Bundesratsthermometer ohne nachvollziehbare Grundlage

“31 Prozent Stimmen für Urs Schwaller”, das ist das Hauptergebnis des “Wahlbarometers” auf dem “Newsnetz”. Der Freiburger Ständerat führt damit das Feld der möglichen Nachfolger von Pascal Couchepin recht klar an. Doch kann er sich darauf irgend etwas einbilden? Nein, füge ich bei und begründe es auch gerne.

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Seit einem Monat läuft auf der Internetplattform der grossen Zeitungsverlage in der Schweiz ein Online-Befragung, wen man am liebsten als Nachfolger von Pascal Couchepin im Bundesrat hätte. Der CVP-Kandidat Urs Schwaller startete gut, wurde in der Folge aber von Fulvio Pelli überholt. So rasant dessen Aufstieg war, so klar wurde er in der Folge auch wieder auf die Plätze verwiesen. Die Gewinner der vierten Woche sind denn Schwaller von der CVP und Broulis von der FDP.

Ganz falsch erscheinen mir die groben Trends dieser Temperaturmessung nicht. Sie spiegeln die dominante Polarität zwischen FDP und CVP in der Nachfolgediskussion, und sie zeigen, dass die verschiedenen Kandidaten aufgrund unterschiedlicher Ausgangslage verschiedene Taktiken verfolgen.

Darüber hinaus kann der Barometer aber kaum Anspurch auf Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse beanspruchen. Sie stehen in erster Linie für die Teilnehmenden an der Online-Umfrage, ohne Anspruch auf Repräsentativität.

Dafür bräuchte es eine Definition der Teilnahmeberechtigten. Diese ist bei offenen Online-Umfragen nie gegeben. Dann wäre auch eine Stichprobenbildung von nöten, die allen Berechtigten die gleiche Chance einräumen würde. Auch bei diesem Kriterium versagen Umfrage auf e-Plattformen kläglich. Schliesslich müsste gewährleistet sein, dass jede Personen je ausgewiesenem Zeitintervall nur ein Mal gewählt würde. Selbst diese einfache Vorgabe ist beim Wahlbarometer auf Newsnetz nicht gewährleistet.

Andere Umfragen dieser Art stellen wenigstens das klar: Sie erheben keinen Anspruch auf Repräsentativität. Die Verwendung des Titels “Wahlbarometer” suggeriert zudem, wie das “Wahlbarometer” der SRG SSR idée suisse vor Nationalratswahlen verallgemeinerungsfähige Aussagen über den (jeweiligen) Stand der Meinungsbildung zu liefern.

Vor Fehlschlüssen wird gewarnt!

Claude Longchamp

politReport spiegelt die Schweizer e-Medien

“Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der häufigst zitierte Politiker im ganzen Land?” So etwa lautet das Motto des neuen politReport zur Schweizer Politik im Internet.

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Präsenz der BundesratskandidatInnen in den Schweizer e-Medien gemäss politreport.

Seit diesem Jahr gibt es auf dem Web eine neue Dienstleistung zu Politik und Medien. Ursprünglich für Deutschland konzipiert, existiert auch in der Schweiz ein Ableger der politReports. Seit Frühling 2009 ist die Kommunikationsagentur Furrer.Hugi&Partner in Bern Partner des Projekts, und jüngst verkündete NZZ-Online, mit politReprot zu kooperieren.

Laufend ausgewertet werden rund 800 Schweizer Online-Medien und politische Blogs. Täglich um 6 Uhr kann man den neuen Parteien-Index abrufen, welcher die e-Präsenz der schweizerischen Parteien und ihrer Präsidenten aufzeigt.

Momentan dreht sich alles um die Ersatzwahl in den Bundesrat. Das entsprechende Kandidaten-Rating belegt den Eindruck, dass es an übergeordneten Trends in der Medienpräsenz noch fehlt. Pascal Broulis, Dominique de Bumann, Fulvio Pelli und Urs Schwaller waren seit den Sommerferien die am meisten diskutierten Kandidaten. Aufgestiegen sind sie in der Zitierung mit der Ankündigung ihrer Kandidatur; doch hat sich danach keiner wirklich ganz oben halten können.

Gerne hätte man neben der Präsenz von PolitikerInnen auch eine quantitative Analyse der Bewertungen in den e-Medien gehabt. Denn das macht solche Instrumente über die eher zweifelhafte PR-Binsenwahrheit hinaus interessant, es egal sei, wie man dargestellt werde; Hauptsache man komme vor. Wie schnell Präsenz ohne eigene Botschaft die Fremdkritik entscheidend wird, musste beispielsweise Fulvio Pelli in den letzten 10 Tagen erfahren.

Claude Longchamp

Fakten zu den thematischen Positionen der BundesratsanwärterInnen

Endlich geht es nicht nur um Taktik der Parteien und Images der KandidatInnen für die Nachfolge von Pascal Couchepin; denn der Tages-Anzeiger veröffentlichte einen Positionensvergleich der FDP- und CVP-BewerberInnen aufgrund ihrer Themenpräferenzen.

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Hauptergebnis der Umfrage von sotomo bei den BundesratskandidatInnen von FDP und CVP, bei der Pascal Broulis nicht mitmachen wollte.

Wer eine restriktivere Ausländerpolitik oder dasselbe bei den öffentlichen Finanzen will, der oder die sollte sich für Christian Luscher als Nachfolger von Pascal Couchepin erwärmen. Falls die Präferenz bei einer aussenpolitischen Oeffnung, verbunden mit mehr Polizei und Armee, liegt, müsste man für Martine Brunschwig Graf optieren. Fulvio Pelli wiederum ist der Bewerber, der am klarsten für Liberalisierung im wirtschaftlichen wie auch im gesellschaftlichen Bereich steht. Dominique de Bumann ist von allem momentanen KandidInnen für einen Bundesratssitz der sozialste, befürwortet er doch einen Ausbau des Sozialstaates, während Urs Schwaller am ehesten für mehr Umweltschutz in der Schweiz steht.

Das sind Ergebnisse aus einer Umfrage der Forschungsgruppe sotomo bei den BewerberInnen für den frei werdenden Bundesratssitz. Didier Burkhalter, von vielen als eigentlicher Favorit für die Nachfolge von Pascal Couchepin gehandelt, erscheint dabei als guter Durchschnitt. Er ist sicher nicht für ökologische Anliegen gewinnbar, dafür auf ökonomische Freiheit ausgerichtet. Doch ist er nirgends top, in fast allem Fragen gut eingemittet. Nicht mitgemacht hat übrigens Pascal Broulis, der waadtländer Regierungsrat, der damit auch seine Unerfahrenheit mit der Bundespolitik kommunizierte.

Alles in allem ist Schwaller der konservativste unter den Bewerbern, Pelli der liberalste. Brunschwig Graf erscheint noch etwas mehr rechts als Luscher, während de Bumann von allen am weitesten links steht. Wer CVP-Kandidaturen unterstützt, stärkt die sozialkonservative Schweiz, wer für eine der Bewerbungen aus den Reihen der FDP.Liberalen ist, mobilisiert die rechtsliberale Schweiz.

Denn ganz so deckungsgleich, wie man in der bisher so themenfreien Kampagne meinen konnte, sind die 7 potenziellen NachfolgerInnen von Pascal Couchepin nicht.

Claude Longchamp

Der Kandidat der Medien

Fulvio Pelli profiliert sich mehr und mehr als Bundesratskandidat der Massenmedien. Mit allen Vor- und Nachteilen.

Er wolle, wenn seine Fraktion wolle. Das ist die Botschaft des FDP-Präsidenten Fulvio Pelli, die er gestern im Zusammenhang mit der Nachfolge für Pascal Couchepin im Bundesrat aussandte. Damit sagt er nicht mehr Nein, wenn auch noch nicht ganz Ja. Und brachte er sich in eine mögliche win-win-Situation: Sollte es einer der bisherigen Bewerber schaffen, war er der gute Taktiker; sollte man ihn in der Not berufen, ist der Favorit, der es richten könnte.

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Chapatte, der welsche Karikaturist, bringt es im Le Temps von heute auf den Punkt: Seit Wochen tanzt Fulvio Pelli in verschiedenartigen Piruetten rund ums Bundeshaus, und die Medien folgen ihm, dem FDP-Präsidenten, dem Schwaller-Kritiker und dem Nicht-Kandidaten, auf Schritt und Tritt.

Das alleine überrascht, denn Pelli ist, seit er an der Spitze der FDP steht, nicht eben der Medienliebling gewesen. Seine zielstrebige Arbeit, aus der Verlierer-Partei FDP wieder eine Gewinnerin zu formen, wurde medial immer wieder mit den Stimmen seiner parteiinternen KritikerInnen von der Stahlhelmtruppe torpediert. Nach der Wahlniederlage 2007 klagte man, er habe die Partei nicht im Griff, und als er seinen Vize-Noser nach ungeschickten Aeusserungen zur Pauschalbesteurung in die Wüste schickte, warf man ihm vor, alles selber bestimmen zu wollen.

Wenn er nun im Zentrum des medialen Interesses steht, dann wohl aus einem Grund: Nur zu gerne würden Verlagshäuser, Chefredaktoren und Politjournalisten die Rolle der Nominatoren bei Bundesratswahlen übernehmen. Das Volk sollte durch sie und nicht durch die Parteien in der Regierung repräsentiert werden. Diese kennen ihr Ritual, wie sie BundesrätInnen küren: Die Kantonalparteien schlagen vor, die Fraktion selektioniert, und die Bundesverstammlung bestimmt.

Pelli hält sich nicht daran, und genau das macht ihn spannend, hebt ihn ab von den Parteigängern wie Didier Burkhalter oder Martine Brunschwig-Graf. Denn es bleibt die nicht beantwortbare Frage, ob es am Schluss auch gelinge, welche die Aufmeksamkeit sichert.

Genau das kann auch ins Auge gehen. Zuerst disqualifiziert Pelli mit seinem Verhalten die übrigen Bewerbungen. Das dürfte dem Parteipräsidenten eigentlich nicht gleich sein. Und sollte er den Sprung in den Bundesrat nicht schaffen, wäre aus der formidablen Anlage eine lose-lose-Situation geworden, wohl mit Konseqenzen bis 2011.

Zufällig begegne ich auf Berns Strassen dem FDP-Generalsekretär Stefan Brupbacher in aufgeräumter Stimmung. “Es läuft gut!”, sage ich ihm. “Ja, durchaus, erhalte ich zur Antwort”. “Wird es Pelli?”, frage ich nach und habe eine perplexen Parteisoldaten vor mir: “Gerade sie sollten es doch wissen, dass es einen Unterschied gibt zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung!”

Claude Longchamp

Drei Szenarien bis zur Bundesratswahl vom 16. September 2009

Die Nachwahl für den zurückgetretenen Bundesrat Pascal Couchepin geht diese Woche in die entscheidende Runde. Es gibt drei generelle Szenarien, für das was kommt: je eines mit einem Wahlsieg von FDP resp. CVP und eines, bei dem es zu Grundsatzdebatten über eine Regierungsreform kommt.

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Die Ausgangslage
Am Montag läuft bei der FDP die Anmeldefrist für weitere Kandidaturen aus; am Dienstag erwartet man die Entscheidung des Favoriten bei der CVP. Demnach zeichnet sich ab, dass bei der FDP Didier Burkhalter, Pascal Broulis und Christian Lüscher kandidieren wollen, und Martine Brunschwig-Graf, die ehemalige liberale Genfer Staatsrätin, ebenfalls nominiert werden möchte. Bei der CVP erwartet man allgemein eine Kandidatur von Urs Schwaller, die zwischenzeitlich von Dominique de Bumann herausgefordert wird.

Nicht auszuschliessen ist, dass auch die Parteipräsidenten Fulvio Pelli und Christoph Darbelley auf den Schild ihrer Parteien gehoben werden, selbst wenn beide nicht direkt dafür werben. Insbesondere bei Pelli weiss man, das er nicht Ja, aber auch nicht Nein gesagt hat.

Offen ist, ob weitere Parteien Nominationen vornehmen. In Frage kommen die Grünen und die SVP, ohne dass es hier eigentliche Favoriten auf der Personenebene gibt.

Die bisherigen Trends

Die Aussichten der FDP, den zweiten Bundesratssitz halten zu können, standen unmittelbar nach dem Rücktritt von Couchepin schlecht. RotGrün und das Zentrum verfügen in der gegenwärtigen Bundesversammlung über eine numerische Mehrheit; zusammen können sie bestimmen, wie der Bundesrat zusammengesetzt sein soll.

Eine einheitliche Strategie zeichnet sich aber nicht ab: Die Grünen favorisieren einen eigenen Sitz spätestens nach einem Wahlsieg 2011. Die SP wiederum denkt schon an die nächste Bundesratswahl, bei der sie selber gefordert sein wird, wenn sie rechts zu stark provoziert. Und schliesslich gibt es selbst bei der CVP Stimmen, die sich kritisch zum Zeitpunkt des Griffs nach dem zweiten Bundesratssitz äusseren.

Der Eindruck einer gelähmten FDP entstand vor allem, weil sich der vielfach als Favorit gehandelte Neuenburger Ständerat Burkhalter genauso wie seine Heerausforderer anfänglich zurückhielten. Diese Taktik verhinderte jedoch einen direkten Angriff auf ihre Person während des medialen Sommerlochs. Vielmehr wurde Urs Schwaller von einem solchen getroffen, weil dem Deutschfreiburger die Legitimation abgesprochen wurde, einen welschen Bundesratssitz zu beanspruchen.

Mit der Nomination von KandidatInnen aus den FDP-Reihen änderte sich das passive Verhalten der Partei; ja, man bekam den Eindruck, FDP-Präsident Fulvio Pelli finde in der nationalen Politik eine medale Rolle, die er schon lange gesucht habe.

Geklärtes und Ungeklärtes
Die FDP insistiert seit Beginn der Nachfolge-Debatte auf zwei Argumenten, die für einen freisinnig-liberalen Ersatz von Pascal Couchepin sprechen: Die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrates solle nicht ohne vorgängige Parlamentswahl erfolgen, und massgeblich für die Verteilung von Sitzen im Bundesrat sei der eigenen WählerInnen-Anteil bei den Nationalratswahlen.

Die CVP, welche so den Ständerat ausgeschaltet sieht, versucht die Fraktionsstärke zum entscheidenden Kriterium zu erheben, weil nur diese die politische Stärke unter der ganzen Bundeskuppel repräsentiere. Diese sei nach verschiedenen Aenderungen in den Fraktionsstärken nicht mehr wie 2007.

Vor der heissen Phase halten sich SVP und Grüne bedeckt. Klar ist eigentlich nur, dass beide Parteien auf einen Wahlsieg 2011 setzen, um sich dann (verstärkt) in den Bundesrat einzubringen. Unklar ist dabei, ob Partei- oder Fraktionsstärke massgeblich sein soll. Schliesslich bleibt offen, ob Schwaller als Deutschprachiger bei dieser Wahl ausscheiden muss, oder als Vertreter eines mehrheitlich französischsprachigen Kantons im Bundeshaus durchgeht.

3 Szenarien
In einem ersten Szenario setzt sich am Wahltag die FDP durch. Es gelingt ihr, einen Kandidaten mit gemischter Unterstützung zu nomieren. Die Sprachenfrage wird eindeutig zugunsten der Minderheiten entschieden, und die Parteienstärke als Argument für die Bundesratsbesetzung dient den linken Parteien, ihre Ansprüche warm zu halten. Der SVP ist das egal, denn sie setzt darauf, nach den nächsten Parlamentswahlen die BDP aus dem Bundesrat zu drängen und als stärkste Partei zu allererst zwei Sitze in des Bundesregierung beanspruchen zu können. Die CVP wiederum macht auf Schadensbegrenzung und bietet Evelyne Widmer-Schlumpf an, die zweite Bundesrätin einer erweiterten Zentrumsfraktion zu werden.

In einem zweiten Szenario kommt es am 16. September zur Wahl eines CVP-Bewerbers. Die mitte-links Allianz spielt im entscheidenden Moment, nämlich im letzten Wahlgang. Die Zusammensetzung des Parlaments als Wahlbehörde wird zur allgemeinen Richtschnur erhoben, wie inskünftig Bundesräte bestimmt werden. FDP und SVP sehen sich als die Verliererinnen und akzeptieren das nicht. Die SVP verlangt die Volkwahl des Bundesrates per Volksinitiative und setzt auf die kommenden Parlamentswahlen in Kanton und Bund als Richtungsentscheide. Sie will ihre Macht soweit mehren, dass sie die neue Regierungszusammensetzung nach ihren Vorstellungen gestalten kann. Die FDP stürzt auf dem Tiefststand ihre Regierungsvertretung in eine lähmende Richtungsdebatte, und in der Romandie beklagt man die Dominanz der deutschschweizerischen Mehrheit.

Das dritte Szenario geht davon aus, dass die ursprünglichen Favoriten von FDP und CVP nicht unbeschadet durch Ankündigung und Nomination gehen und der Streit um die Zusammensetzung des Bundesrates eskaliert. Grüne und SVP wittern die Gunst der Stunde und treten mit eigenen Kandidaturen an. Die Präsidenten von FDP und CVP greifen persönlich ins Wahlgeschehen ein und schliessen eigene Kandidaturen nicht aus.

Wer gewählt wird, ist in diesem Fall gar nicht so entscheidend. Denn es ist eine Wahl auf Zeit. Die Beschleunigung der Ereignisse macht klar, dass es mindestens 10 parteipolitisch motivierte Ansprüche auf einen der 7 Bundesratssitze gibt und dass keine verbindlichen Verteilkriterien für die Bestellung des Bundesrates mehr existieren. Das Ganze ist wird zur Lotterie. Entsprechend setzen Grundsatzdebatten zur Regierungsreform ein, die zwischen Ausrichtung an der Volkswahl resp. an der parlamentarischen Koalitionsbildung schwanken.

Claude Longchamp

Die Debatte zur Volkswahl von BundesrätInnen ist lanciert

Die Debatte über die Volkswahl des Bundesrates ist neu lanciert. Sie entzweit nicht nur das Volk und die PolitikerInnen. Auch unter den PolitikwissenschafterInnen werden beide Standpunkte zwischen Demokratisierung und Mediokratisierung von Bundesratswahlen vertreten.


(Rundschau vom 1.7. anclicken)

In der gestrigen “Rundschau” des Schweizer Fernsehens ordnete der Freiburger Historiker Urs Altermatt die neu aufgebrachte Forderung der SVP des Kantons Zürich in den grösseren Kontext ein: Er sieht darin den Angriff auf die BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf 2007, die als SVP-Vertreterin gewählt, dann von der eigenen Partei ausgeschlossen wurde. Die Initiative ist für den arrivierten Bundesratsforscher die Begleitmusik hierzu.

Unter den Politikwissenschaften werden kontroverse Einschätzung gemacht. Michael Hermann von der Uni Zürich sieht darin eine Chance der Demokratisierung von Bundesratswahlen, die sich in den Kantonen bewährt hat und nun auf der Bundesebene Anwendung finden soll. Er verspricht sich mehr politisches Interesse durch Volkswahlen des Bundesrates.

Ich selber vertrete die Gegenposition: Was mit der Volkswahl von BundesrätInne kommt, ist die gesteigerte Bedeutung von Personen für die politische Mobilisierung sowie die Amerikanisierung von Wahlen, verbunden mit einer Stärkung der Medienmacht. Das sich das mit der Konkordanz für den Bundesrat nicht verträgt, tendiert die Aushebelung der Rückbindung von Regierungsmitgliedern ans Parlament zum Uebergang des Regierungssystems der Schweiz zur Konkurrenzdemokratie mediokratischen Stils.

Claude Longchamp

“Volkswahl des Bundesrates”: indirekte Wirkungen wichtiger als direkte

Das Volk lehnte bis jetzt die Wahl des Bundesrates in Volksabstimmung immer ab. Dennoch hatten entsprechende Initiative oder Projekte indirekte Wirkungen, stärkten sie doch die Vertretung der Parteien, welche die Initiativen lancierten, im Bundesrat früher oder später.

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Das Ergebnis der Abstimmung von 1900 zur KK/SP-Initiative: 35 Prozent Ja bei einer Beteiligung von 59 Prozent der Stimmberechtigten.

Bereits zweimal wurde über die Volkswahl des Bundesrates abgestimmt: 1990 aufgrund einer Volksinitiative, getragen von den Katholisch-Konservativen und den Sozialdemokraten; 1942 als Folge eine Volksinitiative der SP. In beiden Fällen mobilisiert das Thema im Schnitt; zweimal scheiterte das Anliegen in der Volksabstimmung klar: 1900 votierten 65 Prozent dagegen, und es lehnte 14 Kantone ab; 1942 waren 68 Prozent und alle Kanton gegen die Vorlage.

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Das Ergebnis der Abstimmung von 1942 zur SP-Initiative: 32 Prozent Ja bei einer Beteiligung von 62 Prozent der Stimmberechtigten.

Das Abstimmungsergebnis erhellt nicht nur der Blick auf den räumlichen Kontext der Resultate. Der Zeitpunkt der Entscheidung ist mindestens so wichtig.

1900 befand sich die KK im Aufstieg zum Regierungspartei. Seit 1891 war sie als Minderheit mit einem Sitz im siebenköpfigen Bundesrat; im Parlament, vor allem im Ständerat hatte sie aufgrund ihres regionalen Profiles aber mehr Gewicht. 1942 war die SP auf dem Weg in den Bundesrat. Was ihr seit Längerem von bürgerlicher Seite verwehrt wurde, sollte 1943 effektiv erstmals erfüllt werden.

Volksinitiativen für die Volkswahl des Bundesrates gehören damit zu den Instrumenten, die Parteien einsetzen, welche ihre Macht in der Regierung stärken wollen. Sie kennen deshalb ein ausgesprochen taktisches Element. Von einer eigentlichen Konfliktlinie, die alle bestimmen würde, kann damit, wenigstens im historischen Rückblick, nicht gesprochen werden. Die Initiativen scheiterten recht deutlich, da sie keine soziologisch oder ökonomisch beschreibbares Potenzial kannten.

Angewendet auf die Gegenwart heisst dies: Die SVP fühlt sich im Bundesrat untervertreten. Sie verspricht sich, dass von der diskutierten Initiative Druck aus geht; das war schon im Jahr 2000 so, und es dürfte auch momentan der Fall sein. Direkte Wirkungen zeigten die Initiative nicht, weil sie in der Volksabstimmung scheiterten; indirekte Wirkungen stellten sich aber bisher immer ein: 1919 wurde die KK mit zwei Vertretern im Bundesrat bedient, und 1943 wurde die SP erstmals in die Bundesregierung aufgenommen. Bei der SVP reichte schon die Ankündigung der Initiative, dass die Verdoppelung ihrer Vertretung 2003 vorbereitet werden konnte.

Claude Longchamp

Einwände zur Volkswahl des Bundesrates

Die Volkswahl des Bundesrats wird in der Schweiz wieder zum Politikum. Vorgetragen wird sie gegenwärtig erneut durch die SVP, die ein entsprechendes Initiativprojekt diskutiert, obwohl ein analoger Vorschlag erst 2009 durch den kommunistischen Abgeordenten eingebracht, im Nationalrat klar abgelehnt worden ist.

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Quelle: Tages-Anzeiger, 30. Juni 2009

Seit 1848 sind alle Bestrebungen dazu gescheitert

Seit 1848 die Volkswahl des Bundesrats in der Diskussion der ersten Verfassung der Schweiz abgelehnt worden ist, wird das Thema regelmässig wieder diskutiert; alle Vorschläge hierzu sind bisher verworfen worden.

Sicher, die Voraussetzung seit damals haben sich geändert; die Kantone sind nicht mehr ausschliessliche und nach Innen gerichtete Teilstaaten. Dennoch gibt es kaum nationale Medien, eher ein sprachregional geprägtes Mediensystem, das die Möglichkeiten gesamtschweizerische Diskussion und Wahlen mindestens einschränkt.

Drei Einwände gegen die Volkswahl des Bundesrats werden immer wieder vorgebracht:

1. Der permanente Wahlkampf

Die Volkswahl des Bundesrates würde die Anbindung der Regierung an die Oeffentlichkeit stärken. Bei allen Vorteilen, die das auch hat, bleibt ein Problem: Die Gewählte würden sich dem ständigen medialen Dauerdruck der Abwahl ausgesetzt sehen. Diese wären letzlich auch in der Lage, die Abwahl in eigener Regie zu inszenieren. Ganz sicher wären die Medien auch eine zentrale publizistische und werberische Wahlvoraussetzung. Denn nur wenige PolitikerInnen erreichen die Bekanntheit, die nötig wäre, um national gewählt werden zu können. Faktisch sind das heute die Bundesräte nach der Wahl und Spitzenvertreter der Opposition wie das bei James Schwarzenbach, Jean Ziegler und Christoph Blocher der Fall war. Letztere sind geeignet, neue Themen aufzubringen und der politischen Diskussion zuzuführen, haben sich aber letztlich als zu wenig geeignet erwiesen, auch lösungsorientierte Sachpolitik zu betreiben.

2. Die Schwächung des Parlaments

Der Parlamentarismus ist die Norm der Demokratie. Darüber hinaus sind die direkte Demorkatie und das Präsidialsystem als Erweiterungen bekannt. Eine Kombination der drei System gibt es nationalstaatlich gesehen letztlich nirgends. Auf der Ebene der Gliestaaaten kommt Kalifornien dem am nächsten, – und zeigt mit hoher Regelmässigkeit die Schwäche: Da der Gouverneur, das Parlament und Volksabstimmung, alle ähnlich legitimiert, sehr unterschiedliche Politiken befürworten können, mangelt es schnell an Kohärenz, womit die politischen Satbilität, wie auch die jüngste Krise gezeigt hat, schnell leidet. Die Schweiz hat sich für den starken Ausbau der direkten Demokratie entschieden. Sie ist nach 1874 in verschiedenen Schritten stark ausgebaut worden, sodass sie die Bedeutung des Parlaments strukturell und in Policy-Fragen relativiert hat. Mit der Volkswahl des Bundesrates würde man dem Parlament nun auch die Wahlfunktion nehmen, womit nicht auszuschliessen wäre, dass das Parlament ganz zwischen Stuhl und Bank fallen würde, demokratiepolitisch eindeutig verantwortungslos.

3. Der erschwerte Minderheitenschutz

Volkswahlen der Regierung finden nach dem Mehrheitswahlrecht statt. Denn nur dieses legitimiert, im Namen der Mehrheit sprechen zu können. Entsprechend werden in aller Regel nicht Regierungen direkt gewählt, sondern das Präsidium. Die konsequente Anwendung des Mehrheitswahlrechtes auf nationaler Ebene für jedes einzelne Regierungsmitglied hebt konsequenterweise den Minderheitenschutz auf, oder aber schränkt über diesen das Mehrheitswahlrecht ein. Der Kanton Graubünden, als einziger Gliedstaat der Schweiz mit drei Regionalsprachen, hat ganz bewusst darauf verzichtet, den Sprachenproproz in die Volkswahl des Regierung einzuführen. Ohne das ist aber davon auszugehen, dass die deutschsprachige Schweiz – und mit ihr die Zürcher Optik – Volkswahlen der Bundesregierung dominieren müsste. Umgekehrt müsste man bei einem geregelten Minderheitenschutz müsste man klar sagen, wer in den Genuss kommen würde: nur die französischsprachige Schweiz? auch die italienischsprachige Schweiz? Und in welcher Zahl: je einen? zusammen zwei? Die Siebner-Zahl ist da nicht die einfachste.

Fazit
In der Tat kennt die Schweiz in den Kantonen die Volkswahl der Regierungen, kombiniert mit einem Parlament und direkter Demorkatie. Könnte man das nicht einfach auf die Schweiz übertragen? Meine Einschätzung lautet: eher Nein. Denn die Stabilität des Systems ist auch in den Kantonen nur gewährleistet, solange sich die grösseren Parteien untereinander an einen freiwilligen Proporz halten, der dem gleich, was wir im Bundesparlament haben. In den grösseren Kantonen werden in die Grenzen immer wieder sichtbar: Zürich, Bern, Waadt, Genf und Aargau kennen faktisch keine festen Schlüssel mehr für die Regierungszusammensetzung. Blöcke bilden sich, die bei Regierungswahlen gegeneinander antreten. Gesamtschweizerisch muss man klar Farbe bekennen: Wer die Volkswahl einführen will, will genau diese Polarisierung und verabschiedet sich von der politischen Konkordanz.

Claude Longchamp

Initiativprojekt zur Volkswahl des Bundesrates angekündigt

Die Zürcher Sektion der SVP greift mit der Volkswahl des Bundesrates eine Idee auf, welche die Mutterpartei im Jahre 2000 vorbereitet, dann aber fallen gelassen hatte. Sie will eine Volksinitiative, die es bei Annahme ermöglichen würde, dass die WählerInnen inskünftig Parlament und Regierung gleichzeitig wählen könnten.

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Alfred Heer, Zürcher Nationalrat und Präsident der SVP des Kantons Zürich, präsentierte das Projekt für die Initiative “Volkswahl des Bundesrates”

Die Forderung
Das Vorhaben für eine Volksinitiative sieht vor, dass der Bundesrat gleichzeitig mit den Nationalratswahlen von den Wahlberechtigten bestimmt würde. Die direkte Wahl der BundesrätInnen soll nach dem Mehrheitswahlrecht erfolgen und der lateinischen Sprachminderheit fest zwei Sitze garaniteren. Diese sollen nach dem Verfahren vergeben werden, das im Kanton Bern für die Bestimmung der fest gesetzten Vertretung des Berner Juras gilt.

Systemreform im Selbstverständnis der SVP
Das reaktualisierte Initiativprojekt wendet sich deutlich gegen andere Reformversuche des Bundesrates, etwa gegen die Ausweitung der Departementszahl, die unter einem Präsidenten durch MinisterInnen geführt würden, aber auch gegen die Stärkung des Präsidiums im jetzigen Gremium. Denn man möchte bei der knapp ausgestalteten Kollegialregierung bleiben, mit einem Präsidenten oder einer Präsidentin aus der Mitte der Mitglieder, jeweils für ein Jahr bestimmt.

Die SVP versteht ihren Reformvorschlag nicht als Schritt zu einem Präsidialsystem im amerikanischen Sinne. Vielmehr sieht es als Komplettierung des schweizerischen Sonderweges in der Demokratie-Entwicklung, die durch einen analogen Aufbau von unten nach oben bestimmt ist, und überall Volkssouveränität durch die Wahl von Parlament und Regierung, aber auch durch Abstimmungen über Sachfragen garantiert. Die jetzige Abhängigkeit der Regierung vom Parlament und nicht vom Volk betrachten die Gutachter für schlicht systemwidrig.

Recht offen kritisiert wird der Proporzgedanke für die Zusammensetzung der Bundesrates, weil er die Wahlfreiheit einschränke. Das hält man mit demokratischen Grundsätzen für unvereinbar. In solche Sätzen kommt denn auch der angestrebte Systemwechsel hin zu einer Konkurrenzdemokratie am klarsten zum Ausdruck.

Pikantes im Kleingedruckten
Etwas unbedacht wirkt in der gegenwärtigen Debatte über “Romand(e)s” das Kleingedruckte. Zur Regelung des Minderheitenschutzes hat man nämlich die lateinischen Gebiete der Schweiz aufgezählt. Dabei wird eine Zuordnung ganzer Kantone zu den Sprachregionen postuliert. Der Kanton Freiburg gilt demnach integral als Kanton der Romandie.

Das dürfte Urs Schwaller, möglicher Kandidat der CVP bei der anstehenden Bundesratswahl, freuen. In der Oeffentlichkeit wird bestritten, dass der deutschfreiburger Ständerat die Romandie vertreten können. Der diskutierte Initiativtext sähe hier keine Probleme. Ich werde mich umschauen, wie sich die SVP im Fall seiner Nomination verhält.

Claude Longchamp

Amtszeitbeschränkung

Gestern war ich als Experte in der “Arena“, der bekanntesten Politsendung im Fernsehen der deutschsprachigen Schweiz. Diskutiert wurde das Thema “Gesucht: Bundesrat”. Mitten drin wurde abgestimmt, über Amtszeitbeschränkungen. Eine Reflexion hierzu.

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Judith Stamm, 1996/7 Nationalratspräsidentin, brachte die Idee in der Sendung auf. 8, allenfalls 12 Jahren seien in Vollämtern wie dem Bundesrat genug; danach sei man ausgebrannt und solle man neuen Kräften Platz machen, argumentierte die erfahrene Ex-Politikerin. Reto Brennwald, der Moderator, nahm den zugeworfenen Ball auf wollte von allen Teilnehmenden in der Sendung ihre Meinung hierzu wissen – und liess abstimmen.

Wohl drei Viertel der Personen in der gestrigen “Arena” sprachen sich für Amtszeitbeschränkungen aus. Prominenteste Opposition kam vom anwesenden alt Bundesrat Christoph Blocher, sekundiert von seinem damalige Generalsekretär in der SVP, Gregor Rutz. Beide outeten sich als Gegner von zeitlichen Beschränkungen für politische Aemter.

Ein wenig erstaunt war man da schon, forderte doch die SVP nach den Parlamentswahlen 2007 und mit Blick auf die anstehende Gesamterneuerungswahl der Bundesregierung (nicht ganz unberechtigt) lautstark den Rücktritt dreier “Sesselkleber” (die damaligen BR Schmid, BR Couchepin und den jetzigen BR Leuenberger), da der Bundesrat zu überaltern drohe.

Persönlich befürworte ich Amtszeitbeschränkungen für vollberufliche Exekutivstellen. Sie konzentrieren naturgemäss viel Macht, damit die Amtsinhaber politische Prozesse auch wirklich beeinflussen können. Ohne Amtszeitbeschränkungen riskiert man, dass die Verschmelzung von Amt und Person ungehindert fortschreitet, und die institutionelle Macht zu stark auf dem Amtsinhaber oder die Amtsinhaberin als Individuum übergeht.

Ich befinde mich damit in guter Tradition mit republikanisch gesinnten Denkern, die mit der Annuität der Aemter in Rom das Prinzip entwickelt haben, das mit der französischen Revolution wieder geboren wurde und heute in vielen Staaten verwirklicht ist. Gegner solcher Ueberlegung hängen entweder dem feudalen Verständnis an, wonach man von Gottes oder Kaisers Gnaden auf Lebzeiten zur Herrschaft berufen sei, oder aber sind sie politische Ueberzeugungstäter wie Hugo Chavez oder Fidel Castro, deren Mission oder Auftrag nie endet.

Claude Longchamp