Das bürgerliche Lager ist nicht mehr

Seit Wochen umtreibt mich ein Thema, das sich in der jüngsten Ständeratswahl im Kanton Bern so klar gezeigt hat: Das bürgerliche Lager gehört der Geschichte an.

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Orlando im heutigen Bund, als Illustration zur Berner Ständeratswahl, die ich in einem ausführlichen Interview analysierte.

Im Vorfeld der Berner Ständeratswahlen war viel vom bürgerlichen Schulterschluss die Rede. Nahmhafte Wirtschaftsverbände empfahlen ihn, und die SVP strebte ihn nach dem ersten Wahlgang an. Die ungeteilte Standesstimme diente als Begründung, dass sich an der Zusammensetzung – 1 SVP, 1 BDP – nichts ändern sollte.
Die faktische Szenerie war in dessen anders. Alles begann mit der Ankündigung der Ständeratskandidatur der FDP – gegen zwei Bürgerliche. Um sich Vorteile bei den Nationalratswahlen zu verschaffen, zogen auch verschiedene Kleinparteien mit eigenen Bewerbungen nach. Selbstredend nominierte auch die Linke, um, wie zu Zeiten Sommarugas, wieder im Ständerat vertreten zu.
Man weiss es, wie es kam: Im ersten Wahlgang setzten sich Amstutz, Luginbühl und Stöckli an die Spitze der BewerberInnen und markierten so ihre Favoritenrollen für die rechte Wählerschafte, jene der Mitte und für das linke Elektorat. Im zweiten Umgang zogen Luginbühl und Stöckli an Amstutz vorbei, womit sich die Berner Standesvertretung erstmals aus einem BDP- und ein SP-Mitglied zusammensetzt.

In der Erstanalyse habe ich die Behauptung aufgestellt, dass es das bürgerliche Lager in Bern, wohl auch anderswo nicht mehr geben würde. Sicher, im Grossen Rat zu Bern, wo SVP, BDP und FDP die Mehrheit haben und einer rotgrün beherrschten Regierung gegenüber stehen, stimmt man häufig gemeinsam. Nicht vergessen darf man indessen, dass die gleichen Parteien 2010 angetreten waren, eine Wende im Regierungsrat herbeizuführen – und grandios scheiterten, nicht zuletzt, weil die Zusammenarbeit nicht klappte, welche der SVP zwei Sitze und damit die Führungsrolle hätte bringen sollen.
Man kann das alles als Phänomen nach einer konkreten Parteispaltung aus der traditionellen SVP heraus abtun, mit der eine gemässigte Zentrumspartei à la bernoise, und eine rechtskonservative Partei mit Spuren des Zürcher Vorbilds entstanden sind. Es ist aber auch möglich, das als Symptom zu nehmen, dass sich mehr als nur vordergründiges verändert.

Was meine ich damit?

Die politische Soziologie lehrt, dass die europäischen Parteien aus der Verarbeitung grundlegender gesellschaftlichen Spaltungen, wie sie die Reformation, die französische, bürgerliche, industrielle und russische Reformation hervor gebracht haben, entstanden sind. Formiert wird dies seither durch den Rechts/Links-Gegensatz, wobei bürgerlich die Abgrenzung gegen links bezeichnete, egal aus welcher historischen Konstellation oder sozialen Schicht die Wähler kamen.

Nun hat die Entwicklung von Gesellschaft und Politik der letzten 30 Jahre gezeigt, dass einiges davon nicht mehr stimmt. Neue Konfliktlinien sind entstanden; Werthaltungen, die bisher unbekannt waren, sind mit nachrückenden Generationen von Bedeutung geworden. Der Fächer der Parteien hat sich so verändert. Weltanschaulich mach das Wort “bürgerlich” kaum mehr Sinn, eher spricht man von nationalkonservativen Strömungen, vom liberalen Pol, von christlicher Fundierung von Parteien, oder von Wertesynthesen, die als einzige die Ueberlebensfähigkeit sichern.

Die Wahlen 2011 haben das eindrücklich bestätigt. Selbst im Nationalrat gewinnen die Polparteien nicht mehr. Vielmehr zeichnen sich drei, allenfalls sogar vier Lager an: die hegemoniale SVP im rechten, die rotgrünen Parteien links, das neu aufgemischte Zentrum, allenfalls eine Position Mitte/Rechts. Begründet wird dies damit, dass die bisherigen Parteien ihren Standort nicht mehr in der übergeordneten Gemeinsamkeit suchen, sondern in der Eigenprofilierung, die, durch Abgrenzung am besten markiert werden. Die Polarisierung der letzten Jahre hat nicht nur die ideologische Distanz zwischen den Parteien an den Polen erhöht, sie hat auch das traditionelle Zentrum ausgezehrt, bis es, mit neuen Parteien und neuen Inhalten, in diesem Wahlherbst neu entstanden ist.

Schliesst man sich der Analyse politischer Soziologen, wie der meines St. Galler Kollegen Daniele Caramani an, dann ist das alles nicht einfach so geschehen, sondern Ausdruck der neuen Konfliktlinien, welche die Parteiensysteme prägen: Zu diesen zählt er einmal die Oekologisierung, welche die Grünen als Pioniere entstehen liess, aber auch gemässigte Parteien wie die Grünliberalen hervor gebracht hat und innerhalb verschiedener bestehender Parteien zu einer Neuausrichtung geführt hat. In der aktuellen Diskussion markiert der Ausstieg aus der Kernenergie diese Konfliklinie, welche die Parteienlandschaft neu aufteilt. Damit nicht genug, auch die Europäisierung der Politik ist für den St. Galler Professor eine neue Spannungslinie, die zur Neudefinition der Parteien geführt hat. Der Wandel der SVP als konsequentester Partei gegen die EU zählt dazu, aber auch die Neupositionierung der FDP, die für die wirtschaftliche Offenheit, zunehmend aber gegen das gesellschaftliche Pendant ist, lässt sich hier nennen.

Rekapituliert man das alles, um den Blick auf die aktuellen Parteienlandschaft zu richten, kann man, ganz anders als es die Wahlkampf-Rhetorik der letzten Wochen suggerierte, wohl begründet zum Schluss kommen, dass es das bürgerliche Lager nicht mehr gibt, dass die Schweizer Parteilandschaft aufbricht, und das wir unterwegs zu neuen Ordnungsmustern des Politischen sind, wie die Nationalratswahlen 2011 zeigten, wie aber auch aus dem Wandel der Berner Ständeratsvertretung abgeleitet werden kann. Denn da stimmte das Zentrum mit links, was der Definition von bürgerlich zu tiefst widerspricht.

Claude Longchamp

Stöckli ins Stöckli: Bern entsendet eine Mitte/Links-Allianz in den Ständerat

Das Endergebnis der Berner Ständeratswahlen ist klar: Werner Luginbühl wird mit einem Glanzergebnis als Berner Ständerat bestätigt. Drei Viertel aller gültigen Stimmen entfielen auf ihn. Neu ins Stöckli zieht Hans Stöckli ein. Er erreicht rund 60 Prozent der Stimmen. Damit liegt er klar vor Adrian Amstutz, der bei rund 52 Prozent Stimmenanteil kommt.

Die Spannung vor der Stichwahl zur Berner Ständeratswahl war gross. Allgemein rechnete man damit, dass Werner Luginbühl, bisheriger Standesherr der BDP, als Kandidat der Mitte gewählt würde. Offen war indes, ob der Bisherige Adrian Amstutz von der SVP oder Hans Stöckli, neu der SP-Kandidat, an zweiter Stelle stehen würde.

Im ersten Wahlgang lag Adrian Amstutz noch an der Spitze, knapp von Werner Luginbühl und einiges vor Hans Stöckli. Im zweiten war alles anders, der der Zwei- und Drittplatzierte zogen am Vizepräsidenten der SVP, der erst vor einem halb Jahr Ständerat wurde, vorbei.

Tabelle: Stimmenanteil der zentralen Kandidaten im ersten und zweiten Wahlgang (Hochrechnung) nach Gemeindetypen
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Lesebeispiel: In SVP Hochburgen machten Amstutz im 1. Wahlgang rund 79 Prozent der Stimmen, im zweiten zirka 85; das entspricht einem Wachstum von 6 Prozentpunkten.

Die Wahlbeteiligung war zwar nicht mehr ganz so hoch wie im ersten Wahlgang. Mit 45 Prozent bleibt aber nur ein Schluss: Das Rennen um die Berner Ständeratswahlen hat breit mobilisiert. Mit Beteiligungsunterschieden lassen sich die Unterschiede im Wahlresultat nicht erklären.

Der Vergleich von der ersten zur zweiten Runde zeigt, was an Stimmen geblieben ist und was sich verändert hat. Am wenigsten Unterschiede gibt es bei Adrian Amstutz. Er hatte im ersten Wahlgang seinen Plafond bereits weitgehend erreicht gehabt, derweil die beiden anderen Kandidaten das Rennen machten, weil sich ihre WählerInnen vor allem in den agglomerierten Gebieten die Stimmen gegenseitig gaben. Werner Luginbühl legte am meisten zu, weil er von links und auch von rechts etwas mehr holte als im ersten Wahlgang. Dabei ist der Zuwachs links klar wichtiger als rechts. Stöckli wurde zweiter, weil er von der bürgerlichen Mitte klar häufiger bevorzugt wurde als Amstutz. Der bleibt zwar der Favorit der Landbevölkerung, vor allem wo die SVP unverändert unangefochten das Sagen hat. Doch erscheinen seine SVP und auch er als Person immer mehr isoliert, sodass es bei Majorzwahlen nicht mehr für Erfolge reicht.

Damit wird der Kanton Bern im Ständerat von einer Allianz aus Mitte/Links vertreten, die bei allen Unterschieden im Standort auch Gemeinsamkeiten hat. Die viel beschworene ungeteilte Standesstimme hätte es bei einem Duo Luginbühl/Amstutz weder in der Personenfreizügigkeitsfrage gegeben noch beim Atomausstieg. Ersteres ist schon länger ein Zankapfel zwischen den Nationalkonservativen nach Zürcher Art und der gemässigten bürgerliche Mitte. Zweiteres ist im Wahljahr dazu gekommen, vor allem durch den Schwenker der BDP in Sachen Kernenergie nach den Unfall im japanischen Fukushima.

Für die SVP ist es eine herbe Niederlage. Im Frühling eroberte sie bei der Ersatzwahl für Simonetta Sommaruga, die in den Bundesrat gewählt wurde, den Sitz zurück, den sie an die 2008 durch den Wechsel von Werner Luginbühl ohne Abwahl an die BDP verloren hatte. Einige Kommentatoren dachten damals, das sei der Startschuss für die Hardliner der SVP im Ständerat. Auf die Nominationen in der SVP für die Ständeratswahlen wirkte sich dies verherrend. Fraktionspräsident Caspar Baader wurde klar nicht gewählt, auch die denkbaren Bundesratsanwärter wie Guy Parmelin und Jean-Francois Rime scheiterten in der Volkswahl. Der heutige Tag lehrt uns, dass die Wahl vom 6. März eher die Ausnahme als die Regel war. Bei Majorzwahlen bleibt entscheidend, wie die Allianzen spielen. Das war diesmal zwischen rotgrün auf der einen und dem Zentrum, in dem im Kanton Bern neuerdings die BDP das Sagen hat, klarer der Fall. Vom bürgerlichen Schulterschluss, der jahrlang den Ausgang der Ständeratswahlen bestimmt hat, war in Bern kaum mehr etwas zu merken.

Mit der heute gefällten Entscheidung steht Bern nicht alleine. Im Ständerat der kommenden Legislatur hat die CVP nicht nur mit der FDP eine mehrheitsfähige Allianzmöglichkeit. So wie es jetzt aussieht besteht diese neu auch mit der SP.

Claude Longchamp

Berner Ständeratswahlen: Was die Wahlbörse voraussagt

Ginge es nach den 261 HändlerInnen der Wahlbörse, würde am kommenden Sonntag nebst dem Bisherigen Werner Luginbühl von der BDP der neue SP-Bewerber Hans Stöckli von der SP als Berner Vertreter in den Ständerat gewählt. Als Ueberzähliger ausscheiden würde Adrian Amstutz, gegenwärtiger Standesherr der SVP.

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Gross war das Lob an die Adresse der Wahlbörse nach den Nationalratswahlen. Haften blieb ein Mackel, existierten doch zahlreiche andere Tools zum Wahlausgang, an denen sich die Händler auf Wahlbörse orientieren konnten.

Die Evaluierung der Wahlbörse bei den Ständeratswahlen steht noch aus. Aufs Ganze gesehen wird mit Verlusten für die FDP gerechnet, und kleinen Verschiebungen im Minus für die CVP, resp. im Plus für die SP und Parteilose. Kein schlechter Tipp, würde ich sagen.

Die anstehenden Ständeratswahlen im Kanton Bern sind, im zweiten Wahlgang, der erste Bewährungsprobe für die Wahlbörsen. Bei Werner Luginbühl, bisheriger Berner Standesherr von der BDP, wetten die Händler auf einen Unterstützungsanteil von 65 Prozent. Damit erscheint ihnen seine Wahl als gesichert. Spannend wird es danach: Hans Stöckli, neuer Kandidat der SP, kommt auf 60 Prozent geschätzte Zustimmung und liegt 2 Prozentpunkt vor Adrian Amstutz, der es auf 58 Prozent bringt.

Im Wahlkampf für die zweite Runde steigern konnten sich Luginbühl, seit dem 3. November ununterbrochen führend, aber auch Stöckli, der am 13. November Amstutz überholte. Dieser hatte unmittelbar nach dem 1. Wahlgang ein kleines Hoch; sein wahrgenommenen Chancen sinken seither langsam, aber kontinuierlich.

Wie gesagt, es ist ein erster Test für die Wahlbörsen bei der Stichwahl zu Ständeratswahlen. Das Ergebnis stimmt recht gut mit dem überein, was man in den Städten zu Verlauf und Ausgang wahrnimmt: Der Trend verläuft zuungunsten von Amstutz, seit die BDP das Angebot ausschlug, zwischen Luginbühl und Amstutz ein gemeinsames “Päckli” gegen links zu schnüren.

Doch bleibt eine Ungewissheit: Gerade der Kanton Bern besteht nicht nur aus den Städten!

Claude Longchamp

Was die BernerInnen bei den Ständeratswahlen in zweiter Linie wählten

Eine Spezialauswertung der Stimmzettel im Kanton Bern zeigt, was die Wählenden von Amstutz, Luginbühl, Stöckli, von Graffenried und Wasserfallen auf die zweite Linie schrieben. Das hilft, Präferenzen im 1. Wahlgang verbessert einzuschätzen.

Zuerst will ich den Kanton Waadt loben. Bei den Nationalratswahlen kam er wegen der Verzögerungen beim Auszählen schlecht weg. Bei den Ständeratswahlen war der Wahlservice aber super. Das hat mit dem Wahlrecht zu tun. Die WaadländerInnen wählen bei den Ständeratswahlen mit Parteilisten. Alle grossen Parteien haben eine solche. Beim zweiten Wahlgang empfahlen die SP und GPS auf der einen, die FDP.Liberalen und SVP auf der anderen Seite je ein Doppelpack an Bewerbungen. Aus der Wahlstatistik kann man nun ableiten, wieviele Stimmen jede Parteiliste machte und wer von den Vorgeschlagenen bestätigt resp. gestrichen oder ersetzt worden ist.

Abfluss der Zweitstimmen nach Erststimme im 1. Wahlgang bei den Berner Ständeratswahlen
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Im Kanton Bern beispielsweise, wo ein anderes Wahlrecht für Ständeratswahlen gilt, weiss man das alles nicht. Wie die ParteigängerInnen im ersten Umgang gewählt haben, würde man nur mit aufwendigen Umfragen herauskriegen. Wie die Zweitlinie ausgefüllt worden ist, kann man durch Auszählen der Bulletins ersehen. – Leider machen die Wahlbüros das nicht automatisch. Zwei Studenten der Politikwissenschaft an der Uni Bern, Samuel Kullmann und Philipp Koch, haben sich die Mühe genommen, in zehn gut ausgewählten Gemeinden je eine Stichprobe der abgegebenen Zettel zu ziehen und diese auswerten.

Was sind ihre Schlüsse? –

Die Wählenden von Amstutz votierten zu 31 Prozent für Luginbühl, zu 12 Prozent für Wasserfallen und zu 41 Prozent für niemanden sonst.
Wer zuerst für Luginbühl gewählt hatte, schrieb auf der zweiten Linie am häufigsten Wasserfallen (25%) auf, dann Stöckli (22%); der GPS-Kandidat von Graffenried kam auf 12 Prozent. 14 Prozent gaben keine Zweitstimme ab. Oder anders gesagt: Die BDP-nahen Luginbühl-Wählenden waren auf viele Seite offen.
Die Wählenden von Wasserfallen tendierten zu 42 Prozent zu Luginbühl, zu 14 Prozent zu Amstutz und zu 12 Prozent von Graffenried. 19 Prozent liessen die zweite Zeile leer.
Stöcklis WählerInnen aus derm ersten Wahlgang gaben zu 69 Prozent ihre Stimme von Graffenriede, zu 10 Prozent Luginbühl.
Aehnlich strukturiert waren auch die Wählenden von von Graffenried. Sie votierten zu 65 Prozent auch für Stöckli, zu 15 Prozent auf für Luginbühl.

Alle anderen KandidatInnen machten nur wenige Stimmen auf den Wahlzetteln der Grossen.

Die vorliegende Analyse zeigt, dass die Amstutz-Wählenden am stärksten nur aus Ueberzeugung votiert haben. Fast die Hälfte schrieb, ausser ihrem Favorit, keine weitere Kandidatur auf den Wahlzettel, um die Wahlchancen von Amstutz zu optimieren. Nirgends war dieses Denken so verbreitet wie bei den Wählenden des SVP-Standesherren.
Die Kandidatur von Christian Wasserfallen aus den FDP-Reihen verzettelte die bürgerlichen Stimmen offensichtlich. Der Grund liegt in der Abneigung seiner AnhängerInnen gegenüber Amstutz. Die Wasserfallen-Wählenden hatten eine klare Präferenz für den BDP-Kandidaten, nicht aber für jenen der SVP. Am zweitmeisten Stimmen machte hier der grüne Bewerber Alec von Graffenried.
Ganz anders verhielt sich das linke Lager. Es hielt insgesamt gut zusammen. Stöckli-Wählende notierten fleissig von Graffenried, und dessen Supporter votierten ebenso häufig für Stöckli.

Die neuen Ergebnisse präzisieren den Befund, den letzte Woche der “Bund” aufgrund der gleichen Methode, indes nur in einer (unbekannt gebliebenen) Gemeinde ermittelt hatte. Sie decken sich weitgehend mit den Erkenntnissen aus der Studie zum ersten Wahlgang bei den Zürcher Ständeratswahlen. Auch da zeigte sich, dass die SVP-Wählerschaft zwischen Eigenständigkeit und Isolation votierte, moderat bürgerliche Wählende eher zu den grünen als sozialdemokratischen Bewerbungen tendierten, und die rotgrünen Wählenden unter sich Stimmen tauschten. In Zürich wirkte sich das Etikett “Bisherige” stärker aus als in Bern, wo sie zwar auch an der Spitze der Nicht-Gewählten stehen, ihre Abstützung aber nicht so breit ist wie in Zürich.

Schlussfolgerungen auf den zweiten Wahlgang sind nicht direkt möglich; dafür fehlt die Sicherheit mit entsprechenden Ergebnissen. Reevaluierungen werden zeigen, was effektiv spielte. Vorerst bleibt dies Spekulation. Namentlich kann man aus solchen Präferenzanalysen nicht eindeutig ableiten, wie die Mobilisierung im zweiten Umfang sein wird. Ist sie überall gleich anders, ist das egal. Wenn aber beispielsweise das Land besser mobilisiert als die Stadt, hat das Auswirkungen auf das Wahlergebnis. Es kommt hinzu, dass im ersten Wahlgang mehr die Positionierung der bevorzugten Kandidatur wichtig war, das Taktieren namentlich auf der zweiten Zeile erst danach einsetzt. Im Kanton Bern relevant ist, die bekannte Teilung der Präferenzordnungen zwischen Stadt/Land, aber auch, was die FDP-Wählerschaft macht und was im Berner Jura geschieht. Und: wer im ersten Wahlgang eine Linie leer liess, hat im zweiten Umgang am meisten Spielraum!

Claude Longchamp

Hochrechnung der Berner Ständeratswahlen vom Sonntag

Hochrechnungen sind Extrapolationen realer Wahlergebnisse aus Teilen des Kantons auf den ganzen Kanton. Sie haben sich bewährt, wie drei Beispiele aus dem ersten Wahlgang zeigten. Im Kanton Bern wird deshalb auch der zweite Wahlgang vom kommenden Sonntag hochgerechnet.

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Kämpfen am Sonntag um die beiden Berner Ständeratssitze: Adrian Amstutz (SVP, bisher), Hans Stöckli (SP, neu) und Werner Luginbähl (BDP, bisher)


Die Hochrechnungen für Majorzwahlen im Kanton Bern

Stephan Tschöpe, Politikwissenschafter und Mathematiker, hat mit seiner Lizenziatarbeit ein neues Modell für Hochrechnungen zu Majorzwahlen erarbeitet, das 2010 bei den Regierungsratswahlen mit Erfolg eingesetzt wurde.

Für die Hochrechnung wird der Kanton Bern in Untergruppen eingeteilt. Diese Untergruppen repräsentieren die parteipolitisch unterschiedliche Zusammensetzung des Kantons (z.B.: SVP-Hochburgen, SP-Hochburgen, …). Im Vergleich zum gesamten Kanton sind die Untergruppen homogener in Bezug, so dass sich Referenzgemeinden für die Hochrechnung besser und strukturierter finden lassen.

Die Referenzgemeinden werden nach dem Prinzip “beste Gemeinde” ausgewählt, also jene Gemeinden, welche am besten für Kandidat X re-präsentativ sind. Als Referenz für Wahlen gilt die Vorwahl. Somit werden die besten Gemeinden für die Untergruppen pro KandidatIn aus dem 1. Wahlgang der Ständeratswahlen vom 23. Oktober 2011 als Referenz genutzt. Für die kantonale Hochrechnung der Kandidierenden werden die Untergruppen im Verhältnis zu ihrem Stimmen-gewicht im Kanton gewichtet.

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Evaluierung der Hochrechnung zum 1. Wahlgang im Kanton Bern. Der mittlere Schätzfehler betrug um 14 Uhr 30 effektiv nur 0.7 Proezntpunkte; am höchsten war er bei Werner Luginbühl mit 1.1 Prozentpunkten.

Die Kunst dieser Hochrechnung bestand darin, ein Modell für einen BDP-Kandidaten zu finden, da es eine solche noch nie gab. Im zweiten Wahlgang ist das einfacher, denn der schliesst die (guten) Erfahrungen aus dem ersten Wahlgang bereits mitein.

Die Hochrechnung vom kommenden Sonntag

Wir rechnen aus Zeitgründen nur die aussichtsreichen KandidatInnen hoch. Es sind dies Adrian Amstutz (SVP), Werner Luginbühl (BDP) und Hans Stöckli (SP).

Wir werden den prozentuallen Anteil im Verhältnis zum doppelten absoluten Mehr pro KandidatIn publizieren. Das absolute Mehr wird immer mit 50% definiert. Das absolute Mehr ist zwar nicht für den 2. Wahlgang notwendig, dient aber uns zur Berechnung der erhaltenen Stimmen.

Der Streubereich bei der 1. Hochrechnung beträgt geschätzt +/-3%. Liegen die Kandidieren näher als diese drei Prozent zusammen, kann nicht gesagt werden, wer gewählt ist. Ein Beispiel verdeutlicht dies:

– Kandidat 1: 48%
– Kandidat 2: 46%
– Kandidat 3: 44%

Es kann somit gesagt werden, dass Kandidat 1 sicher gewählt ist, weil er mehr als 4% Differenz zu Kandidat 3 hat. Es kann aber nicht gesagt werden, wer als 2. gewählt wird, da die Differenz weniger als 3% beträgt.

Die Hochrechnung werdenab 14 Uhr halbstündlich publiziert:

1. Hochrechnung: etwa 14.00 Uhr (Fehlerbereich: +/-3%)
2. Hochrechnung: etwa 14.30 Uhr (Fehlerbereich: +/-2%)
3. Hochrechnung: etwa 15.00 Uhr (Fehlerbereich: +/-1%)

In allen Fällen sind die Hochrechnungen klar schneller als das erwartbare Endergebnis.

Sobald das hochgerechnete Ergebnis feststeht, werden wir das Ergebnis würdigen und Erstanalyse der Wahlen liefern.

Claude Longchamp

Ständeratswahlen im Kanton Bern: Was bisher geschah, und was noch geschehen könnte

Der zweite Wahlgang zu den Ständeratswahlen rückt näher. Damit steigt auch das Interesse, was man aus dem ersten lernen könnte. Eine Auslegeordnung

Die Bund-Auszählung mit einer Gemeinde
Der heutige „Bund“ bringt eine auffällige Grafik zum ersten Wahlgang der Ständeratswahlen im Kanton Bern. Sie zeigt wie die Wählenden der 5 hauptsächlichen Kandidaten die zweite Linie besetzt haben.

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Grafiken anklicken, um sie zu vergrössern

Jene von Adrian Amstutz wollten am häufigsten, die Chancen ihres Favoriten optimieren. Sie liessen mehr als die Wählenden der anderen Bewerber die zweite Linie leer. Gut funktioniert hat das linke Bündnis. Klare Mehrheiten der Wählenden von Hans Stöckli und Alec von Grafenried haben als zweites den anderen Kandidaten der rotgrünen Partners aufgeschrieben. Von einem Bündnis auf bürgerlicher Seite kann man nicht wirklich sprecehn. Die Grafik und der Artikel suggerieren: Die SVP leihte Stimmen, bekam sie aber nicht zurück.

Wieso weiss der “Bund” das? – Die Methode hinter dem Artikel ist originell. Man hat effektive Wahlzettel ausgewertet – etwas, das bisher wenig üblich war, aber im Kommen ist. Die getroffene Auswahl ist allerdings höchstens exemplarisch. Ausgezählt wurde in einer Gemeinde eine Stichprobe von 1800 Zetteln. Welche es war, erfährt man nicht. Obwohl alle Halbeingeweihten auf Bolligen tippen.


Die gfs-Analyse mit allen Gemeinden

Eine etwas andere Auswertung unseres Instituts mit einer anderen Methode, aber in allen Gemeinden vorgenommen, kommt zu differenzierteren Schlüssen:

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Erstens, die Positionierung Kandidaten aufgrund der Stimmenprofile legt die gleiche Rechts/Links-abfolge nahe: Amstutz, Luginbühl, Wasserfallen, Stöckli und von Graffenried. Die KandidatInnen unterscheiden sich aber auch hinsichtlich der Gemeinden, die ausgesprochen liberal sind. Da führt Wasserfallen knapp vor Luginbühl und deutlich vor Graffenried, während Amstutz und Stöckli hinten sind. Amstutz ist da zu rechts-konservativ und Stöckli zu links-etatistisch.

Zweitens, bestimmt man die Distanz der KandidatInnen untereinander auf beiden Dimensionen bestätigt sich der Unterschied zwischen den Lagern. Das linke hielt zusammen, das rechts nicht. Luginbühl hat sich eine eigenständige Position schaffen können, zwischen SVP und FDP. Eher differiert zu Amstutz und Wasserfallen in gleichem Masse.

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Unsere Methode erlaubt darüber hinaus, Aussagen über die Stimmenverhältnisse nach der politischen Struktur der Gemeinden zu machen:

. Amstutz, im ersten Wahlgang vorne, erreichte das absolute Mehr in den SVP-Hochburgen, in den bürgerlich geprägten Gemeinden und der FDP/BDP-Kommunen. Ein massives Problem hatte er aber in den linken Hochburgen, eingeschränkt auch in den Mitte/Links geprägten Zählkreisen. Insgesamt hat regional, nicht parteipolitisch punkten können.

. Luginbühl, am Ende Zweiter, kennt abgeschwächt das gleiche Profil. Das heisst, in den SVP-Hochburgen wurde er weniger gut gewählt als Amstutz, dafür machte er in den linkeren Gemeinden bessere Resultate. Er profitierte von den Wählenden aller KandidatInnen, tendenziell von denen, die Amstutz unterstützten am meisten.

. Stöckli, Dritter im ersten Ranking, hat ein komplementäres Profil zu seinen beiden Konkurrenten im zweiten Wahlgang. Im Berner Jura und in den linken Hochburgen lag er über dem absoluten Mehr, in den Mitte/Links-Gemeinden verpasste er dieses knapp. Dafür gibt es einen Rückgang seines Anteils in den rechteren Gemeinden. Ordentlich Stimmen machte er noch in moderat bürgerlich eingestellten Gemeinden.


Unsere Schlussfolgerungen für den zweiten Wahlgang

Unabhängig davon fragt sich: Was heisst das für den zweiten Wahlgang? – Zunächst sei erinnert, dass die Mobilisierung durch die drei verbleibenden Kandidaten entscheidend sein wird. Die Bund-Analyse abstrahiert davon weitgehend.

Sodann, Luginbühl fällt im zweiten Wahlgang wegen seiner breiten Abstützung entweder an der Sptize es Feldes, oder am Ende, wenn die Mobilisierung misslingt. Je SVP-orientierter eine Gemeinde ist, desto eher dürfte Stimmverluste geben, weil seine Partei die Avance für ein gemeinsame Sache abgelehnt hat. In den bürgerlichen geprägten Gemeinden dürfte er dafür vor allem bisherige FDP-Stimmen machen. Und er hat, nicht zuletzt wegen der Energiepolitik, eine sachpolitische Uebereinstimmung mit links, die sich im ersten Wahlgang noch nicht zeigte.

Schliesslich, Amstutz und Stöckli, die parteipolitisch profiliertersten KandidatInnen, haben zwei Optionen: Hochburgen mobilisieren oder in die Mitte Stimmen suchen gehen. Amstutz, der SVP-Hardlinie, kann Ersteres besser, wie er im Frühling zeigte. Ob es in einer tripolaren Situation für die Wahl reicht, bleibt indessen offen. Stöckli wiederum muss, wenn er gewählt werden will, ins parteipolitische Zentrum der Wählenden vorstossen. Er müsste in den Mitte/Links-Gemeinde stark aufholen und in den gemässigt bürgerlichen Gemeinden mit Luginbühl-Präferenz die zweiten Linie für sich gewinnen.

Wem was gelingt, weiss man in 10 Tagen!

Claude Longchamp

Amstutz dank Mobilisierungsfähigkeit gewählt – Wyss mit Support aus der Mitte und FDP nur knapp geschlagen

Die Karte kennt man. Das zentrale Muster der Erklärung zur jüngsten Ständeratswahl im Kanton Bern war der Stadt/Land-Gegensatz. Zwischenzeitlich haben wir gerechnet. Adrian Amstutz lag am Ende wegen seiner Mobilisierungsfähigkeit vorne, Ursula Wyss holte die Mehrheit der Stimmen von SP bis FDP.

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Adrian Amstutz kam im 2. Wahlgang auf 76 Prozent der Stimmen aus agrarischen Gemeinden. In touristisch geprägten Kommunen schaffte er es auf 68 Prozent. 67 Prozent waren es in agrarisch-gemischten Gemeinden, und Mehrheiten von 58 resp. 56 Prozent resultierten in Pendler- resp. Industriegemeinden. Gegenden, die durch Landwirtschaft, Industrie oder Tourismus geprägt sind, waren auf seiner Seite. Ursula Wyss erzielte ihr bestes Ergebnis in den städtischen Zentren, 65 Prozent der Stimmen gingen da an sie. 57 Prozent waren es in den einkommensstarken Gemeinden, 52 in den suburbanen und 50,4 in den periurbanen Kommunen. Sie ist die PolitikerInnen der Dienstleistungsgesellschaft.

Dieses Raumprofil hat Auswirkungen auf die parteipolitischen Affinitäten der beiden KandidatInnen im zweiten Wahlgang. Genaue Prozentwerte lassen sich hier nicht benennen. Doch können Affinitäten bestimmt und Wahrscheinlichkeiten geschätzt werden – etwa im Vergleich zu den Grossratswahlen 2010:

Erstens, beide KandidatInnen legten aufgrund der zusätzlichen Mobilisierung zu. Bei Amstutz ist der Effekt allerdings einiges höher als bei Wyss. Der linken Bewerberin gelang es aber besser, sich bei den WählerInnen anderer Parteien zu empfehlen.

Zweitens, Amstutz wurde im zweiten Wahlgang mehr als im kantonalen MIttel unterstützt, wo seine eigene SVP stark ist. Das gleiche gilt auch, wenn es sich um EDU-orientierte Gemeinden handelt. Schwach trifft dies auch für Kommunen mit einem erhöhten EVP-Anteil. In den beiden letzten Gemeindegruppen legte er von 1. zum 2. Wahlgang zu. In den SVP-Gemeinden hatte er sein Potenzial dagegen schon im ersten Wahlgang weitgehend ausgeschöpft.

Drittens, bei Wyss ist der parteipolitische Hintergrund breiter als beim Gewählten. Sie wurde stärker als im Mittel gewählt, wo die SP stark ist, die Grünen und/oder die PSA. Doch zeigen Gemeinden mit FDP-, GLP-, CVP- und GFL-Orientierung erhöhte Zustimmungswerte für die Sozialdemokratin. Stärker geworden ist im zweiten Wahlgang der Support für sie vor allem dort, wo es vergleichsweise viele GLP- und FDP-Wählende hat. Etwas verbessert hat sie sich auch in den klassischen linken Gemeinden, mit starker SP oder GP-Präsenz.

Viertens, nicht entscheidbar ist, ob die BDP auf die eine oder andere Seite tendierte. Eine eigentliche Bewegung in die eine oder andere Seite konnte die noch junge Partei nicht auslösen.

Was heisst das alles? Der Wahlsieg von Ständerat Adrian Amstutz wurde weitgehend durch seine eigene Partei erkämpft. Sein bekanntes Hardliner-Profil, verstärkt durch klar werberische Positionen in der Oeffnungs- und Armeefragen liess sich exemplarisch für die Mobilisierung von Personen einsetzen, die bei typischen konsens-orientierten Angeboten nicht angesprochen fühlen. Dieses Profilierung erschwerte es aber, über die direkt angesprochene, konservative Wählerschaft hinaus, zahlreiche Parteigänger zu finden.

Ursula Wyss bot in vielem das Gegenstück zu Adrian Amstutz. Doch die SP hat ihre Schlagkraft bei der Mobilisierung über die eigene Wählerschaft hinaus nicht so verbessern können wie die SVP. Dafür war ihre parteipolitische Abstützung breiter. Eine klare Mehrheit von Rotgrün, aber auch eine kleine Majorität der kleinen Mitte-Parteien und der FDP dürfte ihr die Stimme gegeben und damit dem Rückstand verkleinert haben.

Partei- und Personeneffekte nach amerikanischem Muster mischten sich bei dieser Wahl exemplarisch. Das zeigt sich auch an der Polarisierung. Amstutz griff mit relevanten Themen seine Gegnerschaft an. Diese reagiert mit negative voting auf das negative campaigning. Gemeint ist damit, dass man jene Kandidatur nicht wählte, die einen mehr ärgerte. Die Bilanz am Ende der Kampagne gab dem Sigriswiler recht – doch nur knapp.

Ich ziehe den Hut!

Marc-André Röthlisberger ist Mathematiker und am politischen Leben interessiert. Er hat die beste Prognose für den zweiten Umgang zu den Berner Ersatzwahlen in den Ständerat gemacht. Chapeau!

Vor dem 2. Wahlgang zu den Berner Ständeratswahlen wagte der Münsiger Bürger als einziger eine Prognose in Zahlen. Die Polit-Analysten bewerten die Lage zwar nicht anders, aber wager. Für Adrian Amstutz kam er auf 51,5 Prozent Stimmen. Effektiv hatte er 50,6 Prozent – das ist weniger als 1 Prozentpunkt Fehlerquote!

Zwei Mal habe ich von “RM”, wie er auf dem zoonpoliticon-Blog erscheint, Post erhalten: einmal vor der Wahl – einmal nach der Wahl. Im Vorfeld begründete er seine Annahmen, im Nachhinein kritisierte er sie.

Das ist genau das Richtige vorgehen: Mit expliziten Hypothesen arbeiten, das heisst von begründeten Annahmen auszugehen, um dann zu sehen, ob sie sich bestätigt haben. Wenn ja hat mein ein Erklärungs/Prognose-Modell, wenn nein, muss man an einem verbesserten hierzu arbeiten.

18 Tage vor der Wahl lauteten Röthlisberger Hypothesen:

. Die Beteiligung geht zurück, letztlich aber nur wegen, weil von den ehemaligen WählerInnen von Christa Markwalder zahlreiche sich für keine der verbleibenden Kandidaturen erwärmen können. Röthliberger ging von 45 Prozent dieser Wahlerschaft, die so reagieren würden.
. Bei der Stimmenübertragung: Die Jost-WählerInnen gehen weitgehend zu Amstutz, da sie wertkonservativ sind. Die verbleibenden WählerInnen von Markwalder gehen zu 60 Prozent zu Wyss, zu 40 Prozent zu Amstutz.
. Neutralisiert hat er weitere denkbare Effekte, die sich aus der Kombination von Wahlen und Abstimmungen ergeben können, die nur im 1. Wahlgang spielten.

Das Ergebnis daraus lautete: Adrian Amstutz wird gewählt – und zwar mit 51,5 Prozent bei einer Beteiligung von gut 40 Prozent. Die Begründungen: Das Resultat passt ins allgemeine Klima, berücksichtigt die wichtigsten wertemässigen Konfliktlinien und ist Ausdruck des Themenwahlkampfes (vor allem Anti-Eu-Politik) des SVP-Hardliniers.

In der Evaluierung der Prognose kommt Mathematiker Röthlisberger zum Schluss:

. Die Mobilisierungsschätzung stimmte weitgehend.
. Die Annahmen für die (verbliebenen) Markwalder-Stimmen waren korrekt.
. Die Annahmen für die Jost-Stimmen war zu stark in Richtung EVP gewichtet. Im urbanen Umfeld ist die EVP näher bei rotgrün als bei der SVP.

Marc-André Röthlisberger ist ein Wagnis eingegangen. Das sagt er selber. Gut für ihn war, dass er seine Prognose etwas ausserhalb der Oeffentlichkeit machen konnte. Denn die ist nur an “richtig/falsch” interessiert, nicht an der Frage, warum etwas stimmt oder nicht.

Der Prognostiker ist genau nach Karl Popper vorgegangen: Er hat politische Annahmen (Theorie) formalisiert, mit expliziten Hypothesen gearbeitet (Operationalisierung) und ihre Richtigkeit (Verifikation, Falsifikation) überprüft hat. Daraus so kann man nur lernen!

Ein wenig unschlüssig bin ich, weil einiges doch nur Schätzungen sind. Generalisierung über das Beispiel hinaus sind zu erwarten, wenn die verwendeten Parameter abgeleitet werden können. Daran sollte man weiterarbeiten – nicht nur die Spezialisten für Zahlen, sondern auch die für politische Analysen.

Und: Prognosen im 2. Wahlgang sind einfacher als im 1. Das ist eine grössete Herausforderung an die Kunst der Vorhersage bei Ständeratswahlen.

Ich bin stolz, einen so findigen Mathematiker in meiner Leserschaft zu haben!

Claude Longchamp

Ständeratswahlen im Kanton Bern: zum Beispiel Niederönz

Morgen wählt der Kanton Bern die Nachfolge für Simonettas Sommaruga als Ständerätin. Wer vorne liegt, weiss man im Verlauf des Nachmittags. Wer nicht solange warten will, macht sich seine eigene Hochrechnung – zum Beispiel mit Niederönz.

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Was aus der Wahlurne von Niederönz bei Ständeratswahlen hervorgeht, hat gesamtkantonal Bestand

Das beste kleine Abbild des Kantons im ersten Wahlgang zu den Ersatzwahlen in den Ständerat 2011 war die oberaargauische Gemeinde Niederönz. Bei keiner der vier Kandidaturen war die Abweichung grösser als 1 Prozentpunkt. Und bei der Stimmbeteiligung wich man im untersten Promillebereich ab. Vorne lag Amstutz mit 39.8 Prozent der Stimmen (kantonal: 38.8), gefolgt von Ursula Wyss mit 34.2 Prozent (kantonal 33.6), Christa Markwalder mit 18.7 (kantonal 19.7) und Mark Jost mit 7.3 (kantonal 7.9).

Wenn man es ganz einfach haben will, kann man morgen Sonntag schnell auf das Resultat der Vorortsgemeinde von Langenthal schauen. Denn an ihr kann man schon mal abschätzen, was Sache werden dürfte.

Natürlich sind Einzelbeobachtungen mit Vorsicht zu geniessen. Deshalb empfiehlt es sich, weitere Informationen beizubeziehen. Schauen werde ich in erster Linie auf Vechigen und Kaufdorf in der Berner Agglomeration. Sie waren im ersten Wahlgang ebenfalls recht präzise Trendgemeinde. Das gilt, mit Einschränkungen, auch für Plagne im französischen Kantonsteil und Schwanden bei Brienz in der deutschsprachigen Gegend des Kantons Bern.

Das Interessante an den benannten Gemeinden ist, dass keine besonders gross oder klein ist. Es sind typisch bernische Mittelgemeinden mit etwas mehr oder weniger als 1000 EinwohnerInnen. Keine der Kommunen ist ein Zentrum, jedoch liegt auch keine ganz in der Peripherie. Vielmehr haben sie alle etwas Eingemittetes.

Niederönz beispielsweise hat den klassischen Weg einer Berner Ortschaft hinter sich: Zuerst zähringisches, dann kyburgisches Gut, anschliessend klösterlich via Herzogenbuchsee, dann herrschaftlich bei Bern, kommt es bei der Kantonsgründung zum Amtsbezirk Wangen. Seit der grossen Kantonsreorganisation ist man beim Verwaltungskreis Oberaargau zugehörig. Die Bevölkerungszahl wuchs seit dem 19. Jahrhundert gemächlich an, in den letzten 40 Jahren hat sie sich rasch auf rund 1500 Personen verdoppelt. Aus der ehemaligen Bauerngemeinden auf dem Land wurde so eine Agglogemeinde mit gemischter Wirtschaftsstruktur.

Politisch ist die SVP führend: Bei den Nationalratswahlen gab es einen Anteil von 37 Prozent für diese Partei, gefolgt von der SP mit 20, der FDP mit 15 und den Grünen mit 9 Prozent am WählerInnen-Kuchen. Niederönz kennt damit, wie der Kanton auch, eine bürgerlicher Mehrheit und eine starke linke Minderheit. Entsprechend stimmt man. Bei der Waffeninitiative war man mehrheitlich dagegen, bei Mühleberg II mehrheitlich dafür.

Die grösste Unsicherheit bei dieser einfachen Hochrechnung liegt in der Mobilisierung. Erwartet wird, dass die Teilnahme tiefer sein wird als am 13. Februar. Wenn sie gesamtkantonal gleichmässig zurückgeht, hat das auf die Mustergemeinden keinen Einfluss, wenn nicht schon.

Gespannt warte ich auf die Gemeinde-Resultate morgen!

Claude Longchamp

Die bisher beste Uebersicht zu den Berner Ständeratswahlen

Das sage einer noch, die Tagespresse habe die Recherche verlernt. Die Berner Zeitung präsentiert heute mit einer doppelseitigen Uebersicht zu den Berner Ständeratswahlen eine tolle Eigenleistung: ein Lob an das Medium, die Parteien und KandidatInnen, verbunden mit einem Gedankengang, der bisher kaum in die Berichterstattung eingeflossen ist.

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Allgemein rechnet man mit einem offen Rennen zwischen Christa Markwalder (FDP), Ursula Wyss (SP) und Adrian Amstutz (SVp), während Marc Jost (nicht auf der Bildmontage) nur Aussenseiterchancen eingeräumt werden.

Das könnte zum Benchmark für journalistische Berichte zu Ständeratswahlen werden: Die BZ zeigt heute, wo die 4 Berner StänderatskandiatInnen in 10 aktuellen Polit-Fragen stehen. Siei spekuliert zurückhaltend-korrekt, was mögliche Wahlausgänge sein könnten. Sie zeigt, wer im Nationalrat nachrücken würde, je nach dem, wer in den Ständerat wechselt. Sie will auch wissen, was die Gewählten im Herbst machen, wenn sie zur Widerwahl antreten müssen, bevor sie sich profilieren konnten. Und Hauptautor Urs Egli behandelt ausführlich, was sich die Parteien den Wahlkampf kosten lassen.

180’000 Franken hat die SP für beide möglichen Wahlgäng budgetiert. 120’00 Franken sind es bei der SVP, 100’000 bei der FDP. Die EVP beziffert ihre Ausgaben bei 10’000 Franken. Natürlich sind das alles Selbstdeklarationen; doch sie erscheinen nicht abwägig.

Die neue Transparenz ist bemerkenswert. Sogar über die Struktur des Mitteleinsatzes wird zwischenzeitlich geredet. Ein Prospekt für die 700’000 offiziellen Couverts mit den Unterlagen macht einen erheblichen Teil der Ausgabe aus; die EVP kann sich diese Werbung nicht leisten. Darüber hinaus kosten die Wahlplakate viel, und je nachdem reicht es auch für Inserate in Zeitung und Aktivitäten im Internet.

Bei der SP und der EVP bezahlt die Partei den Wahlkampf, bei der SVP und der FDP steuern die KandidatInnen etwas bei. Beide Parteien zählen auch darauf, in der zweiten Runde vom Handels- und Industrieverein ein nicht näher beziffertes Zusatzbudget gesprochen zu bekommen.

Wenn das Schule macht, verschwindet eine der oft beklagten Quellen der Intransparenz in schweizerischen Wahlkämpfen. Denn bisher weiss man offiziell wenig darüber, obwohl der Verdacht immer lauter ausgesprochen wird, dass es einen Zusammenhang zwischen Budgethöhe und Wahlerfolg haben könnte.

Besonders herausgestrichen sei, dass die bernischen SVP mitmacht, denn die schweizerische SVP, deren Vizepräsident Adrian Amstutz ist, weigert sich ja standhaft bekannt zu geben, was sie 2011 für die Wahlen auszugeben gedenkt.

Doch damit genug des Lobes an die Medien, Parteien und KandidatInnen. Einen Gedankengang, der noch kaum je erörtert worden ist, möchte ich hier als anregung beisteuren. Gleichzeitig mit den Berner Ersatzwahlen in den Ständerat findet die Konsultativ-Abstimmung über den Ersatz des Kernkraftwerkes in Mühleberg statt. Der Ausgang dieser Entscheidung erscheint ebenso offen wie der bei den Ständeratswahlen. Doch dürfte er diesen beeinflussen, wenn es in die zweite Runde geht: Sagt Bern Ja zum einem einem neuen KKW, kann der oder die bürgerliche FavoritIn deklarieren, er oder sie vertrete in einer der wichtigsten Streitfragen der kommenden Legislatur die Mehrheit der Bevölkerung. Stimmt Bern indessen gegen eines neues AKW, kan sich wohl nur Ursula Ursula Wyss strahlend in der gleichen Rolle präsentieren.

Spannung gibt es nicht nur am Sonntag, auch der Montag könnte interessant werden, wenn ….

Claude Longchamp