Regiert Geld den politikwissenschaftlichen Geist?

(zoon politicon) Jüngst habe ich am IDHEAP in Lausanne über politische Kampagnen referiert. Und bin ich dabei auf ein wenig reflektiertes Phänomen gestossen.

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Der Olympische Geist verkommt mehr und mehr zum Geldgeschäft; verkommt jetzt auch der politikwissenschaftliche Geist zu zur unreflektierten Uebernahme von Marktkategorien in die Politikanalyse?

Das Phänomen
Nicht zum ersten Mal ist mir bei diesem oder einem mit ihm verwandten Thema aufgefallen, dass es dabei im studentischen Publikum nicht nur eine offizielle, sondern auch eine inoffizielle Leseweise gibt: Letztere lautet vereinfacht: Geld bestimmt Kampagnen, und Kampagne bestimmen die Politik. Also bestimmt Geld die Politik!

Ich muss da immer gleich nachfragen: Haben nicht die Grünen bei den jüngsten Parlamentswahlen in der Schweiz klar zugelegt, mit der Klimapolitik ein neues Thema gesetzt und den Anspruch angemeldet zu haben, nach den zahlreichen Erfolgen in den Städte, Kantonen und auch im Bund Teil der Regierungsparteien zu werden? Und wares es nicht sie, die – mangels Geld – auf eine nationale Kampagne “im gekauften Raum” verzichtet haben? – Ist nicht die Annahme der Verwahrungsinitiative in der Volksabstimmung gegen den fast einhelligen Willen von Regierung und Parlament – und ohne eigentlichen Abstimmungskampf – ein deutlicher Gegenbeleg dafür, dass man auch ohne Geld politische Mehrheiten für sich gewinnen kann?

Zu den Forschungsergebnissen
Die Wahl- und Abstimmungsforschung weltweit und auch in der Schweiz hat sich des Zusammenhangs angenommen. In den USA lassen sich positive Korrelationen nachweisen zwischen dem finanziellen Mitteleinsatz einerseits, und dem Wahlerfolg andererseits. Doch da hat das System: Die Geldbeschaffung ist eine Teil der Kampagnen. Sie ist ein Teil der vorherrschenden Kultur, auch in der Politik, die sich am rationalen Marktverhalten der Anbieter und Nachfrager ausrichtet. In der Schweiz sind die Belege für die Käuflichkeit von Wahlen und Abstimmungen deutlicher geringer. Unverändert gilt das sibyllinische Bonmont des Berner Politologen Wolf Linder: “Dass Wahlen und Abstimmungen in Schweiz käuflich seien, ist bisher nicht bewiesen worden, – allerdings ist auch das Gegenteil nicht bewiesen worden.”

Zur Analyse
Ich habe eine andere These, für die hidden agenda in der Wissenschaft, wenn es um den Einfluss von Geld in der Politik geht: Die Ansätze der politischen Oekonomie, die ein rationales Verhalten von Akteure annehmen, das sich auf materielle, sprich finanzielle Interessen reduzieren lasse, sind auch in der Politikwissenschaft zu vorherrschenden Deutungsmacht aufgesteigen. Der Vorgang verläuft mittlerweile kritiklos. Dabei übersieht man die Konsequenzen, die sich aus der Uebertragung von Vorstellungen ergeben, die für das Marktverhalten, das durch Angebot und Nachfrage resp. durch Geld als Kommunikationsmittel gesteuert wird, typisch sind.

Sozialphilosophisch inspirierte Theoretiker der europäischen Gegenwart – und zwar Jürgen Habermas bis Niklas Luhmann – haben letztlich immer darauf bestanden, Politik und Wirtschaft, als Teilsysteme wie auch als Lebenswelten, in eigenen Termini zu denken und zu untersuchen. Denn sie folgen unterschiedlichen Logiken, die aus der Geschichte der Demokratie, auch auch aus der Differenzierung von Funktionen hergeleitet werden können.

Mein Wunsch
Das würde dafür sprechen, bewusster mit Analysekategorien umzugehen. Geld ist das unbestrittene Steuerungsmittel der Wirtschaft, Macht jenes der Politik. Das sollte man auch in der Politikwissenschaft noch unreflektiert aufgeben, werde in den sichtbar-offiziellen, wie auch in den versteckt-inoffiziellen Deutungen!

Claude Longchamp

Les campagnes électorales

Cours de Claude Longchamp à IDHEAP

Le rôle des autorités dans les campagnes électorales et de votation est devenu plus actif. Il devient de plus en plus important, standardisé à un nouveau niveau.
Quelles sont les possibilités et les limites de la communication politique des autorités à l’occasion d’élections et de votations ? Le cours d’aujourd’hui étudie cette question.

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Qu’est-ce que c’est une campagne électorales, et quelles sont ses effets? – Les questions qui sont traitées pendant ce cours.

Les autorités ne sont généralement pas directement impliquées dans les campagnes électorales; nous traitons cependant cet aspect, car les campagnes sont mieux étudiées et peuvent contribuer à une meilleure compréhension de la communication politique des décisions. Nous y apprenons les visions théoriques, que la psychologie, l’économie et la science de la communication ont développé, connaissent et en discutent l’utilisation pour les élections du conseil national 2007.

Les autorités sont plus ou moins engagées dans les campagnes de votation – soit du côté “pour” les référendums, ou (généralement) du côté des “contre” pour les initiatives populaires. Pour pouvoir comprendre les effets de la communication, nous apprenons à connaître le dispositif, qui a été spécialement développé pour l’analyse dynamique des votations populaires. Nous apprenons à définir ce que sont les prédispositions des décisions et comment on y a recours dans la communication de campagne.

Dans la troisième partie du cours, nous appliquons ce que nous avons appris sur la formation d’opinion à la votation populaire pour l’adhésion de la Suisse aux accords de Schengen et Dublin, et discuterons des questions posées par les participants sur les conclusions de la généralisation.

Les documents du cours peuvent être consultés en allemand ou en français.

Claude Longchamp

Mein Stimmungsbericht

Kurzer Rückblick auf heute (III)

(zoon politicon) Im St. Galler Kurs “Empirische Politikforschung in der Praxis” war heute die Abstimmungsforschung an der Reihe. Anders als in der verwandten Wahlforschung, die elaboriert ist, sucht man in der Abstimmungsforschung noch nach allgemein gültigen Erklärungen. Jedoch ist man weiter, als mancher noch denkt.

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Die Abstimmungsforschung beschäftigt sich mit der Frage “Wer wie und warum auf eine bestimmte Art und Weise gestimmt hat?”. Sie ist damit entscheidungs- und handlungstheoretisch ausgerichtet, und sie will einen Beitrag leisten zum Wissen, wie direkte Demokratie funktioniert.

1. Der Dispositionsansatz als Zugang zur Entscheidungstheorie
Der Dispositionsansatz, der heute vorgestellt und diskutiert wurde, ist induktiv entwickelt worden. Er setze bei Beobachtungen zur individuellen Meinungsbildung an. Er verallgemeinerte diese zu geprüften Aussagen, und er prognostiziert die Dynamiken der Meinungsbildung mit Hypothesen. Aus den empirisch bewährten Hypothesen wird gegenwärtig die Theorie des Abstimmens konstruiert. Weil dabei der mehrstufige Prozess von Prädisposition, Disposition und Entscheidung massgeblich ist, wird der Ansatz, der sich vorläufig ausgebildet hat, auch Dispositionsansatz genannt.

2. Meinungsbildung bei Volksinitiativen
Bei Initiative ist man heute schon sehr weit vorangekommen: Meist findet ein Meinungswandel von einer mindestens eher befürwortenden Mehrheit zu einer ablehnenden Mehrheit am Abstimmungstag statt. Das hat nichts mit einem Artefakt der Umfrageforschung zu tun, sondern kann erklärt werden: Im Meinungsbildungsprozess zu Volksinitiativen, die ein Bevölkerungsproblem aufnehmen, entwickeln sich die Entscheidungsabsichten aufgrund einer Veränderung der Optik. Am Anfang beurteilt man das mit der Initiative angesprochene Problem, am Ende die mit der Initiative vorgeschlagene Lösung samt ihren Konsequenzen. Dabei kann es sein, dass das Problem unverändert gesehen, dessen Lösung jedoch auf anderem Wege bevorzugt wird. Die Kommunikation gegen Volksinitiativen verstärkt diesen Meinungswandel, der durch die Diskussion im Abstimmungskampf entsteht, indem sie meist die schwächste Stelle der Forderungen problematisiert.
91 Prozent der Volksinitiativen, die in der Schweiz lanciert wurden, sind denn auch abgelehnt worden.

3. Meinungsbildung bei Referenden
Bei Referenden gibt es keine so klare Reduktion der Probleme. Das hat mit den stark wechselnden Konstellationen zu tun. Wenn die Mehrheitskoalition aus der parlamentarischen Beratung bestehen bleibt und die befürwortende Seite im Abstimmungskampf offensiv auftritt, hat sie insbesondere in einer frühen Kampagnenphase gute Chancen, unentschiedene BürgerInnen durch Informationsarbeit anzusprechen, während das in der Schlussphase der Opposition besser gelingt. Zerfällt jedoch die befürwortenden parlametarische Mehrheit während des Abstimmungskampfes und/oder bleibt die Ja-Seite passiv, verringert sich die Zustimmungsbereitschaft. Entsprechen kommt es hier mehr auf die behördliche Willensbildung, die Formierung sachbezogener Allianzen und die Umsetzung in Abstimmungskampagnen darauf an. Das hat damit zu tun, dass nicht alle, aber viele Abstimmungsthemen in Referendumssituation, nicht im gleichen Masse wie bei Volksinitiativen, Betroffenheiten auslösen und damit weniger aufgrund der individuellen Alltagserfahrungen entscheidbar sind.
Entsprechend sind die Chancen von Behördenvorlagen unterschiedlich. Obligatorische Verfassungsreferenden werden angesichts der geringen Problematisierung durch Opposition und Bevölkerung grossmehrheitlich im Sinne von Regierung und Parlament angenommen, während bei Referenden Annahme- und Ablehnungswahrscheinlichkeit etwa gleich gross sind.

4. Modell- resp. Theoriebildung
Das Modell, dass individuelle und kollektive Entscheidungsfindung miteinander kombiniert, muss also Elitepositionen (Regierungs, Parlament, Parteien), den Abstimmungskampf (Medien, Kampagnen) einerseits berücksichtigen, anderseits die Alltagserfahrungen, welche die BürgerInnen ihre Meinungsbildung einbringen (Grad des prädisponierten Problembewusstseins, Informationsverarbeitungsroutinen, etc).
Auch wenn die Theoretisierung hier eindeutig noch nicht so weit ist wie in der Wahlforschung, sind damit die Eckwerte bestimmt. Diese lassen bereits heute teilweise brauchbare (Trend)Prognosen zu. Deren Evaluierung hilft, die ungelösten Themen der Modellbildung zu verbessern, während die wissenschaftliche Beschäftigung mit den bewährten Modellen die Theoriebildung vorantreiben wird.
So, ich hoffe, dieses Fallbeispiel der induktiven Theorieentwicklung in der Politikwissenschaft war eindrücklich und spannend genug, dass daran weiter gearbeitet wird.

Claude Longchamp

Empirische Politikforschung in der Praxis (III): Das Anwendungsfeld “Volksabstimmungen”

(zoon politicon) Volksabstimmungen sind ein konstitutiver Bestandteil des politischen Systems der Schweiz. Nirgends wo sonst auf der Welt wird so häufig über Sachfragen abgestimmt wie hierzulande. Für die Politikforschung ist das eine besondere Herausforderung: In keinem anderen Teilgebiet hat die Politikwissenschaft in der Schweiz einen so grossen Standortvorteil wie in diesem.

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Im Gegensatz zur weit entwickelten Wahlforschung befindet sich die sozialwissenschaftliche Abstimmungsforschung erst noch in den Anfängen; für die Politikwissenschaft der Schweiz ist das eine der grössten Herausforderungen.

Zum Forschungsstand in der Grundlagen- und Anwendungsforschung
Die empirische Forschung zum Abstimmungsverhalten der BürgerInnen begann dennoch eher zögerlich: Raumbezogene Datenanalysen standen am Anfang (50er und 60er Jahre), Untersuchungen auf Befragungsbasis folgten in den 70er Jahren. Die Grundlagenforschung beschränkte sich dabei weitgehend auf die Nachanalyse von Volksentscheidungen. Sie entwickelte damit, etwa im Bereich der VOX-Untersuchungen, Erklärungskompetenzen, jedoch kaum Prognosefähigkeiten.

Die praxisorientierte Politikforschung zu Volksabstimmungen hat einen hierzu komplementären Weg beschritten. Sie hat vor allem an ihrer Fähigkeit gearbeitet, den Abstimmungsausgang vorherzusehen. Sie kann das zwar nicht als Punktprognose machen, jedoch ist sie in der Lage, das aus dem Prozess der Meinungsbildung heraus zu leisten. Sie hat hierfür spezifische Untersuchungsdesigns vorgeschlagen, Methoden und Verfahren der Analyse entwickelt, und sie arbeitet seit einigen Jahren unter dem Stichwort “Dispositionsansatz” an konzeptionellen Erklärungen der erarbeiteten Befunde resp. auffindbaren Typen der Meinungsbildung.

Zielsetzungen des dritten Tages
Der dritte Tag der Veranstaltung “Empirische Politikforschung in der Praxis” widmet sich ganz dem Stand der Abstimmungsforschung in der Schweiz, mit einem Vergleich zum Ausland.

Im Gegensatz zum Vorgehen bei der Wahlforschung beschreiten wir, wie die Forschung auch, nicht den klassische deduktiven Weg von der Theorie über die Prognose hin zur Beobachtung und allfälligen Modifikation von Theorien. Vielmehr wählen wir das induktive Vorgehen: Wir starten mit Beobachtungen, verallgemeinern diese zu Aussagen, versuchen diese hypothetisch zu erklären und schauen, welche der so gemachten Annahmen bestätigt werden können resp. widerlegt werden.

Das führt uns zum gegenwärtigen Stand der Dinge, der durch den Dispositionsansatz am besten reflektiert wird. Diese soll in diesem Kursmodul exemplarisch vorgeführt werden, und es soll gezeigt werden, ob und wie er sich bewährt bei den jüngsten Volksabstimmungen in der Schweiz bewährt hat.

Mit einem Ausblick soll auch der Theorie-Ansatz, der davon unabhängig für die emprische issues-Analyse durch den amerikanischen Politikwissenschafter John Zaller entwickelt worden ist, vorgestellt und zur Erklärung im Rahmen des Dispositionsansatzes diskutiert werden.

Unterlagen
Die Unterlagen zu diesem Kurstag sind hier abrufbar.

Claude Longchamp

Die Evolution des Wissens durch Theoriebildung und Informationsgewinnung

(zoon politicon) Die Falsifikation oder Verifikation einer Hypothese ist das A und O der Theorie emprischer Wissenschaften nach Karl R. Popper. Denn so kann man Fehler in den theoretischen Annahmen entdecken und vermeiden, und sich so der Wahrheit annähern.

Der evolutionäre Prozess von Information-Theorie-Information
Aus verifizierten Hypthesen entsteht aber keine Theorie von selbst. Der Prozess der Entwicklung empirische gesättigter Theorien in der Wissenschaft ist komplexer. Der Soziologe Volker Dreier hat für die Evolution in der Theoriebildung und Informationsgewinnung in den Sozialwissenschaften ein sinnvolles, aber noch wenig gebräuchliches Schema vorgeschlagen.

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Die Operationen: Induktion, Konstruktion, Deduktion, Reduktion
Das Modell unterscheidet zunächst zwischen Theorie und Information, dann zwischen Hypothese und Prognose. Der klassisch deduktive Weg der Wissenschaften, die Deduktion oder Ableitung von Prognosen aus der Theorie setzt Beweistheorie vor aus. Es sind begrifflich, logisch und datenmässig geprüfte Aussagen zu einem Gegenstand. Der Weg hierzu setzt Hypothesen voraus, die sich bewährt haben und nicht mehr modifiziert werden müssen. Dreier nennt ihn Konstruktion. Die Herstellung von Theorien geschieht, indem Aussagen, die aus der Hypothese entstehen, miteinander verknüpft in eine grösseres Ganzes überführt werden, und das meist abstrakt, aber verbal beschrieben werden.

Der Kreislauf ist damit noch nicht geschlossen. Prognosen, die stimmen, führen zu neuen, relevante Informationen. Dreier nennt das die Reduktion. Geleistet wird das durch Bestätigungstheorien. Informationen wiederum stehen nicht nur am Ende des Kreislaufes, sondern am Anfang: Mittels Heuristik werden solche Informationen in Arbeitshypothesen umgewandelt, die anschliessen der oben beschriebenen Prüfung unterzogen werden.

Die theoretischen Schritte sind demnach

. die Heuristik in der Induktion,
. die Begründung in der Konstruktion
. der Beweis in der Deduktion und
. die Bestätigung in der Reduktion.

Dabei bleibt man stets im gleichen Wissenschaftsprogramm. Man entwickelt mit ihm Theorie, und man verwendet die Theorien für die Gewinnung relevanter Informationen, die ihrerseits zu verbesserten Theorie resp. präzisierten Informationen führen können.

Die Anwendung in meiner Vorlesung
Die Wahlforschung ist ein typisches Beispiel hierfür; sie gilt als eine der weitentwickeltsten Teilbereich der Sozialwissenschaften, weshalb man heute überwiegend deduktiv-reduktiv verfährt.
Die Abstimmungsforschung, die ungleich weniger entwickelt ist, verfährt noch überwiegend umgekehrt. Sie verfährt deshalb, wissenschaftstheoretisch gesprochen, induktiv-konstruktiv. Doch dazu nächste Woche mehr.

Geruhsames Wochenende!

Claude Longchamp

Kurzer Rückblick auf heute (II)

(zoon politicon) Wahlentscheidungen, die wir heute im Kurs “Empirische Politikforschung in der Praxis” behandelt haben, sind sozialwissenschaftlich gut untersucht. Sie haben, mit dem Wahlergebnis, das man erklären will, eine objektive und quantifizierte Grösse als Ausgangspunkt. Sie kommen in allen allen Demokratie vor, und sie folgen sich zeitlich in regelmässigen Abständen. Das sind fast schon ideale Voraussetzungen für empirische Forschung. Hinzu kommt, dass es sich um ein Forschungsfeld handelt, indem sich Grundlagen- und Anwendungsforschung seit langem bewegen und sich auch gegenseitig befruchtet haben. Wahlforschung ist heute nicht nur eine der entickeltesten Teilgebiete der Politikwissenschaft. Sie hilft auch, relevante Tatsachen zu identifizieren, sie bietet Erklärungen hierfür an, sie erlaubt Prognosen, und sie gibt auch Handlungshinweise für ein rationaleres Verhalten politischer Akteure.


Mein Arbeitsplatz nach den letzten Parlamentswahlen im TV-Studio Leutschenbach, wo ich als Wahlanalytiker für die SRG SSR idée suisse tätig war

1. Theorien des Wählens
Die relevante Theoriediskussion ist auf Deutsch im Handbuch Wahlforschung weitgehend dargestellt worden. Auf der theoretischen Ebene werden vier Ansätze unterschieden:
. Wahlgeografische Erklärungen aufgrund der räumlichen Bedingungen, die Religion, Sozialstruktur und politische Tradition formen und so vor allem in Agrargesellschaften politische Entscheidungen bei Wahlen determinieren;
. wahlsoziologische Erklärungen, wobei politische Parteien das konfliktreiche Verhalten von BürgerInnen regeln, indem sie ihre Werthaltungen, Interessen und Gruppenzugehörigkeiten während Wahlkämpfen repolitisieren;
. wahlpsychologische Erklärungen, für die Einstellungen der BürgerInnen wie die mittelfristige Parteiidentifikation, die Kandidaten- und Themenorientierungen, die während des Wahlkampfes entstehen, die Wahlentscheidungen bestimmen;
. und wahlökonomische Erlärungen, die BürgerInnen als rationale Nutzenmaximierer sehen, die bei Wahlen auf dieser Basis namentlich eine ökonomische Evaluierung der Regierungsarbeit vornehmen.
Nach Ansicht verschiedener führender Wahlforscher zeichnet sich heute immer mehr ab, dass wahlgeografische und wahlsoziologische Theorien zu komplex angelegt sind und die Erklärung der Wahlentscheidung zu weit hergeholt suchen. Diese findet nach Auffassung von Politikwissenschaftern wie Jürgen Falter weitgehend im Menschen selber statt und könnte mit einer Synthese von ökonomischen und psychologischen Theorien noch verbessert untersucht resp. erklärt werden.

2. Empirie (bezogen auf die Schweiz)
. Seit 1995 testet die akademische Wahlforschung in der Schweiz sozialwissenschaftliche Theorien, um das hiesige Wahlverhalten zu erklären. Sie kommt dabei zum Schluss, dass es am sinnvollsten ist, sozialpsychologische Ansätze, angereichert durch ökonomische Erklärungen einzusetzen. Das aktuelle Wahlverhalten ergibt sich demnach durch die bisherige Wahl, die mittelfristige Parteiidentifikation und die Position auf der Links/Rechts-Achse, erweitert um die Themenidentifikationen der Wählenden.
. Die angewandte Wahlforschung wurde ihrerseits 1999 neu begründet. Sie versucht, sowohl nachfrage- wie auch angebotsseitig Wahlverhalten zu erklären. Die Parteien werden nicht als fixe Grössen gesehen, sondern aufgrund ihrer Kampagnenfähigkeit als variable, die sich in unterschiedlich intensivem und geeignetem Masse an die Wählerschaft wenden. Diese wiederum identifiziert sich mit Parteien aufgrund eines für das Zielpublikum adäquat geführten Wahlkampfes, aufgrund der medialisierten Personen, welche die Partei repräsentieren und aufgrund von Werthaltungen resp. politischen Positionen in Grundsatzfragen.

3. Praxis (in der Schweiz)
In der Praxis geht es allerdings weit weniger um die Bildung von Erklärungsmodellen, denn um die Prognosefähigkeit der Wahlforschung. Dabei kommen immer mehr verschiedene Instrumente zum Einsatz, wie Wahlumfragen, Wahlbörsen, und ökonometrische Modelle. Bisher arbeiten kein Instrument ganz fehlerfrei. Die Güte der Prognosen kann aber verglichen werden. Anders als im Ausland schneiden dabei Wahlumfragen in der Schweiz neuerdings am besten ab. Wahlbörsen erweisen sich als etwas weniger genau, und sie haben vor allem keinen Erklärungswert. Extrapolationen von kantonalen Wahlen sind ebenfalls etwas weniger genau, vor allem weil sie die vermehrte Nationalisierung der Wahlkämpfe nicht reflektieren.

Meine Bilanz
Die Wahlforschung entwickelte sich rasch. Ihre Anfänge in der Schweiz gehen auf die 70er Jahre zurück. Die rasanten Veränderungen der Parteistärken bei Nationalratswahlen seit 1995 haben sowohl die Grundlagen- wie auch die Anwendungsforschung stimuliert. Die Erkenntnisfortschritte sind rasch gewachsen. Die Prognosefähigkeit hat generell zugenommen. Die Erklärungskraft der verwendeten Ansätze sind noch etwas uneinheitlich, es zeichnet sich aber hierzulande ein sozialpsychologischer mainstream ab, erweitert um ökonomische Erklärungen oder um kommunikationswissenschaftliche.
Die Wahlforschung ist generell wie auch in der Schweiz einer jener Zweige in der Politikwissenschaften, die durch eine evolutionäre Wissensvermehrung ausgehend von der Wissenschaft, aber auch übergreifend auf die Praxis gekennzeichnet sind.

Claude Longchamp

Empirische Politikforschung in der Praxis (II): das Anwendungsfeld “Wahlen”

(zoon politicon) In unserer Vorlesung “Empirische Politikforschung in der Praxis” steht das erste Anwendungsfeld an. Es handelt sich um Wahlen. Sie werden, wie angekündigt, unter drei Aspekten behandelt:

. den Theorien der Wahlforschung
. ausgewählten empirischen Ergebnisse hierzu
. und praxisrelevanten Themen der Wahlforschung.

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Szenen aus dem amerikanischen Wahlkampf 2008: “Who wins?” ist auch die zentrale Frage der empirischen Wahlforschung in Theorie und Praxis.

Das ganze wird auf die Frage der Prognosefähigkeit von Wahlen zugespitzt: Einerseits gehen wir der sehr praktischen Frage nach, war 2007 in der Schweiz die besten Wahlprognosen lieferte (Wahlbefragungen, Wahlbörsen, oder politökonomische Modelle). Anderseits fragen wir, welche Ansätze aus der Wahltheorie die besten Erklärungsansätze anbieten.

Wir behandeln Ergebnisse aus dem Studienreihen “Selects” und “Wahlbarometer”, und wir kombinieren sie mit Medieninhaltsanalysen zu Trend im gekauften und redaktionellen Raum während des jüngsten Wahlkampfes.

Ich verspreche nicht zu viel: Der eine oder andere Primeur aus der aktuellen Wahlforschung ist schon drin.

Am Schluss der Veranstaltung fragen wir uns, wie Theorie und Praxis in der Wahlforschung zusammenhängen, und wie, auf der Basis des kritischen Rationalismus, weitere Erkenntnisfortschritte möglich sind. Denn daran sind TheoretikerInnen wie PraktikerInnen interessiert!

Hier schon mal die neuen Unterlagen!

Claude Longchamp

“Wahlbarometer” – die praktische Wahlforschung in der Schweiz

(zoon politicon) “Wahlbarometer” ist gleichzeitig ein Projektname und ein Programm: Es handelt sich um das Informationssystem der SRG SSR idée suisse Medien, das im Jahr vor den eidgenössischen Wahlen aufgezogen wird. Und es bedeutet, dass man nicht ein-, sondern mehrmalige Messung vornimmt, um die politische Temperatur des Landes fortgesetzt zu messen.

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Ziel des Projektes ist es, die Entwicklung der Parteistärken in den letzten 12 Monaten vor dem Wahltag zuverlässig zu ermitteln. Hierfür wurden 2006/2007 9 vor- und eine Nachbefragung zu den Wahlabsichten gemacht. Anders als alle anderen Wahlbefragungen in der Schweiz, beschränkt sich das Wahlbarometer aber nicht nur auf Beteiligungs- und Parteiwahlabsichten bei Nationalratswahlen.

Das Konzept der letzten drei Wahlbarometer-Serien hat das Forschungsinstitut gfs.bern entwickelt. Das Set, das 2007 angewendet wurde, unterschied im Gefolge soziologischer, sozialpsychologischer, ökonomischer und kommunikationswissenschaftlicher Theorien Erklärungsansätze auf Seiten der Angebote der Parteien wie auch der Nachfrage durch die Wählenden:

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Angebot
. die Identifikation mit der Kampagne der Parteien
. die Identifikation mit BundesrätInnen/ParteipräsidentInnen der Parteien
. die Identifikation mit den thematischen Positionen der Parteien in den Sachfragen, die am meisten interessieren

Nachfrage
. Position der Wählenden auf der Links/Rechts-Achse
. Position der Wählenden in zentralen Wertfragen
. soziologische Merkmale der Wählenden

Für jede der Befragungen, die mit einem einheitlichen Fragebogen vor den Wahlen realisiert wurden, interviewte der gfs-Befragungsdienst mindestens 2000 repräsentativ ausgewählte, wahlberechtigte Personen im Inland.

Berichtet wurde im unmittelbaren Nachgang zu den Befragung in allen Medien der SRG SSR idée suisse. “Schweizer Fernsehen” etablierte zu den News-Gefässen eine eigene “Wahlbarometer”-Sendung. Der Schlussbericht erschien 4 Tage nach der Wahl. In den Printmedien der Schweiz wurden die Ergebnisse aus den Wahlbarometer ausführlich zitiert. Das Forschungsinstitut gfs.bern erstellte eine allgemein zugängliche, ausführliche Ergebnisdatenbank, die via Internet abrufbar ist.

Das “Wahlbarometer” erwies sich im Vergleich zu den effektiven Wahlergebnissen bei den letzten gemessenen Parteistärken als das genaueste Beobachtungssystem überhaupt. Die sechs wichtigsten Aussagen zu Entwicklungen in den Parteistärken und der Wahlbeteiligung stimmten qualitativ alle; die numerische Abweichung bei den Parteistärken betrug im Mittel 1,1 Prozent. Damit war das “Wahlbarometer” auch präziser als die Wahlbörsen und die Prognosen aufgrund kantonaler Wahlergebnisse. Im europäischen Vergleich schnitten alle Wahlumfragen in der Schweiz vergleichsweise gut ab, obwohl in den 10 Tage vor der Wahl nichts Neues mehr veröffentlicht werden darf.

Die theoriefähigen Ergebnisse aus dem Wahlbarometer werden in meinem Kurs “Empirische Politikforschung in der Schweiz” an der Universität St. Gallen vertieft behandelt.

Claude Longchamp

Lehrbuch der empirischen Politikforschung

(zoon politicon) Volker Dreier ist Privatdozent an der Universität Köln. Er arbeitet am dortigen Forschungsinstitut für Soziologie, und er ist Redaktor der renomierten Zeitschrift “Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie”. Vor allem aber hat Volker Dreier 1997 eine der wenigen, auf Deutsch erschienen, umfassenden Uebersichten über die Forschung in der empirisch ausgerichteten Politikwissenschaft verfasst.

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Volker Dreier, Soziologe mit Forschungsschwerpunkten, die mir durchaus zusagen, hat die massgebliche Einführung in die “Empirische Politikforschung” auf Deutsch verfasst, die soeben in der 2. Auflage erschienen ist.

Dreier versteht sich als unorthodoxer Vertreter der empirisch-analytischen Politikforschung. Diese leitet er aus der allgemeinen wissenschaftlichen Forschung ab, die sich dem wissenschaftlichen Realismus verpflichtet fühlt. Sinnliche Erfahrungen, logische Theoriebildung und empirische Ueberprüfungen sind für ein die massgeblichen wissenschaftstheoretischen Positionen.
Das Lehrbuch, strikte aufgebaut, sorgfältig geschrieben, mit Grafiken aufgearbeitet, sonst aber eher trocken, hat drei Teile:

. erstens, die Orientierungen der empirischen Politikforschung (mit der Begriffsbestimmung, den Grundfragen und den Grundelementen)
. zweitens, die wissenschaftstheoretischen Grundlagen (mit den formalen Grundlagen, den Begriffen und Aussagen, der logische Struktur einer empirischen Theorie, der Theoriekonstruktion, dem Erklären und/oder dem Verstehen)
. drittens, die Methoden und Modelle (mit dem Messen und der Sklaierung, den Modelle sowei den Abläufen in der Forschung)

In vielen Teilen des Buches gibt es, für sich gesehen, gleichwertige oder bessere Einzelabhandlungen. Was das Werk aber auszeichnet, ist der systematisch durchgehaltene überischtliche Stil über eigentlich alle Fragen, die sich dem/der empirischen PolitikforscherIn bei ihrer Arbeit und deren Kommunikation stellen.

Vielleicht, könnte man als einige Kritik anfügen, hätte man sich nach 586 Seiten noch ein Würdigung des Stand und der Entwicklung des Fachgebieten gewünscht.

Claude Longchamp

Vom Sinn der Tatsachen in der Wissenschaft

(zoon politicon) In der gestrigen Vorlesung “Empirische Politikforschung in der Praxis” stiessen wir kurz auf den Aufklärer David Hume. Er hat den Empirismus als Gegenposition zum Rationalismus von René Desacartes begründet. Dieser liess sich vom Mensch als vernunftbegabtes Wesen leiten, jener vom Mensch, der dank seiner Sinne die Welt erfahren kann. Bis heute sind beide erkenntnistheoretische Positionen, wenn auch in kritisch verarbeiteter und kombinierter Form bestandteil der Philosophie der Wissenschaften.

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Nachdenken über Thomas Huxleys prägnante Aussagen zum Sinn der Tatsachen in der Wissenschaft empfohlen

Per Zufall bin ich heute auf den britischen Agnostiker Thomas Huxley (1825-1895) gestossen, der im 19. Jahrhundert lebte. Nicht weil er der Grossvater des bekannten Aldous Huxley (Schöne, neue Welt 1932) war, behielt ich ihn im Auge. Vielmehr viel mir auf, dass er mit wenige Worten das wissenschaftliche Denken, das Hume (“gegen die Macht der Gewohnheit”) entwickelt hatte, prägnant zusammenfasste; drei Kernsätze seies deshalb hier zum Nachdenken über den Empirismus in den Natur- und Sozialwissenschaften festgehalten:

„Die größte Sünde gegen den menschlichen Geist ist, Dinge ohne Beweis zu glauben.“

„Jede neue Wahrheit beginnt ihren Weg als Ketzerei und beendet ihn als Orthodoxie.“

„Die Tragödie der Wissenschaft – das Erschlagen einer schönen Hypothese durch eine häßliche Tatsache.“

Schönes Wochenende (trotzdem)

Claude Longchamp