4 Szenarien für die anstehenden Bundesratswahlen

“Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt!”, lautet eine Volksweisheit. Das beherzigend, verzichte ich auf eine Prognose zu den anstehenden Bundesratswahlen. Dafür skizziere ich hier meine vier Szenarien, von denen jedes etwas an sich hat. Konkreter werde ich heute Abend in einem Vortrag vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft in Bern.

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Erstens, der Status Quo: Der neue Bundesrat wäre demnach, parteipolitisch gesprochen, der alte. Die Vakanz auf dem SP-Sitz von Micheline Calmy-Rey wuürde durch eine Vertretung der SP aus der Romandie ersetzt. Vorteil dieses Szenarios ist die personelle Stabilisierung des Bundesrates, der in den letzten 4 Jahren fast vollständig ausgewechselt worden ist. In vier Jahren kann man besser beurteilen, ob sich auch die BDP weiter etabliert hat und zu einer vergleichbaren Kraft geworden ist wie die FDP oder die CVP, und ob der Taucher der SVP bei der jüngsten Wahl mehr als eine Episode war. Je nachdem kann man dann verbindliche Entscheidungen, etwa im Sinne von Szenario 2 oder 3 treffen. Klar ist, dass die SVP mit diesem Szenario nicht zufrieden sein kann und der Machtkampf zwischen ihr und den anderen Parteien andauern wird. Immerhin, die Partei bekäme so die Chancen, einen oder zwei ausgewiesene und breit akzeptierte Bundesratskandidaturen aufzubauen. Selbstredend hat vor allem die BDP ein Interesse an dieser Perspektive, auch wenn man die neue Regierung nur noch beschränkt nach dem Konkordanzmuster hergestellt kritisieren würde.

Zweitens, die Rückkehr zur Zauberformel: BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf würde dem neuen Bundesrat nicht mehr angehören. Da sie ihre Kandidatur angemeldet hat, wird sie in dieser Perspektive abgewählt. An ihre Stelle tritt sofort ein Politiker der SVP. Der Vorteil dieser Variante ist evident: Die Grösse der Parteien würde zum entscheidenden Kriterium für die Zugehörigkeit im Bundesrat. Indes, die vier Parteien sind nicht mehr die gleichen wie 1959, als man die Formel begründete. Und damals wurde sie eingeführt, um die Vorherrschaft der FDP/SVP von Mitte/Links her zu brechen. Jetzt wäre es ziemlich anders, denn die SVP und FDP erhielten im Bundesrat ein Mehrheit. Das führt zur Schwäche der Variante: Beide Parteien verfügen weder im Parlament noch in der Bevölkerung über eine Mehrheit; sie könnten aber den beschlossenen Ausstieg aus der Atomenergie empfindlich bremsen. Zudem würden ausgerechnet die beiden grössten Wahlverlierer in der Regierung gestärkt. Unzufrieden wären die Linksparteien und die UmweltschützerInnen. Interessiert an dieser Variante sind die SVP und die FDP.

Drittens, die Etablierung der neuen Mitte zwischen den Polen: In diesem Szenario bleibt BDP-Bundesrätin Widmer-Schlumpf in der Bundesregierung. CVP, BDP und GLP treten in eine lockere Fraktionsgemeinschaft ein. Sie bleiben eigenständige Parteien, die je eine Fraktion bilden. Sie bilden aber ein übergeordnetes Gremium, das mit einem qualifizierten Mehr übergeordnete Standpunkte diskutieren und beschliessen kann, die für alle drei Fraktionen Gültigkeit bekommen. Gemeinsam melden sie den Anspruch auf zwei Sitze im Bundesrat an, welche das Zentrum abdecken – und zwar zu Lasten der FDP, die als Mitte/Rechts-Partei eine Sitz verlöre. Zur Hälfte ist dieses Szenario gleich wie das zweite; die SVP erhielte als grösste Partei der Schweiz zwei Sitze. Allerdings würde dies nicht gegen Bundesrätin Widmer-Schlumpf gerichtet sein, sondern gegen Johann Schneider-Ammann. Vorteilhaft wäre, dass die Zusammensetzung den Kräfteverhältnissen unter den Bundeskuppel angepasst würde. Nachteilig selbstredend, dass nach der SVP auch die FDP an der Konkordanz Zweifeln würde. Nutzniesser dieser Variante sind letztlich alle – ausser der FDP.

Viertens, jeder gegen jeden: Auch in diesem Szenario kommt es zur Wiederwahl der BDP-Bundesrätin Widmer-Schlumpf. Danach brechen aber alle Dämme. Die SVP attaktiert erfolgreich die FDP. Johann Schneider-Ammann würde aus dem Amt gedrängt, indes erneut kandidieren, und zwar im letzten Umgang als Nachfolger für SP-Bundesrätin Calmy-Rey. Hier würde er reüssieren. Die so ausgelösten Turbulenzen sind das Ende des Wiederbelebungsversuch der Konkordanz. Die Regierung wäre weniger aus Strategie entstanden, eher als Unfall. Sie würde einzeln zum Parlament passen, gesamthaft aber nicht. Mit einer erhöhten Diskussion über die Wahl des Bundesrates, sei es aus einer Volkswahl heraus oder aber mit einer Listenwahl im Parlament, wäre zu rechnen. Geführt würde die Debatte kaum mehr von der SVP, dafür von der SP und der GPS und vielleicht auch der GLP, welche die Zeche bezahlen würden. Mit Instabilitäten der Regierung wäre zu rechnen, mit Protesthaltungen aus der Romandie aus. Gewinnerin dieser Wahl wäre das bürgerliche Lager, das so vielleicht wieder zusammen finden würde – allerdings zu Lasten eine Variante, die man nicht mehr konkordant bezeichnen könnte.

Und zum Schluss noch dies: Vielleicht kommt es noch mehr anders, als man denkt. Dann zum Beispiel, wenn die Reihe der Wahlen nicht nach der Anciennität erfolgen würde, sondern im offenen Kampf. Das würde mit Sicherheit zu einer neuen Regierung führen. Sie hätte, genau wie das Verfahren, wohl den Mackel, unberechenbar zu sein.

Claude Longchamp

Kein Tag für die FDP bei den Ständeratswahlen

Heute ging die erste Staffel an Stichwahlen für den Ständerat über die Bühne. In Schaffhausen wurde der parteilose Thomas Minder gewählt, im Thurgau die biserhige CVP-Nationalrätin Brigitt Häberli und die Waadt bestätigten die beiden bisherigen Géraldine Savary von der SP und Luc Recordon von der GPS.

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Zwischenstand bei den Ständeratswahlen: Die SP gehört dank dem Sitz von Pascale Bruderer auf jeden Fall zu den Gewinnerinnen.

Es war keine Tag für die FDP. Im Kanton Schaffhausen misslang das Unterfangen, den Ständeratssitz über den Rücktritt des Bisherigen hinaus zu halten. Angetreten war man mit dem Kantonalpräsidenten. Ergeben hat sich ein letzter Platz, selber hinter dem SP-Herausforderer. Thomas Minder, der Quereinsteiger ohne genau Fraktionsaussage, wurde gewählt.
Im Thurgau wähnte die ihren Kandidaten in der Poleposition, weil die mächtige SVP ihn empfahl. Noch heute morgen frohlockte die Online-Ausgabe der NZZ, der CVP-Sitz wackle erheblich. Schliessich gab es eine klare Niederlage gegen die Vize-Präsidentin der CVP-Fraktion, die erste Thurgauer Standesfrau wurde.
Nicht wirklich besser erging es der FDP in der Waadt. In der ersten Runde mit zwei Bewerbungen unterwegs, konzentrierte sich das Interesse im zweiten Wahlgang auf die Chancen von Isabel Moret. In der Tat lag sie am Ende vor Guy Parmelin von der SVP, aber einiges hinter der Barriere, die man rechts am liebsten gemeinsam durchbrochen hätte, um den Kanton Waadt im Stöckli bürgerlich zu vertreten.

Die drei Wahlen zeigen Gemeinsames im Verschiedenen: Politisches Entrepreneurship gibt es, wie Thomas Minder ausdrücklich zeigt, weiterhin, und es ist bei Wahlen auch unverändert gefragt. In der FDP ist es aber vielerorts nicht mehr zuhause, denn da regiert die direkte Interessenvertretung, zu wenig die Lösung kontreter Probleme, welche die Gesellschaft bewegen. In der Ostschweiz hat dies zu einem bedenklichen Substanzverlust bei der FDP geführt. Neu ist die FDP in Schaffhausen, aber auch im Thurgau nicht mehr im Bundesparlament vertreten. In Graubündung und Glarus gibt es zwar noch FDP-Standesherren, aber keine Volksvertreter mehr. Einzig in St. Gallen und Appenzell Ausserrhoden hat die FDP eigene VertreterInnen in beiden Kammern der Bundespolitik. Hauptgrund sind das mittelfristige Erstarken der SVP, welche die national gesinnten, konservervativen Kräfte sammelte, und das Auftreten neuer Parteien, welche die Mitte gestalten, in der Ostschweiz allen voran die GLP, welche neuerdings Wählende der FDP, die ins Zentrum neigen, ansprechen können.
Etwas anders sind die Verhältnisse in der Westschweiz. Das Zusammengehen der ehemaligen Liberalen und Radikalen bringt nicht nur Erfolge, sondern auch Herausforderungen. 1 und 1 gibt, in der Politik jedenfalls, nicht einfach 2, denn Parteifusionen müssen verarbeitet werden, bis sie Früchte tragen. Die FDP.Liberalen sind zwar so an einiges Orten wieder erste bürgerliche Kraft geworden; die weiterhin zwischen liberalen und konservativen fragmentierte Rechte ist aber nicht stark genug, um bei Majorzwahlen die koordinierte Linke zu schlagen. Das wurde im Kanton Genf schon im ersten Wahlgang zu den Ständeratswahlen klar; der Kanton Waadt doppelte heute in der Stichwahl nach. Denn in beiden Kantonen ist die Vertretung im Stöckli rotgrün geprägt – bisher und inskünftig.

Wer der Gewinner des Tages ist, bleibt vorerst offen. Denn Thomas Minder wird sich, um sich effektiv einbringen zu können, einer Fraktion anschliessen müssen. Selber schwankt er zwischen GLP und SVP, sodass sich beide Parteien bemühen werden, den Neuling wenigstens in die Parlamentsgruppe aufnehmen zu können. Ihre Besitzsstände wahren konnten heute die SP, die CVP und die GPS, was mit Blick auf die Bundesratswahlen nicht unerheblich ist. Die Verliererin des Tages ist die FDP, die nicht vorwärts, wie sie hoffte, sondern rückwärts machte. Selbst wo sie sich, wie im Thurgau, an die SVP anlehnte, schaffte sie den Durchbruch nicht. Und wo, wo sie, wie in Schaffhausen, das lokale Gewerbe in der Bankendebatte verärgerte, bezahlte sie gar die Wahltagsrechnung ganz alleine.

Claude Longchamp

Ständeratswahlen im Kanton Bern: Was bisher geschah, und was noch geschehen könnte

Der zweite Wahlgang zu den Ständeratswahlen rückt näher. Damit steigt auch das Interesse, was man aus dem ersten lernen könnte. Eine Auslegeordnung

Die Bund-Auszählung mit einer Gemeinde
Der heutige „Bund“ bringt eine auffällige Grafik zum ersten Wahlgang der Ständeratswahlen im Kanton Bern. Sie zeigt wie die Wählenden der 5 hauptsächlichen Kandidaten die zweite Linie besetzt haben.

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Jene von Adrian Amstutz wollten am häufigsten, die Chancen ihres Favoriten optimieren. Sie liessen mehr als die Wählenden der anderen Bewerber die zweite Linie leer. Gut funktioniert hat das linke Bündnis. Klare Mehrheiten der Wählenden von Hans Stöckli und Alec von Grafenried haben als zweites den anderen Kandidaten der rotgrünen Partners aufgeschrieben. Von einem Bündnis auf bürgerlicher Seite kann man nicht wirklich sprecehn. Die Grafik und der Artikel suggerieren: Die SVP leihte Stimmen, bekam sie aber nicht zurück.

Wieso weiss der “Bund” das? – Die Methode hinter dem Artikel ist originell. Man hat effektive Wahlzettel ausgewertet – etwas, das bisher wenig üblich war, aber im Kommen ist. Die getroffene Auswahl ist allerdings höchstens exemplarisch. Ausgezählt wurde in einer Gemeinde eine Stichprobe von 1800 Zetteln. Welche es war, erfährt man nicht. Obwohl alle Halbeingeweihten auf Bolligen tippen.


Die gfs-Analyse mit allen Gemeinden

Eine etwas andere Auswertung unseres Instituts mit einer anderen Methode, aber in allen Gemeinden vorgenommen, kommt zu differenzierteren Schlüssen:

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Erstens, die Positionierung Kandidaten aufgrund der Stimmenprofile legt die gleiche Rechts/Links-abfolge nahe: Amstutz, Luginbühl, Wasserfallen, Stöckli und von Graffenried. Die KandidatInnen unterscheiden sich aber auch hinsichtlich der Gemeinden, die ausgesprochen liberal sind. Da führt Wasserfallen knapp vor Luginbühl und deutlich vor Graffenried, während Amstutz und Stöckli hinten sind. Amstutz ist da zu rechts-konservativ und Stöckli zu links-etatistisch.

Zweitens, bestimmt man die Distanz der KandidatInnen untereinander auf beiden Dimensionen bestätigt sich der Unterschied zwischen den Lagern. Das linke hielt zusammen, das rechts nicht. Luginbühl hat sich eine eigenständige Position schaffen können, zwischen SVP und FDP. Eher differiert zu Amstutz und Wasserfallen in gleichem Masse.

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Unsere Methode erlaubt darüber hinaus, Aussagen über die Stimmenverhältnisse nach der politischen Struktur der Gemeinden zu machen:

. Amstutz, im ersten Wahlgang vorne, erreichte das absolute Mehr in den SVP-Hochburgen, in den bürgerlich geprägten Gemeinden und der FDP/BDP-Kommunen. Ein massives Problem hatte er aber in den linken Hochburgen, eingeschränkt auch in den Mitte/Links geprägten Zählkreisen. Insgesamt hat regional, nicht parteipolitisch punkten können.

. Luginbühl, am Ende Zweiter, kennt abgeschwächt das gleiche Profil. Das heisst, in den SVP-Hochburgen wurde er weniger gut gewählt als Amstutz, dafür machte er in den linkeren Gemeinden bessere Resultate. Er profitierte von den Wählenden aller KandidatInnen, tendenziell von denen, die Amstutz unterstützten am meisten.

. Stöckli, Dritter im ersten Ranking, hat ein komplementäres Profil zu seinen beiden Konkurrenten im zweiten Wahlgang. Im Berner Jura und in den linken Hochburgen lag er über dem absoluten Mehr, in den Mitte/Links-Gemeinden verpasste er dieses knapp. Dafür gibt es einen Rückgang seines Anteils in den rechteren Gemeinden. Ordentlich Stimmen machte er noch in moderat bürgerlich eingestellten Gemeinden.


Unsere Schlussfolgerungen für den zweiten Wahlgang

Unabhängig davon fragt sich: Was heisst das für den zweiten Wahlgang? – Zunächst sei erinnert, dass die Mobilisierung durch die drei verbleibenden Kandidaten entscheidend sein wird. Die Bund-Analyse abstrahiert davon weitgehend.

Sodann, Luginbühl fällt im zweiten Wahlgang wegen seiner breiten Abstützung entweder an der Sptize es Feldes, oder am Ende, wenn die Mobilisierung misslingt. Je SVP-orientierter eine Gemeinde ist, desto eher dürfte Stimmverluste geben, weil seine Partei die Avance für ein gemeinsame Sache abgelehnt hat. In den bürgerlichen geprägten Gemeinden dürfte er dafür vor allem bisherige FDP-Stimmen machen. Und er hat, nicht zuletzt wegen der Energiepolitik, eine sachpolitische Uebereinstimmung mit links, die sich im ersten Wahlgang noch nicht zeigte.

Schliesslich, Amstutz und Stöckli, die parteipolitisch profiliertersten KandidatInnen, haben zwei Optionen: Hochburgen mobilisieren oder in die Mitte Stimmen suchen gehen. Amstutz, der SVP-Hardlinie, kann Ersteres besser, wie er im Frühling zeigte. Ob es in einer tripolaren Situation für die Wahl reicht, bleibt indessen offen. Stöckli wiederum muss, wenn er gewählt werden will, ins parteipolitische Zentrum der Wählenden vorstossen. Er müsste in den Mitte/Links-Gemeinde stark aufholen und in den gemässigt bürgerlichen Gemeinden mit Luginbühl-Präferenz die zweiten Linie für sich gewinnen.

Wem was gelingt, weiss man in 10 Tagen!

Claude Longchamp

Wenn Wählende und Stimmen nicht das Gleiche sind

Man glaubt, schon alles zu wissen, zu den Wähleranteilen der Parteien nach den Nationalratswahlen. Das meiste davon ist Täuschung, behaupte ich. Denn gezählt werden Parteistimmen, nicht Wählende.

Von Aussen gesehen steht das vorläufig amtliche Endergebnis fest: Beispielsweise kam die SVP bei den Nationalratswahlen 2011 auf einen Wählenden-Anteil von 26.6 Prozent. Das entsprach einem Wählendenverlust von 2.3 Prozentpunkten.

Tabelle: Stimmenanteile der Parteien 2011 unter den Partei- und Mischwählenden

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Doch hoppla, wer genau hinsieht, merkt dass das Bild falsch ist. Die (vorläuifg) amtlichen Endergebnisse der Schweizer Parlamentswahlen nach Proporzverfahren weisen Stimmentanteile, nicht Prozentwerte der Wählendenm, aus.

In Einerwahlkreise ist dies das gleiche. Doch schon in Zweierwahlkreise und in allen grösseren Wahlbezirken muss das nicht der Fall sein. Identisch wäre es hier nur, wenn nicht panaschiert würde, das heisst nicht für parteifremde KandidatInnen gestimmt würde.

Doch das ist bei rund der Hälfte der Wählenden der Fall. Sie Wählen mit der Liste X, und sei schreiben Bewerbungen aus der Liste Y auf. Oder sie wählen mit gar keiner Parteiliste, verteilen ihre Stimmen auf Personen verschiedenster Listen.

Erst wenn die gesamten Panaschierstatistiken des Bundesamtes für Statistik veröffentlicht sein werden, wird man das genauer kennen. Heute schon können wir dies aber aufgrund der Wahltagsbefragung unseres Instituts abschätzen.

Demnach hat die SVP rund 17 Prozent Wählende, die einzig die SVP gewählt haben. Das sind die strammen Parteiwählenden. Die SVP bekam von einem weiter nicht genau bekannten Wählendenkreis zusätzlich rund 10 Prozent an Parteistimmen. Am ehesten waren das, gemäss Wahltagsbefragung, bei mehrheitlich FDP-Wählenden, gefolgt von solchen der CVP oder der SP.

Die SVP ist damit die Partei, die nicht nur den grössten Stock an Wählenden hat, die nur für ihre Partei gestimmt haben. Sie ist auch jene Partei, bei der dieser Stock, bezogen auf alle erhaltenen Stimmen, der grösste ist. 64 Prozent Prozent an allen Stimmen machen die Parteiwählenden aus, 36 Prozent stammen von Mischwählenden.

Das pure Gegenteil findet sich bei der CVP. Sie machte gemäss vorläufig amtlichem Endergebnis 12,3 Prozent der Stimmen. Reine CVP-Wählende machen nach Wahltagsbefragung knapp 6 Prozent der Wählenden aus. Den Rest der Stimmen macht die Partei vor allem bei mehrheitlichen FDP-Wählenden, gefolgt von SP-Wählenden. Die MIschwählenden ergeben 55 Prozent der schliesslichen Parteistimmen. Die nachstehende Tabelle komplettiert das Bild.

Es ist nicht meine Absicht zu verwirren. Doch geht es mir darum, die vereinfachenden Begriffe, wie beispielsweise der Wählenden-Anteil, zu hinterfragen. Wie viele Wählende mindestens eine Stimme der BDP gegeben haben, wissen wir nämlich nicht genau. Wir wissen nur, was der Stimmenteil der Partei ist, und wir können abschätzen, was die Partei- und die Mischwählenden dazu beigetragen haben.

Claude Longchamp

Die BDP bleibt gefordert

Bei der anstehenden Diskussion zur Zusammensetzung des Bundesrates geht es um zweierlei: um den Machterhalt der Bisherigen, und um die Gestalt der Regierungsbildung für die Zukunft.

Uebers Wochenende ist in Sachen Bundesratswahlen einiges in Bewegung gekommen. Klar geworden ist, dass nicht nur die SP ihren 2. Sitz verteidigt und die BDP Eveline Widmer-Schlumpf weiterhin im Bundesrat haben möchte. Ihre Ansprüche bekräftigen haben die FDP und die SVP, die je 2 Sitze wollen. Damit ist der erwartete Konfliktfall angesagt.

Einer der 8 Ansprüche für 7 Sitze wird am 14. Dezember nicht eingelöst werden können: jener der SVP, mangels einer überzeugenden Kandidatur, jener der BDP, mangels Wählerstärke der Partei, jener der FDP, wegen den Wählendenverlusten oder jener der SP, weil die Ersatzwahl für Micheline Calmy-Rey zu letzt an der Reihe ist.

Exponiert ist vor allem Eveline Widmer-Schlumpfs BDP. Zwar geniesst die Magistratin Populärität im Wahlvolk; doch wählt dieses das Parlament, nicht die Regierung. Und ihr Ruf als Finanzministerin ist unbestritten. Indes, die gut 5 Prozent ihrer Partei reichen alleine nicht aus, um einen Anspruch im Bundesrat zu begründen.

Für die BDP stellen sich aus meiner Sicht die folgenden Fragen:

. Wiederwahl der eigenen Bundesrätin und damit Sicherung des Status als Regierungspartei;
. Demonstration der Wählendenmacht in der Konkordanz und
. Wachstumschancen als Partei

Diskutiert werden aktuell 3 Szenarien: die Fusion, wie sie von der CVP Aargau ins spiel gebracht wird, die Fraktionsgemeinschaft, wie sie die GLP wünscht (und die SP unterstützt), und die Koordination der Mitte in einer Arbeitsgruppe, wie sie der BDP Schweiz vorschwebt.

Klar ist, dass die vier oben genannten Ziele mit einer Fusion nicht umfassend realisiert werden können. Die neue Kraft hätte keine Chance, sich zu bewähren und auf diesem Wege zu einer relevanten Partei aufzusteigen. Da schimmert der Wunsch der CVP, einen unliebsamen Partner zu inkorporieren zu stark durch,

Klar ist auch, dass beim Alleingang der BDP notfalls der Sitz im Bundesrat wegfällt. Das würde der Identität der Partei schaden, selbst wenn das Wachstumspotenzial genutzt werden könnte. Denn ohne sich vor der GPS platzieren zu können wäre der Anspruch, eine Regierungspartei zu sein, nicht einlösbar.

Es bleibt die Möglichkeit einer Franktionsgemeinschaft auf Bundesebene – und zwar als Zentrumsfraktion mit CVP und EVP. Zusammen käme man auf genau 20 Prozent und personell wäre man aller Voraussicht nach die zweitgrösste Fraktion. Der Anspruch auf zwei Sitze könnte problem eingefordert werden. Er liesse sich auch im Rahmen der Konkordanz begründen.

Die BDP macht es sich meines Erachtens etwas zu einfach, wenn sie alleine auf den Status Quo setzt. Das ist zwar im Normalfall das wahrscheinlichste und auch beste Szenario. Angesichts der Uebergangsphase, in er sich die Regierungsbildung seit 2003 befindet, handelt es sich nur um eine Verlängerung der Probleme. Denn benannt werden muss nicht nur, was an diesen 14. Dezember geschehen soll, sondern auch, was die Zukunft des Regierungssystems der Schweiz betrifft. Da gibt es nebst dem Machterhalt auch die Rückkehr zur alten Zauberformel und die Arbeit an einer neuen Formel, die der veränderten Lagerbildung Rechnung trägt. Ohne Arithmetik kommt man da nicht aus, nur mit Rechnerei allerdings auch nicht.

Die Fraktionsgemeinschaft auch nationaler Ebene bietet verschiedenen Beteiligten gute Aussichten: Der BDP auf Kantonsebene frei zu bleiben und damit auch wachsen zu können, bei gleichzeitiger Sicherung des Status als Regierungspartei auf Bundesebene; der Allianz, welche die Wahl von Eveline Widmer-Schlumpf ermöglichte, einer neuen Konstellation für Bundesratswahlen zum Durchbruch zu verhelfen, was zu einer Neudefinition der Konkordanzspielregeln führen könnte.

Claude Longchamp

Wer ist die BDP? – Ergebnisse und Folgerungen aus der vertieften Erstanalyse

Nächste Woche werde ich bei der BDP des Kantons Bern eine Wahlanalyse vortragen. Hier schon mal das Gerüst der Informationen und Diskussionen.

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Die BDP ist mit 5,43 Prozent unter den Wählenden die sechstgrösste Partei der Schweiz. Momentan ist sie die interessanteste. Denn sie hat einen Bundesratssitz zu verteidigen.

Die Wahltagsbefragung unseres Instituts brachte es auf den Punkt: Wer parteipolitisch ungebunden handelt, wählte diesmal überproportional BDP. Wer bis am Ende des Wahlkampfes unschlüssig blieb machte das Gleiche.
Die BDP ist nicht nur die neue Kraft im schweizerischen Parteiensystem. Sie ist auch für Unzufriedene unter den anderen Regierungsparteien zum Sammelbecken geworden – vor allem bei FDP, aber auch bei SVP und SP. Entsprechend hat man panaschiert: in fast alle Richtungen.
BDP wählte man wegen ihren Aushängeschildern und wegen der KandidatInnen. Zu allererst gilt das für Eveline Widmer-Schlumpf. In den Gründungskantonen aber auch für die Personen, die sich meist von der SVP losgesagt haben. In zweiter Linie unterstützte man die BDP wegen ihrer Grundhaltung: optimistisch in die Zukunft blickend, staatstragend, gemässigt.
Die BDP hat vor allem RentnerInnen auf dem Land angezogen. Darüber hinaus mobilisierte sie bei Jungen, bei StädterInnen. Ansonsten hat sie ein breites Profil, das eine Volkspartei – namentlich in reformierten Gebieten.
Die Wählenden der BDP sehen sich politisch im Zentrum. Ihr Standort auf der Links/Rechts-Achse ist, im Schnitt, deckungsgleich mit dem der CVP-Wählenden.
Selbstredend wollen alle, die für die BDP gestimmt haben, dass ihre Bundesrätin in der Regierung der Schweizerischen Eidgenossenschaft bleibt. Dafür haben sie im Wahlkampf gekämpft, haben sie am Wahltag gestimmt, aus tiefster Ueberzeugung oder auch aus Taktik. Vorherrschend ist der Wunsch, die SVP zu bändigen; dafür ist man bereit, auf die arithmetische Konkordanz zu verzichten.

In den ersten zwei Wochen nach der Nationalratswahl hat die neue Kleinpartei die Szenerie weitgehend beherrscht. Sie lancierte die Kandidatur ihrer Favoritin für den Bundesrat, und sie positionierte sich als selbständige Partei. Das ist im eigentlichen Sinne ein Poker, denn 5 Prozent empfehlen niemanden als Bundesratspartei. Das hat die GLP begriffen, und auch die GPS weiss darum, dass weniger als 10 Prozent einen ausschliessen, Ansprüche auf eigene Bundesratssitze zu erheben.
Numerisch ist nur eine Zentrumsallianz gross genug. Politisch ist sie vorerst aber wenig stabil. Die Holding-Diskussion vor der Wahl zeigte das exemplarisch auf. Da braucht es mehr, meiner Meinung nach eine Zentrumsfraktion, welche die nötige Stabilierung der fragmentierten Mitte – und damit der wichtigsten Neuerung dieser Wahlen – sichert.

Claude Longchamp

Auf dem Weg zu einem Bundesrat der politischen Lager

Mit der Ankündigung, sich der Wiederwahl stellen zu wollen, hat Eveline Widmer-Schlumpf den Wahlkampf um die Bundesratswahl eröffnet. Gefragt sind, wie der neue Bundesrat aussehen soll, und was die Spielregeln bei künftigen Wahlen in die Bundesregierung sein sollen. Eine Auslegeordnung, welche den vorläufigen Stärkeverhältnissen im neuen Parlament Rechnung trägt.

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Definitive Zahlen der Lager: rotgrün: 61; nationalkonservativ: 57, neue Mitte: 52; mitte/rechts: 30 Sitze

Die SVP möchte ihren zweiten Bundesratssitz zurück. Eveline Widmer-Schlumpf, will in der Bundesregierung bleiben. SP, FDP und CVP wollen keine Sitze im Leitungsgremium der Schweizer Politik abgeben. Damit sind 8 Ansprüche für 7 Sitze vorhanden.

Die Regierungskonkordanz, wie sie 1959 eingeführt worden ist, basierte auf dem Kriterium der Grösse. Relevante Parteien sollten gemäss ihrer Stärke eingebunden sein, damit der Machtkampf die Sachentscheidungen nicht lähmt. Das war ein Erfolgsmodell für die Schweiz – und es dürfte auch inskünftig eines sein.

Die Veränderungen im Parteiensystem, ausgelöst durch die fast ungebrochene Erosion der FDP und CVP auf ihren historischen Tiefststand, durch den wellenartigen Auf- und Abstieg von SVP, SP, und GPS, aber auch durch die neuen Kräfte BDP und GLP haben der Zauberformel zugesetzt. Mit der Abwahl von Ruth Metzler 2003 war der Zauber vorbei, geblieben sind verschiedene Formeln die jeder nach seinem Gusto aufbaut und auslegt.

Hinzu gekommen sind nebst der Arithmetik inhaltliche Ueberlegungen, aber auch personelle. Das alles erleichtert es nicht, einen neuen, festen Schlüssel zu entwickeln.

Zu den Neuerungen der Diskussion gehört, abgesichts volatil gewordener Parlamentswahlen, nicht mehr nur in Parteistärken zu denken, sondern Lager zu identifizieren. Diesen Gedanken habe ich am Wahlsonntag abend aufgenommen, und ein Parlament mit mehreren politischen Lagern geschildert, in dem es nicht nicht mehr die klassische Teilung zwischen bürgerlich und links gibt. Vielmehr zeichnen sich 4 Gruppen ab, mit dem

. mit dem nationalkonservativen Lager, zusammengesetzt aus SVP, Lega, MCR,
. rotgrünen Lager, bestehend aus SP, GPS
. mit der neuen Mitte, die von der CVP, BDP, GLP, EVP und CSP gebildet wird
. mit der Position Mitte/Rechts, formiert aus den fusionierten FDP und LP.

Noch ist nicht sicher, ob es drei oder vier Parteiengruppen gibt: 2010 bildete sich, vor allem aus sachpolitischen Ueberlegungen die Allianz der Mitte aus CVP und FDP, später um die Bündnispartner der CVP erweitert. Davon wolle die FDP im Wahljahr nichts mehr wissen, denn die Profilierung des Liberalen Pols war ihr wichtiger als alles andere. Dies führte auch zu einer Abgrenzung gegenüber dem nationalkonservativen Pol. Immerhin, eine Bindung an die Mitte bleibt. Im neuen Ständerat dürftenFDP und CVP über eine Mehrheit verfügen, wenn GLP und BD mitziehen.

Was heisst das für die Bundesratswahlen der nahen und weiteren Zukunft? In der “Zeit” vom letzten Donnerstag haben Michael Hermann und ich eine Auslegeordnung gemacht, die zwischenzeitlich mehrfach aufgenommen worden ist. Der rechte und der linke Pol verfügen über je 27 bis 28 Prozent Wählenden-Anteil. Die neue Mitte bringt es auf 25 Prozent. Die FDP.Liberalen auf 15 Prozent.

Die Sitzverteilung hängt von der Ausrichtung der FDP und SVP ab. Auf Dauer wird die FDP ihren zweiten Sitz nicht halten können, ohne elektoral zuzulegen. Vorübergehend ist dies denkbar, wenn die SVP sich nicht an die Regeln der Konkordanz hält, dass heisst gleichzeitige Regierungspartei sein will und Systemkritik betreibt, im gleichen Aufwisch Respekt für ihre Ideen fordert, das bei denjenigen der Partner nicht gewährt. Kurzfristig zentral wird die Positionierung in der Personenfreizügigkeitsfrage resp. zu den Bilateralen sein.

Die Zielvorstellung ist klar: Sinnvoll erscheint es, wenn Rechte und Linke je 2 BundesrätInnen bekommen. Auf der rechten Seite kommen die wohl auf Dauer von der SVP, auf der linke von der SP, solange sie doppelt so gross ist wie die GPS. Koordiniert, sodass politisch berechenbare Entscheidungen möglich werden, kann die neue Mitte einen Anspruch auf 2 Sitze anmelden, während die FDP Sonderstellung seit Verlassen der Allianz der Mitte auf einen käme. In einer engeren Allianz mit der SVP käme das Lager auf drei Sitze, ohne dass die FDP profitieren würde, und auch in einer solche mit der Mitte wäre das Ergebnis gleich.

Damit drängen sich, in Kenntnis des vorläufigen Wahlresultats, aus der Sicht der Lagerbildung für die kommende Legislatur eine Verteilung von 2 SVP, 2 SP, 1 FDP, 1 CVP, 1 BDP auf, allenfalls vorübergehend 2 SP, 2 FDP, je 1 SVP, CVP und BDP auf. Erstere ist artihmetischer und wünschbarer, letztere bedingt keine Abwahl, was auch ein Vorteil ist. Beiden ist eigen, dass sie in einem zentralen Dossier des Wahljahres, der Kernenergie, Stabilität auf Regierungs- und Parlamentsebene sichern.

Das Ziel bleibt, eine Formel für eine Regierungszusammensetzung zu haben, welche der Neuaufteilung der politischen Lager nach der Ueberwindung der einfachen Bi-Polarität zwischen bürgerlich und links Rechnung trägt, die neue Mitte würdigt wie die Pole, Dauerhaftigkeit vespricht, auch wenn sich die Wählendenteile in den Lagern weiterhin bewegen.

Claude Longchamp

Analyse der und Ausblick auf die Zürcher Ständeratswahlen

Der politische Klimawandel mache sich auch bei den Zürcher Ständeratswahlen bemerkbar, schreibt Peter Moser, Chefanalyst beim kantonalen Statistischen Amt. Denn zweite Wahlgänge für beide Sitze sind in Zürich ungewöhnlich. Umso interessanter sind Analysen des ersten Umgangs wie die gestern veröffentlichte Studie .

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Wenn es um parteitreues Wählen bei den jüngsten Ständeratswahlen geht, ist die SVP unübertroffen. Von den 100 Prozent Stimmen, welche die SVP-Wählenden mit ihren zwei Linien abgeben konnten, gingen 41 Prozent an Christoph Blocher, 41 an niemanden, und 18 Prozent an andere KandidatInnen, die meisten davon an Felix Gutzwiller.

Wer nicht so geübt ist, das zu interpretieren, lese das Ergebnis der Studie vom Statistischen Amt wie folgt: Geschätzte 82 Prozent der SVP-Wählenden (2×41%) haben Christoph Blocher aufgeschrieben. Bei 36 Prozent figurierte ein anderer Namen drauf – zum Teil neben Blocher, zum Teil als Alternative zu Blocher. Ebenfalls 82 Prozent füllten nur eine Linie aus. Diener fand sich auf 30 Prozent der GPS-Wahlzettel, Hardegger indessen fast nicht.

FDP, GLP und GPS wählten sehr treu für ihre KandidatInnen Felix Gutzwiller, Verena Diener und Balthasar Glättli. Leere Linien hatte es aber klar weniger als bei der SVP. Die Studie legt nahe von 12 bis 20 Prozent auszugehen. Bei der SP fand Bewerber Hardegger keine einhellige Zustimmung. Etwa 70 Prozent der SP-Wählenden gaben ihm ihre Stimme. Dafür liessen sie zu 30 Prozent eine Zeile leer.

Bei den Kleinparteien in der Mitte gibt es keine wirkliche Parteitreue. Maja Inglold dürfte sich zu 54 Prozent auf den Zettel befunden haben, die von EVP-Wählenden stammten. Bei Urs Hany weist die Studie eine Werte von 38 Prozent für die CVP-Wählenden aus. Nicht bestimmbar ist dieser Koeffizient bei den BDP-Wählenden, die keinen eigenen Ständeratskandidaten zur Verfügung hatten. BDP und CVP wählten am ehesten Gutzwiller und Diener, die EVP votierte überwiegend nur für letztere.

Natürlich, das alles sind “nur” Schätzungen. Schätzungen allerdings, die Politikwissenschafter Peter Moser beherrscht wie kein anderer. Sie überzeugen nicht nur Statistiker, auch für die Theorie geben sie etwas her. Ueber den Bericht des Statistischen Amtes hinaus interpretiere ich das wie folgt:

Die Parteiwählerschaften der grossen Parteien stimmen zuerst aus Ueberzeugung. Sie geben ihre erste Stimme der Partei-eigenen Kandidatur. Bei der FDP, der GP und GLP war das annähernd geschlossen der Fall. Bei der SVP und der SP überwiegend. Nicht belegen lässt sich das für EVP und CVP, allenfalls weil die Aussichten der eigenen Bewerbungen, gewählt zu werden, gering waren.

Mit der zweiten Linie wird taktiert. Bei der SVP in dem Sinne, dass man sie leer lässt, um die Konkurrenz nicht zu fördern. Bei allen anderen Parteien, um die Chancen der verschiedenen KandidatInnen zu befördern. Dabei gibt es zwei Muster: entweder die Bisherigen zu stärken, oder die Wahl der parteinahen zu befördern. Allenfalls überlagert sich beides. So gab es bei der SP eine taktische Unterstützung für die GPS, bei der aber für die GLP, genauso wie bei der FDP, während diese für die GLP optierte.

Den Schluss Mosers, Ständeratswahlen würden zunehmend durch Parteiüberlegungen geprägt, ist an sich richtig. Seine Studie lässt aber einen prägnanteren Schluss zu: Zuerst wird gemäss Parteiraison gestimmt, dann nach Wahlchancen. Bisherigen haben einen Vorteil vor allem im Zentrum, während an den Polen die Block- oder Parteiwahl im Vordergrund steht.

Was nun heisst das für den zweiten Wahlgang? FDP und GLP werden wieder das Rückgrat für Diener und Gutzwiller bilden. CVP, BDP und EVP dürften sich dem mehr oder minder anschliessen. Bei den linken hat Diener klar besserer Chancen Stimmen zu machen. Gutzwiller wiederum wird bei der SVP sehr klar vor Diener liegen. Aufsummiert sind die Wahlchancen für Verena Diener die besten, während Gutzwiller vor Blocher sein dürfte.

Claude Longchamp

Wo die SVP verliert, wo sie gewinnt – und was man daraus schliessen kann

Die SVP verlor bei dieser Nationalratswahl erstmals wieder ein Wahl. Was könnten die Gründe sein? Hier meine ersten Arbeitshypothesen.

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Beginnen wir mit dem Kanton Baselland. Da erreichte die SVP 2011 26.9 Prozent WählerInnen-Anteil. Das ist praktisch der gleiche Wert wie für die SVP Schweiz. Denn der ist neu bei 26.6 Prozent. Das ist nicht zufällig. Denn die Trends in diesem Kanton war in den letzten 12 Jahren ein zuverlässiger Indikator für die Entwicklung der Gesamtpartei.

Ueberblickt man alle Kantone, wird die Analyse diesmal komplizierter als auch schon. Denn es stehen neutralisieren sich Trends und Gegentrends.

Im Tessin, im Jura und im Wallis legte die SVP auch 2007 an WählerInnen-Stärke zu. Wachsen konnte sie diesmal auch in Obwalden. In Nidwalden machte sie einen grossen Sprung nach vorne, da sie 2007 nicht kandidierte. In den Kantonen Freiburg, Waadt, Luzern und Schaffhausen hielt die Partei. Teils herbe Verluste gab es für die SVP gab es in den übrigen Kantonen.

Was sind die Gründe für das Ueberwiegen des Rückgangs? Ich wage hier mal drei Arbeitshypothesen:

Erstens, gerade in den neuen Hochburgen wie Schwyz, Thurgau, Aargau, St. Gallen und Zürich entwickelte sich die Mobilisierungsfähigkeit der SVP zurück. Das löste insgesamt einen Rückgang von gut 1.5 Prozentpunkte aus.
Zweitens, markante Verluste kannte die SVP vor allem dort, wo die BDP aus der Abspaltung von der SVP entstanden ist. In Glarus kandidierte die SVP gar nicht mehr. In Graubünden erstand sie zwar neu auf, aber nicht mehr in der alten Grösse, und auch in Bern verlor sie, wenn auch etwas weniger krass. Zusammen bringt das gut 1 Prozent Verlust.
Drittens, eindeutig ist der Rückgang auch in Genf, wo sich rechts der SVP mit dem Mouvement Citoyen Genevois eine neue Bewegungspartei platzieren konnte. Der Effekt auf das nationale Ergebnis bleibt mit rund einem Promille eher unwichtig.

Geringer als von der SVP erwartet, fielen die Verschiebungen in der Innerschweiz und in der Romandie aus. Plus und Minus halten sich in etwa die Waage. Das hat seinen Grund: Die Attraktivität der SVP für Wechselwählende ist weitgehend rückläufig. Nur rund um aussichtsreiche Kandidaturen kann die Partei da noch hinzugewinnen.

Was davon war im Voraus absehbar? Ausser dem ersten Punkt war es. Denn die lokalen Konkurrenzsituationen mit neuen Parteien zeigten sich bereits in den kantonalen Wahlen. Zudem wurde in verschiedenen Wahlbarometer-Befragungen deutlich, dass die Wechsler-Attraktivität rückläufig war; Kleinparteien, die man hätte beerben können, gibt es nicht mehr, und enttäuschte FDP- und CVP, die hätten gewonnen werden können, sind kaum mehr zu finden.

Nicht wirklich vorhersehbar war der Einbruch in der Mobilisierung in den Hochburgen, denn der entsteht immer erst aus der Dynamik einer Kampagne selber. Diese funktionierte, wenn auch abgeschwächt, kantonal noch. Erstes, aber auch einziges Zeichen einer Wende waren die Zürcher Wahlen im Frühling, wo die Partei erstmals in einer der neuen Hochburgen eine Niederlage einfuhr.

Nicht alles, aber einiges spricht dafür, dass mit der Wahl 2011 der Wendepunkt national erreicht ist. Partei(ab)spaltungen sind immer ein Indiz dafür, dass die inneren Erfolgsfaktoren auslaufen. Denn wenn Teile der Parteieliten eigene Wege gehen, statt auf einer allgemeinen Erfolgswelle reiten, bricht das die Dynamik, die aus einer Partei selber herauswächst. Das hat die SVP selber unterschätzt, nicht zuletzt wegen der Erfolgen auf kantonaler Ebene in Bern, die aber nicht einfach wiederholbar sind.

Umgekehrt kann man sagen, dass eine verringerte Mobilisierung auf hohem Niveau auf eine Stagnation äusserer Erfolgsfaktoren verweist, etwa, dass die Grossereignisse in einer Kampagne nicht mehr dominant von der SVP gesetzt werden können. Der Punkt bleibt meines Erachtens weich. Denn da müssen sich nur wenige Parameter ändern, und die Entwicklung geht in die eine oder andere Richtung. Aus der Erfahrung heraus hängt diesbezüglich vieles vom Geschick eines überragenden Kommunikators ab.

Claude Longchamp

Bilanz zum neuen Parteiensystem aus der Wahltagsbefragung

Die neue Mitte ist das Hauptphänomen der Nationalratswahlen 2011. Gebildet wird sie aktuell durch CVP, GLP und BDP. Zusammen sind die drei Parteien von 16 auf 23 Prozent Wähleranteil angestiegen. Verringert hat sich das Gewicht links von ihr um rund 2 Prozentpunkte, rechts von ihr um rund 5 Prozentpunkte.

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Vor allem im Langfristvergleich fällt die Neuerung auf. Waren alle nationalen Wahlen seit der “historischen” EWR-Entscheidung vom 6.12.1992 durch die Polarisierung, seit 2003 auch durch eine Rechtsentwicklung gekennzeichnet, hat das Pendel diesmal umgeschlagen: Die Rezentrierung ist das aktuelle
Kennzeichen.

Dafür spricht nicht nur das Wahlergebnis. Auch die Wahltagsbefragung charakterisiert die meisten Wählerströme durch die neue Tendenz. BDP und GLP sind Magnete für WechselwählerInnen geworden. Je unvoreingenommener der Parteientscheid 2011 gefällt wurde, desto grösser ist die Chance, dass man sich für eine der beiden Parteien entschied. Beide Parteien waren auch für Wechselwählende attraktiv. Das alleine erklärt die Veränderungen der Parteistärken noch nicht. Hinzugerechnet werden müssen auch die Mobilisierungseffekte. Diese zeigen, dass vor allem die GLP für die Neumobilisierten attraktiv war.

Der Wandel der Grosswetterlage von der Polarisierung zur Harmonisierung lässt sich auch anhand der Position der Parteien auf der Links/Rechts-Achse ablesen. Erstmals ist die Distanz zwischen SVP einerseits, SP und GPS anderseits nicht mehr gewachsen; sie hat aber auch nicht abgenommen. Die neuen Parteien entstanden nicht durch die Wählenden der klaren Pole, eher durch jene mit gemässigten Positionen leicht links oder rechts der Mitte, die sich von diesen Polen abwandten.

Die Themen- und Werteausrichtung der GLP überzeugt die neue Wählerschaft der Partei am meisten: Mit der Kernenergiedebatte nach dem Unfall in Fukushima hat die Partei nicht nur ihr Thema gefunden, sondern auch ihre Rolle als Vermittlerin im Parteiensystem. Das wirkte namentlich auf bisherige WählerInnen von FDP und SP anziehend aus. Besonders attraktiv ist dies für Wählende aus dem urbanen Gebiet, für Angehörige der oberen Mittelschichten und für jüngere Wählende.

Bei der BDP sind die Personenausrichtung und die Grundhaltung der Partei wichtig. Thematisch ist die zweite neue Partei noch weniger profiliert. Gewählt wurde sie wegen den KandidatInnen, die für die „Neue Kraft“ stehen, und selbstredend wegen der Bundesratsfrage. In der Grundhaltung ist man für eine vermittelnde, staatstragende Sicht auf die Dinge aus. Das hat sich auf frühere Wählende von FDP, SVP und SP positiv ausgewirkt. Es hat der Partei vor allem im Segment der RentnerInnen stimmen gebracht, aber auch bei jungen Wählenden ohne bisherige Parteipräferenz. Sie tendiert dazu, in verschiedenen Städten zur Alternative zur FDP zu werden, während sie auf dem Land teilweise die SVP herausfordert.

Die SVP verlor bei dieser Wahl, weil sie den gewohnten Spannungsbogen, den sie in die Politik und die Wahlkämpfe brachte, nicht mehr im gleichen Masse entwickeln konnte. Das zeichnete sich mit der Kontroverse um den Kampf gegen Personenfreizügigkeit ab, die bis in die Partei hinein wirkte. Vernachlässigt hat die SVP auch die Themenarbeit in Wirtschaftsfragen, die gerade mit dem starken Franken von Belang wurden. Entscheidend blieb, dass trotz des Versuchs, den eingespielten Dreh in der Kampagne zu imitieren, die gewohnte Schlussmobilisierung ausblieb. Massgeblich war, dass die Polarisierung von rechts nicht mehr verstärkt werden konnte. Stark zurück entwickelt hat sich auch die Attraktivität der SVP für Wechselwählende, Gegenüber keiner anderen Partei hat die SVP heute eine positive Wanderunsbilanz. Gegenüber der BDP ist diese sogar negativ.

Die FDP hat ein Positionierungsproblem. Die hat die Abwanderung von Wählenden nach rechts zwar stoppen können. Sie konnte indessen nicht verhindern, dass die Front zur Mitte bröckelt. BDP und GLP sind zur Konkurrenz geworden. Der Fukushima-Effekt ist hier von Belang. Vermuten kann man auch, dass die verschiedenen Positionswechsel zur inneren Demobilisierung beigetragen haben.

Dies ist auch bei der CVP das entscheidend. Dank der Mitte-Position konnte die CVP Abwanderungen zu anderen Parteien gering halten, nicht aber die bisherige Wählerschaft mobilisieren. Ihr Problem besteht darin, dass das weltanschauliche Fundament im Christentum kaum mehr trägt, die Stil- und Personenorientierung überhand nehmen, und die Wählenden ohne Probleme auch Kandidaturen anderer Parteien berücksichtigt, selbst wenn das der Partei an Stimmkraft kostet.

Die GPS kann das grüne Potenzial nicht mehr für sich allein beanspruchen, denn die GLP ist zur Konkurrentin geworden. Elektoral ist das nicht einmal das Entscheidende, denn die GPS verlor in erster Linie wegen der inneren Demobilisierung. Unter den Verbliebenen macht der Anteil weltanschaulich gebundener WählerInnen eine Proportion wie in keiner Partei aus, was dafür spricht, die konkrete Themenarbeit künftig wieder mehr zu pflegen, und die Offenheit der Partei zu erhöhen.

Die SP hat ihre Position neu bestimmt, klar auf den linken Pol gezielt, um verbessert mobilisieren zu können. Das scheint ihr auch einigermassen geglückt zu sein, allerdings mit dem Preis verbunden, dass es Abwanderungen zu anderen Parteien gegeben hat, die entweder klar ökologischer oder deutlich moderater positioniert sind. In der Romandie ging das Rezept auf, in der deutschsprachigen Schweiz kaum.

Auch wenn die Polarisierung mit ihrer positiven Wirkung auf die Wahlbeteiligung an ihre Grenzen gestossen ist, die Wahlbeteiligung ist 2011 erneut gestiegen. Man kann davon ausgehen, dass heute ein Sockel von 42 bis 43 Prozent besteht, der sich mehr oder weniger fest ins Wahlgeschehen eingebunden fühlt. Gegenüber den letzten Wahlen hat er zugenommen. Darüber hinaus kommt es darauf an, wer neu mobilisiert wird und wohin diese Wählenden gehen. In dieser Hinsicht besteht eine Änderung gegenüber 2007. Die Neuwählenden ziehen heute die Mitte vor, während die gewohnte Supermobilisierung der SVP weitgehend ausgeblieben ist.

Claude Longchamp