzeitlich zwar mehr als eine reine Koordination von Wirtschaftspolitiken durch die EWG entstanden, wohl aber kein austarierter gesamteuropäischer Staat. Unionsbürgerschaft und gemeinsame Wahlen können nicht darüber hinweg täuschen, dass die EU vom Europäischen Rat dominiert und von der Kommission geführt wird. Weit fortgeschritten ist insbesondere der Demokratisierungsprozess des exekutiven Apparates nicht, sodass man die EU besser an wirtschaftlich-pragmatischen Kriterien misst als anhand demokratie-theoretischer.

Wenn schon, müsste man als Politikwissenschafter mit Schweizer Hintergrund einwerfen, dürfte sich diese nicht auf Institutionen der Volksrepräsentation beschränken, sondern auch deren Erweiterung durch direktdemokratische Instrumente in Betracht ziehen. Mit diesen macht die EU erst zögerlich Bekanntschaft. Ein Teil aus Politik und Administration sieht in der erhöhten Involvierung der BürgerInnen durchaus die Chance erhöhter Legitimation. Er ist deshalb bereit, auf BürgerInnen-Partizipation zwischen BürgerInnen-Foren und Volksentscheidungen einzugehen. Ein anderer Teil begreift das alles nur als lästige Blockierungen, die partikuläre Interessendurchsetzung zulasten einer einheitlichen Politik fördere.

Die Schweiz sollte man in dieser Debatte weder über- noch unterschätzen, ist meine Antwort. Unterschätzen würde man sie mit ihrer reichhaltigen Erfahrung gerade mit der BürgerInnen-Beteiligungen im politischen Willensbildungsprozess, wenn diese nicht partnerschaftlich in den EU-Aufbauprozess einfliessen würde. Ueberschätzten würde man sie aber, glaubte man, ihr spezifisch gewachsenes Entscheidungssystem sei das einzig Wahre für Politik und Wirtschaft.

Die Arroganz hüben und drüben abbauen
Hinter beiden Positionen steckt eine unglaubliche Arroganz im politisch-kulturellen Sinne. Denn die EU braucht dringend Demokratisierungen ihres technokratischen Selbstverständnisses von Politikgestaltung. Die jüngsten Ablehnungen von grundlegenden Verfassungsentwürfen in Frankreich, den Niederlanden und in Irland zeigen, wie verbreitet die Distanz der Herrschenden zu den Menschen ist. Ganz zu schweigen, dass es auch Bedenken auf Verfassungsebene in Deutschland gibt und sich selbst Regierungen in Polen und Tschechien sträuben, wenn die Perspektive von unten in der Willensbildung vernachlässigt wird. Das alles gilt, selbst wenn es kaum ernsthafte Kritiken an den wirtschaftlichen Vorteilen des EU-Projektes gibt.

Umgekehrt braucht die Schweiz dringend mehr Spiegelungen ihres demokratischen Selbstverständnisses. Entscheidungen, die man einmal getroffen hat, sind verbindlich, – gerade um wirtschaftlich kalkulierbare Verhältnisse zu sichern. So gut die Schweiz in innenpolitischen Themen damit gefahren ist, dass man Alles und Jedes immer und wieder in Frage darf, so problematisch ist das, wenn es um wrtschaftspolitische Partnerschaften mit Dritten geht. Denn die Verbindlichkeit von Zusagen auf der einen Seite wird im internationalen Austauschprozess in der Regel durch Unverbindlichkeiten von Zusagen auf der anderen Seite gekontert. Das Klima des Misstrauens, das sich so hochschaukelt, ist keine Basis für dauerhafte Kooperation über Grenzen hinweg. Vielmehr nährt sie die Polarisierung, wie wir es gegenwärtig erleben.

Herausgeforderte Schweiz
Ein “Ja” zur Personenfreizügigkeit gäbe es nur, forderte alt-Bundesrat Christoph Blocher an der Albisgüetli-Tagung 2008 seiner SVP, wenn die EU darauf verzichte, weitere Forderungen zum Bankgeheimnis zu stellen. Wer glaubt, als Oppositionsführer unrealistische Bedingungen zu Abschlüssen stellen zu müssen, kriegt diese mit voller Wucht zurück, denn das Echo Deutschlands an die Adresse der Schweiz lautet heute: Personenfreizügigkeit “Ja”, wenn ihr die Privilegien für Euer Bankensystem weiter wollt.

Jorgo Chatzimarkakis will mit seiner ökoliberalen Idee die blockierende Polarisierung im bundesdeutschen Parteiensystem verhindern. Gut so!, sag ich. Wer Verantwortung für Politik und Wirtschaft übernehmen will, muss aber auch Polarisierungen zwischen Partnern abbauen helfen, füge ich an die Adresse Aller Beteiligter bei.

Claude Longchamp

Welche Kantone stimmen am 8. Februar 2009 ähnlich wie die Schweiz?

Acht Mal stimmte die Schweiz in den letzten 36 Jahren über ihre Verhältnis zur EU ab. 2 Abstimmungen betrafen Modalitäten des EU-Beitritts, 6 waren Entscheidungen über die Zusammenarbeit. Eine Uebersicht, was man aus der Kantonsanalyse hierzu für Schlüsse mit Blick auf die kommende Volksabstimmung zur Personenfreizügigkeit ziehen kann.


1972: EWG-Freihandelsabkommen; 72,5 % Ja, 22 Stände dafür (alle Karten: www.swissvotes.ch)

Die 6 Volksabstimmungen, die in der Schweiz abgehalten wurden, und das Verhältnis zur EU unterhalb des Beitrittsniveaus regelten, zeigten sehr unterschiedliche Ergebnisse: Das Freihandelsabkommen von 1972 und das Paket Bilaterale 1 wurden klar (fast) flächendeckend angenommen; sie erhielten Zustimmungswert von rund 70 Prozent. Das Paket Bilaterale II, auch unter dem Titel Abkommen von Schengen und Dublin bekannt, die (erste) Osterweiterung der Personenfreizügigkeit und die Ostzusammenarbeit, über die 2005 resp. 2006 entschieden wurde, kamen ebenfalls alle durch, wenn auch mit Zustimmmungswerten von 53 bis 56 Prozent einiges knapper. Abgelehnt wurde der Beitritt zum EWR 1992, als sic 16 Kantone und 50,3 Prozent der Stimmenden dagegen aussprachen.


1992: EWR-Vertrag; 49,7 % Ja, 7 Stände dafür

6 Mal zugestimmt haben Bern, Solothurn, Luzern, Zürich und Zug. Der EWR bildet hier die einzige Ausnahme.

4 Mal eine EU-Kooperationsvorlage bewilligt, zwei Mal abgelehnt haben Aargau und Graubünden. Auch hier ist der EWR die eine Ausnahme, die Abkommen von Schengen und Dublin sind die andere.


2000: Bilaterale 1; 67,2 % Ja, 22 Stände dafür

6 Mal zugestimmt haben Bern, Solothurn, Luzern, Zürich und Zug. Der EWR bildet hier die einzige Ausnahme.

4 Mal eine EU-Kooperationsvorlage bewilligt, zwei Mal abgelehnt haben Aargau und Graubünden. Auch hier ist der EWR die eine Ausnahme, die Abkommen von Schengen und Dublin sind die andere.


2005: Bilaterale II (Abkommen von Schengen/Dublin); 54,6 % Ja, keine Ständemehr nötig

Je 3 Ja und 3 Nein setzte es in Appenzell Ausserrhoden, St. Gallen, Thurgau und Schaffhausen ab. Verworfen wurden hier der EWR, das Schengen/Dublin-Paket und die Ostzusammenarbeit.

Mit 4 Nein sind die Ablehnungen in Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Glarus und Appenzell Innerrhoden in der Ueberzahl. Ja sagte man hier nur 1972 und 2000 beim Freihandel und dem ersten Paket zu den Bilateralen.


2005: Erweiterung Personenfreizügigkeit; 56,0 % Ja, keine Ständemehr nötig

Die konsequenteste Nein-Haltung in Fragen der Zusammenarbeit mit der EU findet man im Tessin. Nach der Befürwortung des Freihandelsabkommens mit der EWG 1972 setzte es in der Folge 5 Nein in Serie ab.

Wenn die hier vertretene Analyse stimmt, lohnt es sich am Abstimmungssonntag nicht, auf die Ergebnisse in Neuenburg oder Tessin zu schauen. Denn sie bildeten bisher die Extrempositionen ab, und das dürfte auch am 8. Februar 2009 so sein.


2006: Ostzusammenarbeit, 53,4 % Ja, kein Ständemehr nötig

Interessanter dürften Kantone wie Zürich, Zug, Aargau, Solothurn, Bern, Luzern und Graubünden. Denn sie bewegten sich bei den besprochenen Abstimmungen meist recht nahe am Schnittt der Schweiz. Die Ergebnisse in diesen Ständen eigenen sich damit viel eher für die hausgemachte Hochrechnung, die von einigen Teilresultaten auf das Ganze schliesst, wenn auch nicht mit absoluter Sicherheit.

Immerhin: Zug und Solothurn waren bisher zweimal die Trendkantone, Graubünden und Zürich je einmal. Einzig für 1972 versagt die hier gemachte Retrognose. Damals stimmte die Schweiz praktisch gleich wie Baselstadt.

Claude Longchamp

Personenfreizügigkeit: Börsianer haben sich entschieden

Die gestrigen Umfragewerte zur Personenfreizügigkeit aus der SRG-Erhebung hatten auf die Abstimmungsbörse, die von der Internet-Seite des Schweizer Fernsehens unterhalten wird, kaum mehr einen Einfluss. Die Börsianer scheinen entschieden zu sein. Sie rechnen mit 52,8 Prozent Zustimmung zur Vorlage.


Abstimmungsbörse zur Personenfreizügigkeit auf “Wahlfieber“, Stand nach der letzten SRG-Befragung

Die gestrigen Werte aus der StimmbürgerInnen-Befragung lagen 2 Wochen vor der Abstimmung bei 50 Prozent bestimmt oder eher “Ja”, 43 Prozent bestimmt oder eher “Nein” und 7 Prozent Unentschiedenen. Anders als bei der Publikation der ersten SRG-Befragung hatte die neuerliche Veröffentlichung von Umfrage-Werten keinen Einfluss mehr auf die Einschätzungen der Börsianer, die unter “Wahlfieber” Aktien zum Abstimmungausgang handeln. Der Wert der Ja-Aktie lag heute morgen fast unverändert bei 52,75 Punkten, jener für die Nein-Aktie bei 47,25. Das spricht dafür, das man unter den HändlerInnen mit einer Zustimmung zur Personenfreizügigkeit rechnet, wenn auch einer recht knappen.

Das ist zwar keine Auskunft über die Stimmabsichten, aber ein Gradmesser für Erwartungshaltungen. Sie schwankten anfänglich stark, gingen mit der Veröffentlichung der ersten Umfrage nach oben, und stabiliserten sich danach schrittweise mit einem knappen, aber recht konstanten Vorsprung für das Ja.

Umfragen dürfen ab jetzt keine mehr publiziert werden, die Börsen-Spekulationen gehen aber bis zum Abstimmungssonntag weiter.

Mal sehen, was daraus wird!

Claude Longchamp

SozialeKontrolle2.0 bei Volksabstimmungen

Die Pioniere der politischen Abstinenzforschung in der Schweiz argumentierten mit der nachlassenden sozialen Kontrolle in der Massengesellschaft als Ursache für die sinkende Stimmbeteiligung. Jetzt setzen die jungen BefürworterInnen der Personenfreizügigkeit auf ein Video, welches die soziale Kontrolle inszeniert, falls man am 8. Februar 2009 nicht stimmen gehe.


Das Vorbild aus dem US-amerikanischen Wahlkampf

Der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf gab auch hier das Vorbild ab. Die Plattfrom www.youtube.com stellte clips ins web, wonach 1 Stimme die Wahl zwischen Barack Obama und John McCain entschieden habe, – zugunsten des Republikaners. Die Reaktionen im Clip waren harsch: Die Oeffentlichkeit empörte sich, und die Medien identifizierten den Uebeltäter. Denn es war ein Nicht-Wähler, der für Obama stimmen wollte, welcher der Wahl fern blieb. Wehe ihm, sagt seine Verwandschaft, wenn wir ihn kriegen. Doch das alles war nicht echt. Es war Realität 2.0, die Betroffenheit schaffen wollte und Teil der Kampagne für Obama war.

Man weiss es: Soweit wie im Jahr 2000, als der Sieg von Georges W. Bush über Al Gore nur durch Messers Scheide entschieden wurde, kam es 2008 nicht. Obama siegte mit 54:45 ungefähr mit dem Vorsprung, den man erwartet hatte. Die Beteiligung indessen erreichte mit 63 Prozent Beteiligung den höchsten Wert seit 1960.

Das scheint nun die Ja-Seite der Personenfreizügigkeit beflügelt zu haben. Seit heute morgen zirkuliert ein Clip, der nach ähnlichem Muster aufgebaut ist. Verbreitet wird er mit viralem Marketing. Man erhält es via email, und man wird gebeten, es auf dem gleichen Weg weiter zu leiten.


Die Nachahmung, nicht auf youtube erhältlich, da sie auf individualisierte Ansprache im Video setzt!

Wer sich den Streifen ansieht, wird gleich zu Beginn geschickt. Eine Sondersendung der Tagesschau, täuschend echt moderiert von Charles Clerc, berichtet über den Abstimmungssonntag. Die Personenfreizügigkeit sei mit einer Stimme abgelehnt worden, heisst es. Gezeigt wurd ein Transparent, auf dem der eigene Name als Schuldiger erscheint. Der Rest ist dann noch etwas Wiederholung der Botschaften für die Personenfreizügigkeit.

Es ist klar: Eine höhere Betroffenheit kann man nicht auslösen. Eine Person gibt den Ausschlag, und man ist sie gleich selber. Das sitzt. Und genau das lädt ein, den Joke weiter zu vertreiben, bei FreundInnen oder MitarbeiterInnen, die auch ausschlaggebend sein könnte.

Falls es so knapp wird, wie berichtet. Falls man Ja-Stimmen wollte und es doch unterlassen sollte. Und falls man sich von den Jungparteien auf der Ja-Seite ein schlechtes Gewissen einbildern lässt.

Denn die heutige Abstinenzforschung ist nämlich gar nicht mehr so sicher, ob soziale Kontrolle heute noch so entscheidend sei. Sie argumentiert vielmehr, dass okkasionelles Nicht-Stimmen mit Unschlüssigkeit zu tun habe, wennl keine Seite wirklich überzeugen konnte.

Claude Longchamp

Die Vorbereitung der Hochrechnung zur Personenfreizügigkeit beginnt

Keine drei Wochen geht es mehr bis zur Volksabstimmung vom 8. Februar 2009. Zeit mit den Vorbereitungen der Hochrechung zur Personenfreizügigkeit zu beginnen. Und erstmals einen Einblick zu gewähren in die Arbeit des Teams, das es an Abstimmungssonntagen weiss, bevor man es weiss.

Hochrechnungen basieren darauf, dass man aus Teilresultaten auf das gesamte Ergebnis schliesst. Das ist ganz einfach. Weniger einfach ist aber die Frage, welche Teilresultate geeignet sind.

Die erste Annahme, die wir für Hochrechnungen hatten, war: Es gibt eine oder einige zuverlässige Gemeinden, die immer so stimmen, wie die Schweiz. Schön wärs, sage ich heute, nachdem ich seit dem 6. Dezember 1992 alle eidgenössischen Volksabstimmungen hochgerechnet habe, denn es gibt die schweizerische Mustergemeinde nicht. Es gibt maximal pro Themen- oder Konfliktbereich wiederkehrende Gemeinden, die im Landesmittel stimmen. Doch selbst das gibt keine hinreichend genaue Hochrechnung.

Die zweite Annahme ist schon besser: Es gibt Kantone, die in einem Themenbereich oder Konfliktmuster genau gleich wie die Schweiz stimmen oder in einem wiederkehrenden Verhältnis zum nationalen Mittel abweichen. Damit kann man erfahrungsgemäss schon besser arbeiten. Den es ist zwar schon deutlich präziser, aber nicht besonders schnell. Verbessert werden kann es, wenn man bei den schnellsten Kantonen weiss, wie viel sie in der Regel vom nationalen Mittel abweichen. Und nur mit ihnen rechnet.

Die dritte Annahme ist die beste: Es gibt in jedem Kanton Gemeinden, die in einem Themenbereich oder Konflitkmuster gleich wie der Kanton stimmen und schnell sind. Sie können stellvertretend für das Kantonsergebnis verwendet werden, bis dieses vorliegt, und diese lässt, effektiv oder mit Stellvertretern Rückschlüsse auf das gesamtschweizerischen Resultat zu.

Letzteres, und nur letzteres, nennen wir Hochrechnung.
Das Mittlere entspricht der Trendrechnung.
Das Erste heisst bei uns high-speed.

Die high-speed-Rechnung wird nie veröffentlicht. Sie dient dem Hochrechnungsteam nur als erster Gradmesseer, um sich auf möglicher Ergebnisse einzustellen. Die Ergebnisse der Trendrechnung werden über die Sender der SRG kommuniziert, jedoch nur in qualitativer Hinsicht. Der maximale Schätzfehler beträgt hier noch 5 Prozent. Deshalb geben wir keine Zahlen heraus, aber Einschätzungen zur Mehrheit. Die Hochrechnung selber ist das Herzstück. Sie muss an Abstimmungssonntage spätestens um 14 Uhr kommuniziert werden, und sie muss bis auf 2 Prozentpunkte mit dem Abstimmungsergebnis übereinstimmen.

Was sie auch tut: Die mittlere Abweichung der Hochrechnung vom Endergebnis beträgt genau 1 Prozent. Im Einzelfall sind wir schon mal genauer; es kommt aber auch vor, dass wir 2 Prozent abweichen.

So einfach ist das. Wenn man weiss, was der Themenbereich resp. das Konfliktmuster beträgt. Das nämlich ist der Trick. Doch davon später …

Claude Longchamp

youtube statt Aepfel

Meinungsbildung ist das Eine, Mobilisierung das Andere. Denn nur eine abgegebene Stimme kann eine gute Stimme sein. Diesmal verteilen die BefürworterInnen der Personenfreizügigkeit keine Aepfel an Stadtmenschen, um zu gewinnen. Sie setzen dem Zeitgeist folgend auf youtube, um mit Ironie die Bankgesellen von ihrem Bildschirm an die Urne zu bewegen.

Das sagt sich die Schweizerische Bankiervereinigung. Sie liess einen Clip produzieren und ins Netz stellen, der sich wie auch andere Aktiviten von Bankersvote ganz besonders an die Banker richtet. Leider sei ihm beim Ausfüllen des Stimmzettels die Tinte ausgegangen, und seine Kollegen hätten momentan auch nichts Flüssiges, lamentiert ein Bankangestellter auf der Züricher Bahnhofstrasse. Der Clip kontert die Ausrede: Man müsse schon bessere Gründe haben, um sich an der Volksabstimmung vom 8. Februar 2009 nicht zu beteiligen.

Das Video auf www.youtube.com nimmt einen in Umfragen gut bekannten Sachverhalt auf. Mehr Menschen, die befragt wurden, habe in der Sache eine Meinung, als effektiv Stimmen gehen. Trotz erleichterter Stimmabgabe via Post. Sie sollen mobilisiert werden!

Produziert wurde das Video von der Agentur von Campaigner Peter Metzinger. Schon 2005 erhielt er von der befürwortenden Seite der Personenfreizügigkeit den Auftrag, etwas zur Ausschöpfung der Stimmberechtigten zu unternehmen. Damals stimmten wir in dieser Sache im September ab; die Aepfel an den Bäumen standen in voller Blüte und wurden Zentnerweise unter die urbanen Leute verteilt, um sinnlich für die Personenfreizügigkeit zu werben. Diesmal ist es deutlich kälter in der Schweiz, die am 8. Februar 2009 über das gleiche Thema entscheidet. Das dürfte die Kampagnenaktionisten dazu geführt haben, via Internet zu mobilisieren.

Claude Longchamp

Wie soll man ein allfälliges Nein zur Personenfreizügigkeit interpretieren?

Den Volkswillen bei Abstimmungen zu interpretieren, ist heikel. Politisch wie wissenschaftlich. Denn Entscheidung ist Entscheidung. Doch es ist sinnvoll, diese zu analysieren. Im Normalfall, wie auch im möglichen Spezialfall. Deshalb ist es Zeit, sich ein paar zusätzliche Gedanken zu machen, wie ein allfälliges Nein zur Personenfreizügigkeit untersucht werden müsste.


Wie kann man interessenbasierte Interpretationen eines allfälligen Neins zum 8. Fabruar 2009 verhindern?- Eine Herausforderung für die angewandte Politikwissenschaft, halte ich fest, mit der Absicht, sich ihr zu stellen

Die aktuelle Situation
Man erinnert sich: Kaum im Amt als Bundesrat, erklärte Christoph Blocher, es sei nicht die Aufgabe des Bundesrates, den Volkswillen zu interpretieren. Er solle sich an die Entscheidungen des Souveräns halten, und er solle danach handeln. Heute ist alles ganz anders: Schon vor der Volksabstimmung über die Personenfreizügigkeit ist ein Interpretationsstreit entbrannt, wie man ein allfälliges Nein interpretieren solle. Speziell die SVP-Exponnenten sind bemüht, ihre Sicht der Dinge durchzubringen, wonach ein Nein am 8. Februar 2009 nur ein Nein zur Erweiterung der Personenfreizügigkeit sei, nicht aber zu dieser als solcher und damit auch kein Verstoss gegen die Bilaterale I.

Zu den Positionen der Gegnerschaft
Die gestrige “Arena“-Sendung zur Volksabstimmung 2009 zeigte, dass die Sache komplizierter ist, denn auf Seiten der Opponenten wurden alle Positionen vertreten: “Nein” heisse Nein zur Erweiterung, meinte etwa Lukas Reimann von der SVP; “Nein” heisse Nein zur Personenfreizügigkeit an sich, konterte Ruedi Spiess von den Schweizer Demokraten. Ein “Nein” am 8. Februar 2008 wäre ein Nein zur gesamten Vorlage, über die abgestimmt würde, erwiderte Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, was der Bundesrat bis Ende Mai 2009 der EU mitteilen müsste, womit die Bilaterale Verträge, die seit 2002 in Kraft seien, nach 6 Monaten automatisch auslaufen würden.

Politisch kann diese Diskussion nur entschieden werden, wenn alle Akteure, die an der Entscheidung beteiligt sind, mitsprechen können: der Bundesrat und das Parlament, die Stimmberechtigten und die Europäische Union.

Die Möglichkeiten der angewandten Politikwissenschaft
Die angewandte Politikwissenschaft kann der Politik in einem Punkt Hilfen anbieten: Sie kann die stark interessen-geleiteten Interpretationen der Akteure auf schweizerischer und europäischer Ebene, die sich auch in der Deutung des Volkswillens äussern, mit vertiefenden Untersuchungen spiegeln, kritisieren und einer vernünftigen Interpretation zuführen.

Statt normative Abstimmungsanalysen zu machen, empfiehlt es sich solche empirisch zu leisten. Ganz einfach gesagt: Die Stimmenden selber sollen sagen können, was sie mit ihren Entscheidungen beabsichtigten.

Gegenwärtig wird unter den Analytikern, die so oder so die Volksabstimmung zur Personenfreizügigkeit untersuchen werden, überlegt, wie angesichts der üblichen, aber unübersehbaren Diskussion zur Interpretation eines Neins am 8. Februar 2009 die VOX-Nachbefragung erweitert werden könnte. Klar herausgearbeitet werden müsste in der Nachanalyse der Volksentscheidung, die diesmal das Institut für Politikwissenschaft an der Universität Bern leistet, …

… wie man im Lager den Nein-Stimmenden seine Ablehnung verstanden hat
… wie man zu einer weiteren Volksabstimmung in der Sache steht,
… wie man bei einer Trennung der Entscheidungen über Fortsetzung und Erweiterung(en) stimmen würde.

Das Ganze macht nur dann Sinn, wenn die Konsequenzen unterschiedlicher Entscheidungen nicht gleich wären, wie ein allfälliges Nein am 8. Februar 2009. Um keinen schweizerischen Bias zu haben, müsste auch erörtert werden, ob man zu Konzessionen in anderen Dossiers wie der Banken-, Steuer-, Landwirtschafts- oder Forschungspolitik bereit wäre, um Verhandlungen zu einer modifizierten Personenfreizügigkeit zu erreichen. Und: Ob bei einem Nein die Bilateralen zu Ende sind, und was danach kommen soll, – Alleingang oder EU-Beitritt?

Besser wissensbasierte Interpretionen als interessenbasierte Annahmen
Ich denke, es ist sinnvoll, diese Fragen zu klären. Das ist keine Aussage zum Ausgang der Volksabstimmung vom 8. Februar. Aber es ist eine rechtzeitige Auslegeordnung für den Fall B, denn die Nachanalyse startet so oder so am Montag nach der Volksabstimmung. Und sie soll, wie immer, zu einer wissens-, interessenbasierten Interpretation des Volkswillens führen.

Claude Longchamp

«Jede Partei fährt immer mehr ihre eigene Schiene»

Der Artikel auf www.zoonpoliticon.ch brachte es in Rollen: Die beklagte Kampagnevielfalt bei der Volksabstimmung zur Personenfreizügigkeit verstärkt zwar die Imagewerbung für Akteure, aber nicht die Sachwerbung für das Anliegen. Die SDA hat das Sujet am Donnerstag aufgenommen, und folgendes Interview daraus gemacht.


SDA: 49 Prozent der Bevölkerung haben bei der letzten Umfrage Ja zur Personenfreizügigkeit gesagt, nur 40 Prozent waren dagegen. Sie gehen zudem davon aus, dass die Einstellungen relativ stabil sind. Ist das Rennen gelaufen?
Claude Longchamp: Im Normalfall: ja. Doch wir haben spezielle Zeiten. Wer hätte einen Tag vor dem 60-Milliarden-Rettungspaket an die UBS so etwas für möglich gehalten? Wegen der angespannten Wirtschaftslage bin ich vorsichtig in der Interpretation. Ein aussergewöhnliches Ereignis könnte das Resultat durchaus noch kippen.

Zum Beispiel?
Wenn etwa eine Grossfirma Ende Monat Tausende von Mitarbeitern entlässt.

Aber würde dies automatisch das Nein-Lager stärken? Die Befürworter argumentieren ja, dass angesichts der Krise die Beziehungen zur EU umso wichtiger und darum ein Ja so wichtig sei.

Unsere Analyse zeigt tatsächlich, dass wirtschaftliche Argumente für beide Lager wichtig sind. Trotzdem scheint mir bei einem grösseren Einbruch die Angst vor der Arbeitslosigkeit grösser zu sein als vor möglichen Schwierigkeiten mit der EU.

Hat die Wirtschaftsseite also ein Glaubwürdigkeitsproblem?
Ja, denn die milliardenschwere Hilfe an die UBS gepaart mit hohen Boni hat das Volk nicht goutiert. Es ist denn auch kein Zufall, dass in der aktuellen Kampagne nicht Top-Manager wie Marcel Ospel oder Daniel Vasella die Ja-Kampagne führen, sondern Patrons wie Johann Schneider-Ammann oder Otto Ineichen. Bei der Abstimmung zur Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Osteuropa im Jahr 2005 war das noch anders.

Sehen sie andere Unterschiede der Befürworter-Kampagne?

Nur wenige. Das Plakatsujet des Apfelbaums ist dasselbe, auch die Argumente sind ähnlich.

Der Apfelbaum stösst nicht überall auf Gegenliebe. Ineichen und Schneider-Ammann kritisierten das Plakat als zu emotionslos und abstrakt. Sie werben nun mit dem SVP-Raben, um deren Argumente zu kontern.
Diese Kritik verstehe ich nicht. Das Sujet des Apfelbaums hat eine klare Aussage und einen grossen Wiedererkennungseffekt. Die Kampagne war 2005 erfolgreich. Zudem ist es grundsätzlich falsch, den Gegner zu kopieren. Wer Erfolg will, muss sich vom Gegner abgrenzen. Für eine Erweiterung der Kampagne mag das gehen, doch grundsätzlich gilt: Es muss eine eigene Symbolik her.

Wie schätzen Sie die Raben-Kampagne der SVP ein?
Die Aussage ist missverständlich. SVP-Präsident Toni Brunner redete von einer diebischen Elster, doch wo ist der weisse Bereich auf dem Bauch? Die Verbindung zwischen Kriminalität und dem Tier funktioniert nicht. Die Junge SVP zeigt kommunikativ klarer, was sie sagen will. Sie zeigt einen ausländischen Einbrecher, der mit seiner Beute aus dem Haus steigt. Hier ist die Botschaft klar.

Die Raben-Kampagne hat immerhin für Wirbel gesorgt. Reicht dies nicht? Nein, bei dieser Vorlage nicht. Für noch unbekannte Themen ist Aufmerksamkeit das A und das O. Als man zum Beispiel vor 15 Jahren auf AIDS aufmerksam machen wollte, war es erst mal wichtig, dass man darüber redet. Alles andere war sekundär. Bei der Personenfreizügigkeit ist das anders: Das Thema ist bekannt. Hier müssen sachliche Argumente ins Zentrum, wenn man die Abstimmung gewinnen will.

Wieso wirbt die SVP trotzdem mit dem Raben und dem Kriminalitätsargument?

Einerseits aus argumentativer Not, andererseits weil sie Imagewerbung betreibt. Sie will sich für rechte Kreise empfehlen. Mit der Imagewerbung ist sie nicht alleine. Werbung im Sinne der Partei anstatt zum Wohle der Vorlage nimmt in der Schweiz generell zu. Schauen sie sich zum Beispiel die FDP-Plakate an!

Die FDP wirbt mit einem Güterzug auf dem Weg in die EU, dessen Schiene allerdings von Christoph Blocher und Toni Brunner sabotiert wird.
Ein absolutes Novum in der Schweiz! Das erste Mal macht eine Partei in der Schweiz in einer offiziellen Kampagne Werbung mit einer anderen Partei. Es geht der FDP dabei weniger darum, der Vorlage zum Durchbruch zu verhelfen, sondern ihr Image zu verbessern. Sie will damit sagen: Die Politik der SVP ist nicht gut für die Schweiz. Die inhaltliche Aussage dieses Plakats ist schwach.

Auffällig ist im gegenwärtigen Abstimmungskampf die Vielzahl der Komitees und Plakate. Hängt dies ebenfalls mit der Eigenprofilierung zusammen?
Absolut. Jede Partei fährt immer mehr ihre eigene Schiene. Dies muss nicht zwingend schlecht sein. Sie hilft bei der Mobilisierung gegen innen. CVP-Sympathisanten lassen sich logischerweise am besten mit einer CVP-Kampagne ansprechen. Die Gefahr besteht allerdings darin, dass man sich verzettelt und die Hauptkampagne in den Hintergrund rückt. Bei der aktuellen Vorlage ist man am Rand dazu. Früher hiess es: Getrennt marschieren, vereint schlagen. Heute dagegen zunehmend: Getrennt marschieren und getrennt schlagen.

Personenfreizügigkeit aus historischer, juristischer, ökonomischer und politologischer Sicht

Schweiz – Europa: wie weiter?” heisst ein kleines Buch in der Reihe “Die neue Polis” des NZZ-Verlags, das Georg Kreis jüngst editiert hat. Es versammelt vier Aufsätze, die sich historisch, juristisch, ökonomisch und politologisch mit der anstehenden Volksabstimmung zur Personenfreizügigkeit beschäftigen. Entstanden sind die Texte am Europa-Institut der Universität Basel, das der Herausgeber leitet.


“Ein langer Weg in Etappen”, das erste Kapitel, stammt vom Historiker Kreis selber. Den Text zur “Fortführung und Ausdehnung” hat die Juristin Christa Tobler verfasst. “Hohe Integration ohne Beitritt” wiederum stammt aus den Tasten des Oekonomen Rolf Weder, während “Die Einführung der Personenfreizügigkeit durch die Schweiz” durch den Politologen Laurent Goetschel verfasst wurde.

Dabei wird mehrfach die Wandlungsfähigkeit der Schweizer EU-Politik betont. Kreis etwa schreibt. “Zwischen 1992 und jetzt legte die Schweiz einen weiten Weg zurück. Sie machte in den letzten 15 Jahren einen Entwicklung durch, die manche zuvor kaum für möglich gehalten hatten. Die beachtliche Oeffnung, die in diesem Jahren eintrat, muss man sich vor Augen halten und sich nicht nur an den ewigen Verweigern orientieren, wenn man von der Schweiz spricht.”

Alle vier AutorInnen aus Basel sind in ihrer Grundhaltung liberal oder sozial inspirierte BefürworterInnen der Personenfreizügigkeit. Das könnte den Nutzen des Buches mindern. Wenn das dennoch nicht der Fall ist, hat das seinen Grund: Alle vier AutorInnen haben sich bemüht, ein aktuelles Sachbuch, gut verständlich und leicht nachvollziehbar zu schreiben. Es ist nicht nicht ohne Standpunkt, interveniert aber eigentlich nie parteiisch. Es folgt der Logik, die sich in Volksabstimmung bisher mehrfach bestätigt hat, dass der bilaterale Weg, von der Schweiz verlangt, auch über die kommende Abstimmung hinaus weiter beschritten werden soll.

Wenn ich dennoch nicht restlos glücklich geworden bin bei der Lektüre, hat das mit dem Titel zu tun: Die aufgeworfene Frage nach dem “Wie weiter?” wird explizit nicht diskutiert und beantwortet. Keine Szenarien für die nächsten 10 Jahre der Europa-Politik runden den Band ab, obwohl man genau das erwartet hätte, wenn man ihn öffnet.

Denn über dem Bilateralismus, der Basis der Personenfreizügigkeit im schweizerischen Sinne, schwebt nach Ansicht von Fachleuten wie dem zurückgetretenen EDA-Staatssekretär Franz von Däniken das Damokles-Schwert, eine Projekt auf Zeit zu sein. Eine systematische Auseinandersetzung mit dieser wissenschaftlich bisher kaum erörterten Annahme aus Sicht dr EU und der Schweiz hätte das Buch über die Abstimmung hinaus zur Referenz auf Dauer gemacht.

Claude Longchamp

Schweiz – Europa: wie weiter? Kontrollierte Personenfreizügigkeit, herausgegeben von Georg Kreis, Zürich 2008

Referendum zur Personenfreizügigkeit nur wegen Facebook?

Seit Weihnachten 2008 diskutiert man im Bundesrat und rund herum, ob die Volksrechte im Zeitalter des Cyberspace angepasst werden müssten oder nicht. Jetzt sorgt eine neue Information in der Gratiszeitung “20 Minuten” für zusätzlichen Zündstoff. Schweres Geschützt wird aufgefahren; dabei sollte man die bisherige Sammelpraxis von Unterschriften nicht idealisieren.



Der aktuelle Fall

Der Regierungssprecher Oswald Sigg äusserte sich vor kurzem negativ über die Folgen des world wide web auf die direkte Demokratie. Der anfänglich Optimismus war verfolgen, wonach das Internet der Regierungsinformation und -kommunikation neue, positive Möglichkeiten eröffne. Die neuerliche Skepsis ausgelöst hattte die Beobachtung, dass es heute virtuellen Gruppen gelinge, Unterschriften für Initiativen und Referenden zu sammeln. Der ursprüngliche Gedanke des meinungsbildenden Bürgergesprächs, das mit der Unterschrift bestätigt werden, verkomme nun ganz.

Nun melde die Gratiszeitung “20 Minuten in ihrer Online-Ausgabe, das Referendum zur Personenfreizügigkeit, an dem sich mitgliederstarke Organisationen wie SVP und AUNS nicht beteiligten, sei nicht nur dank der Sammelkunst von Lega, Schweizer Demokraten und Junger SVP zustande kommen. Wesentliches beigetragen hätten auch online-Plattformen wie “Facebook”.

Lukas Reimann bestätigt: «Ohne Facebook hätten wir wohl nicht genügend Unterschriften zusammengebracht», Mitinitiant des Referendums gegen die Personenfreizügigkeit, unumwunden zu. Es seien mehrere Tausend Download-Unterschriftenbogen eingereicht worden. «Über Facebook und unsere Webseite konnten wir zudem spontane Unterschriftensammlungen organisieren.» Daran beteiligten sich laut Reimann auch Personen, welche sich vorher nie politisch betätigt hatten.

Die Reaktion der Behörden
Darauf reagiert nun die Bundeskanzlei. Denn sie hat beobachtet, «dass Referenden immer schneller zu Stande kommen – auch wenn nur ein virtuelles Komitee dahinter steht», erklärte Bundesratssprecher Oswald Sigg heute gegenüber 20 Minuten Online. Mögliche Massnahmen sei die Erhöhung der Unterschriften oder eine Verkürzung der Sammelfristen.

Sigg begründet das wie folgt: «Anonymität ist in der ursprünglichen Anlage der direkten Demokratie nicht enthalten.» Würden Unterschriften ganz über Online-Plattformen gesammelt, verschwinde sowohl die öffentliche wie auch die direkte Debatte zwischen Befürwortern und Gegnern, zwischen AktivistInnen und BürgerInnen.

Vorsicht vor Verkürzungen
Das Thema ist ernst, ohne ganz neu zu sein. Denn auch die Bezahlung von UnterschriftensammlerInnen, die nicht aufgrund ihrer Ueberzeugung, sondern wegen des Geldes die nötigen Signaturen beibringen, entspricht nicht dem direktdemokratischen Ideal. Sie ist aber erlaubt. Und viele Komitees, die Erfahrungen mit Unterschriftensammlungen haben, geben hinter vorgehaltener Hand zu: Auf der Strasse bringt man nur eine Minderheit von Unterschriften zusammen. Adresskarteien mit unterschriftswilligen BürgerInnen sind heute wichtiger. Und verwendete man schon vor dem Internetzeitalter, um mittels Postwurf Volksrechte zu lancieren.

Schlimmer noch: Verkürzt man die Sammelfrist, werden alle Organisationen, die Volksrechte nutzen wollen, gezwungen sein, unerwünschte Methoden anzuwenden, um zum Ziel zu gelangen.

Claude Longchamp