Konkordanz in Theorie und Praxis

Die zweite Vorlesung zur „Wahlforschung in Theorie und Praxis“ an der Uni Zürich bot Anlass, über die Eigenheiten der Konkordanz-Diskurse in Politik und Politikwissenschaft und den Reformvorschlägen, die daraus resultieren, nachzudenken.

„Ich kandidiere zur Wiederherstellung der Konkordanz“, sagte Bruno Zuppiger kurz nach seiner Nomination als Bundesratskandidat 2011. Faktisch meinte er, mit seiner Bewerbung gegen Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf antreten zu wollen. Den Rest der Geschichte kennen wir. Zuppiger musste wegen Anschuldigungen seine Kandidatur zurückziehen; der nachnominierte Hansjörg Walther wurde nicht gewählt; die SVP ist unverändert mit nur einem Sitz im Bundesrat vertreten; sie hat, vorübergehend lautstark, den „Bruch der Konkordanz durch die andern“ beklagt, um dann doch mit nur einem Vertreter im Bundesrat zu bleiben.

PolitikwissenschafterInnen, die sich wie amerikanisch-niederländische Politikwissenschafter Arend Lijphart ein Leben lang mit dem Thema „Consociationalism“ auseinander gesetzt haben, kommen zu einem ganz anderen Verständnis. Konkordanz sei eine Form der Regierungsweise in tief gespaltenen Gesellschaften, um Gewalt in der Politik zu vermeiden, Demokratie zu gewährleisten und Stabilität der Regierung zu garantieren. Ausdruck der Konkordanz seien Proporzwahlrecht für das Parlament, grosse Koalitionen für die Regierung, Minderheitenschutz und Föderalismus.
Konkordanz, könnte man es zuspitzen, bestimmt sich nicht einfach nach der personellen oder parteipolitischen Zusammensetzung der Regierung; sie ist ein Demokratiemuster, der Umstände wegen.

Eben dieses Demokratiemuster der Schweiz bestimmte Adrian Vatter, Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Bern, wie folgt:
. Erstens, grundlegend sei, dass nicht die Parteien die Interessenvermittlung dominierten, sondern den Verbänden eine zentrale Rolle in der Willensbildung zukommt; das versachliche den möglichen Parteienstreit.
. Zweitens, Machtteilung werde durch die hohe Bedeutung der Kantone im schweizerischen Politsystems nachhaltig garantiert; das relativere die Möglichkeit, zentral eine Politikrichtung vorzugeben.
. Drittens, die durchdeklinierte direkte Demokratie in der Schweiz begünstige die BürgerInnen-Partizipation auf allen Stufen; sie wirke mässigend auf politische Einseitigkeiten aus, die sie durch Volksentscheidungen korrigiere.
Mit letzterem geht typischerweise einher, dass Konkordanz auf einer Mehrparteienregierung basiere, die mehr als die knappest mögliche Mehrheit integriere. Nicht entgangen ist Vatter, dass Konkordanz heute auf kantonaler und Bundesebene unterschiedlich gut funktioniere; der Wandel weg vom Spezialfall hin zum Normalfall finde hier schnell statt als in den Kantonen, ohne jedoch schon dort angekommen zu sein.

Wenn Determinanten des politischen Systems auf Konkordanz ausgerichtet bleiben, ein zentrales Element, das Parteiensystem auf Bundesebene mit seiner Aufteilung in neue Akteure und polarisierte Parteien, jedoch in eine andere Richtung weist, stellt sich die Frage, was verändert werden muss. Ich denke, es gibt unter den hiesigen Politologen heute drei typische Antworten darauf:

. Einmal, Regierungskonkordanz bleibt zentral, sie muss aber institutionell erneuert werden, um den veränderten Bedingungen in Medien, Parlament und Regierung Rechnung zu tragen.
. Sodann, das Politsystem ist überholt und muss den neuen Entwicklungen in den Parteien entsprechend in Richtung Alternanz umgebaut werden.
. Schliesslich, die Regierung soll inskünftig alle jene Parteien umfassen, die sich langfristig an konkordanten Regeln ausrichten wollen.

Letzteres vertritt beispielsweise der Genfer Politikwissenschafter Pascal Sciarini; er spricht dabei von der kleinen Konkordanz, die funktionsfähig bleibe, auch wenn auf eine Polpartei im Bundesrat verzichtet werde. Zweiteres ist das Steckenpferd von Hanspeter Kriesi, Politologieprofessor in Zürich, demnächst in Florenz, der die SP auffordert, in die Opposition zu gehen, sich umfassend zu erneuern und so den politischen Kampf mit der erstarkten Rechten in einem veränderten System aufzunehmen. Ersteres wiederum propagierte jüngst Michael Hermann mit seinem Plädoyer für eine Revitalisierung der Konkordanz durch Elemente der Volkswahl des Bundesrates, des Schiedsgerichtes durch das Volk bei uneinigen Parlamentskammern und durch Aufwertung der Bundeskanzlei zu einem Präsidialdepartement mit besonderen Befugnissen.

Ich selber bin ja immer wieder erstaunt zu sehen, wie gut der Sog funktioniert, dass man als grosse Parteien nur in der Regierung Erfolge für die eigene Wählerschaft erzielt, selbst wenn man Probleme auf sich lädt. Denn insbesondere das Kollegialsystem wirkt nachhaltig einschränkend auf die Profilierungsmöglichkeiten einer Regierungspartei.
Konkordanz ist deshalb eine Herausforderung für politische Parteien, die dauerhaft Erfolg haben wollen, die sie nicht unterschätzen sollten. Ohne Anpassungsleistungen der Parteien an die mehr oder weniger garantierte Teilhabe an der Regierung kann das Demokratiemuster nicht überleben, das bei aller Veränderbarkeit der Schweiz durchaus angemessen bleibt.

Claude Longchamp

Was ich mit der Vorlesung zur Wahlforschung erreichen will

Die Vorlesungszeit hat begonnen: In Zürich unterrichte ich im Bachelor-Programm der Politikwissenschaft erneut Wahlforschung – in Theorie und Praxis. Hier meine Absichtserklärung.

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Ort des Geschehens: Das neue Gebäude des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Zürich

Fünf Ziele hat die Wissenschaft, will ich meinen Studierenden der Politikwissenschaft an der Universität Zürich während der Vorlesung zur Wahlforschung beibringen:

. die Beschreibung der Wirklichkeiten bei Wahlen
. die Erlärung von Ursache-/WirkungsZusammenhängen
. die theoretische Begründung von
. die Prognose von Ereignissen und
. das Handeln als Wissenschafter.

Jede dieser Zielsetzungen ist anspruchsvoll, wie mit nicht zuletzt bei der Vorbereitung wieder einmal klar geworden ist.

Denn Medien beschreiben einem, was ist, doch machen sie das nach ihrer eigenen Logik, der die Wissenschaft nicht folgen muss. Ursache- und Wirkungszusammenhänge scheinen Berater besser zu kennen als Forscher, was auf die Akteure ausstrahlt und die Aufgabe der Wissenschaft nicht erleichtert. Theorien wiederum hat die Wissenschaftsgemeinschaft entwickelt, doch stammen die meisten aus den USA – und sind durch das politische System geprägt, genauso wie in vielem amerikanischen Kultur mitschwingt. Bei den Schwierigkeiten, welche der Prognose von Ereignisse innen wohnen, muss man gar nicht so weit ausholen; die eigenen Erfahrungen reichen da. Und last but not least, wird das Handeln als Wissenschafter schnell missverstanden.

Letzteres war auch schon in den ersten Diskussionen während der Lehrveranstaltung der Fall. Das hat wohl damit zu tun, dass Politikwissenschaft – gerade während dem Studium – kontemplativ ist. Der zentrale Studienmodus ist der des Schauen, bisweilen der Beschaulichkeit. Erklärungen, die man dazu anbringt, haben überwiegend den Charakter der ex-post-Erklärung. Häufig sind die induktiver Natur, eher selten deduktiver. Vorhersagen muss man während der ganzen Ausbildung zur PolitikwissenschafterIn allermeistens nichts – und ist vielleicht genau deshalb erfolgreich.

Mir geht es, mit der Vorlesung zur Wahlforschung in Theorie und Praxis, um mehr: Zum Beispiel um die rasche Vermehrung von Politologen in der Wahlpraxis.

Nicht nur, weil zahlreiche Kandidierende ein politikwissenschaftliches Studium hinter sich haben. Auch, weil PolitologInnen heute GeneralsekretärInnen von Regierungsparteien sind, in Wahlausschüssen arbeiten, die Wahlkämpfe durchziehen, in grosser Zahl in Medien darüber berichten oder als ExpertInnen für Medien arbeiten. Dafür werden sie kaum vorbereitet. Mehr noch, auch PolitikwissenschafterInnen, die sich nicht so nahe an die Aktualität wagen, handeln heute zunehmend in Anwendungsfeldern: beileibe nicht nur als PraktikantInnen in Wahlstäben amerikanischer PräsidentschaftskandidatInnen, immer mehr auch als WahlhelferInnen in neuen Demokratien, wo sie daran beteiligt sind, eine vernünftige Wahlpraxis auszubauen. Nicht zuletzt werden PolitikwissenschafterInnen, gerade auch aus der Schweiz, an vielen Orten um Rat gefragt, wie Wahlen konzipiert sein sollten, damit sie ihrer vornehmsten Aufgabe, dem friedlichen Machtwechsel gerecht werden, und nicht selber zum Anlass für Gewalt werden. Daran zu arbeiten, ist eine der anspruchsvollsten Herausforderungen, auf die man sich frühzeitig einstellen sollte.

Oder um noch deutlicher zu sagen: WahlforscherInnen, aber auch WahlexpertInnenen sollen zurecht ein politikwissenschaftlichen Studium machen können, dass nicht ideologisch geformt ist, indem nicht nur die Aktualität den Takt angibt. Meines Erachtens braucht es indessen keine Hyper-Spezialisten, die theoretisch alles kennen, von der Praxis aber keine Ahnung haben, die fast alles wissen, aber über fast nichts. Nebst dem Können in der Forschung geht es mir auch um Fragen der Relevanz von wissenschaftlichem Wissen, das sich nicht scheut, bisweilen mitten im Geschehen zu stehen, ohne zu glauben, man sei bloss Techniker und ohne zu meinen, man sei der Guru, indes, wie es Jürgen Habermas formulierte, ihren eigenen Diskurs im Dialog mit der Politik führen, wobei Ziel und Mittel des politischen Handelns zum Vorteil beider Seiten aktiv verhandelt werden.

Claude Longchamp

Auf nach St. Gallen!

Nach der Lehrveranstaltung in Zürich habe ich auch meinen Kurs in St. Gallen neu konzipiert: Erstmals werde ich ein Seminar zu “Lobbying in Theorie und Praxis” anbieten.

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Universität St. Gallen

Lobbying ist in der allgemeinsten Form Interessenvertretung gegenüber der Politik. Zum Beispiel, um Steuererleichterungen zu erhalten, oder Subventionen zu vermehren. Lobbying kommt typischer Weise aber auch dort vor, wo die Politik allgemeinverbindliche Regeln beschliesst, die organisierbare Interessen betreffen.

Das alles ist nicht neu; neu ist indessen dass die Interessenvertretung zu einem eigenen politischen Handeln wird, denn die Symbiose aus Volksvertretung und Interessenvertretung je im Nebenamt ist in Auflösung begriffen. Aus MilizpolitikerInnen werden Berufsleute, aus ehrenamtlichen Verbandsvorständen werden Geschäftsleitungen mit spezifischen Funktionen. Gar nicht der zunehmenden Verbreitung von Lobbying entsprechen die Regelungen der neuen Tätigkeit. Seien es gesetzliche Auflagen oder auch Standesregeln: die Schweiz hinkt internationalen Entwicklungen zur Standardisierung und Reglementierung der professionellen Interessenvertretung gegenüber der Politik nach.

Hier öffnet sich ein breites Forschungs- und Beratungsfeld, das ich mit meinem Lehrauftrag an der Universität St. Gallen ab 2012 beackern möchte. Einmal geht es darum, die Entwicklungen auf der internationalen Ebene zu verfolgen und mit denen in der Schweiz zu vergleichen, nicht zuletzt um die Frage zu beantworten, was in den kommenden 5 bis 10 Jahren in der Schweiz zu erwarten ist. Dann wird es auch darum gehen, Vorschläge zu erarbeiten, was eine gute Praxis sein könnte, die den Voraussetzungen und Trends im politischen System der Schweiz angemessen ist. Letzteres soll durchaus Auswirkungen zeigen auf die weitere Systematisierung des Lobbyings in der Schweiz.

Die Lehrveranstaltung wird im Herbstsemester 2012 an der Universität St. Gallen stattfinden. Sie wird im Rahmen des Masterprogramms “International Affairs” angeboten werden. Ansprechen will ich damit fortgeschrittene Studierende, die sich vorstellen können, für internationale Organisationen, aber auch für nationale Verbände in Stabstellen oder in spezialisierten Agenturen, Interessenvertretung als Beruf auszuüben und sich darauf vorbereiten möchten.

Der Einstieg in die Weiterbildung findet als 3tätiger Blockkurs statt. In der ersten Semesterwoche wird es ein Kickoff-Meeting für Interessierte geben. Die Blockveranstaltung wird während der kleinen Semesterferien stattfinden. Die Prüfung besteht aus der Präsentation einer Seminararbeit in schriftlicher und mündlicher Form. Letzteres wird von der Geschäftsleitung des gfs.bern stattfinden, welche den praktischen Nutzen beurteilen wird; ersteres werde ich mit Blick auf die Entwicklung einer Theorie des Lobbyings im Politsystem der Schweiz bewerten.

Die Blockveranstaltung wird an zwei Tagen in St. Gallen durchgeführt werden, während des dritten Tages werden wir Lobby-Organisation in Bern beuschen. Dabei werden die Teilnehmenden eingeführt werden in die Theorien des Lobbyings, aber auch die Studien über die Verbreitung auf nationaler und europäischer Ebene kennen lernen. Sie formulieren alleine oder in Gruppen ein kleines Forschungsprojekt, das neue Aspekte des Handelns von Lobbyisten oder der Regelung des Lobbyings aufzeigen soll. Mit den Besuchen in Bundesbern sollen Kontakte zu ausgewählten relevanten Akteuren hergestellt werden. Der Blockkurs soll die Teilnehmenden auf die Ausarbeitung des Forschungsprojektes abschliessend vorbereiten. Diese ist bis Semesterende fertigzustellen.

Ich freue mich, im neuen Jahre mit der neuartige Veranstaltungs(reihe) an der HSG beginnen zu können!

Claude Longchamp

Auf nach Zürich!

Wahlforschung in Theorie und Praxis – heisst meine Lehrveranstaltung im kommenden Frühlingssemester an der Universität Zürich. Eine erster Einblick.

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Politikwissenschaft für den Wahltag: 12 Stunden-Live-Einsatz im Wahlstudio des Schweizer Fernsehens – und was davon für die Wissenschaft bleibt.

Wahlforschung ist interdisziplinär: Zuerst interessierten sich die Juristen für das Wahlrecht, dann die Statistiker für die Wahlergebnisse. Geografen vermassen die Resultate in den Regionen und Historiker berichteten über ihren Wandel in der Zeit. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Wahlen zugenommen: Institutionellen Fragen, das Wahlverhalten, die Einflüsse aus Wirtschaft, Gesellschaft und Medien haben an Bedeutung gewonnen, und sie bedingen, Wahlen unter verschiedenen Perspektiven zu betrachten.

Im Frühlingssemester unterrichte ich Wahlforschung an der Universität Zürich. Die Vorlesung wird vom Institut für Politikwissenschaft im Rahmen des sozialwissenschaftlichen Bachelor-Studiums angeboten. Die Besonderheit meines Kurses: Er soll in Theorie und Praxis einführen, also nicht nur ökonomische und sozialpsychologische Verhaltensmodelle lehren, das Wirken der Parteien und Medien vorstellen und die Auswirkungen des sozialen und politischen Wandels auf die Ergebnisse diskutieren, nein, er wird auch über Projekte der Wahlberichterstattung, Lücken der Forschung und die Rolle der PolitologInnen in der Mediendemokratie berichten.

Der zentrale Gegenstand könnte aktueller nicht sein; ich werde vorwiegend Beispiele aus dem Wahljahr 2011 nehmen: Die Nationalrats- resp. Ständeratswahlen, die Bundesratswahlen, aber auch die kantonalen Wahlen sollen zur Sprache kommen.

Detailliert habe ich die Veranstaltung noch nicht geplant. Sie entsteht gegenwärtig in “meinem Bauch” – auch als Verarbeitung von Ergebnissen, Analysen, Eindrücken aus dem auslaufenden Jahr. Viel Material hat sich in meinem Büro gesammelt, das ich dieser Tage sortiert, bewertet, weggeworfen oder abgelegt habe. Jetzt muss ich Gefühle, Wissen und Können nur noch in grossen Ganzes bringen. Hier schon mal die Disposition:

1. Vorlesung: Einführung zur Wahlforschung in Theorie und Praxis
2. Mikro-Theorie (I): Das einfache ökonomische Verhaltensmodell
3. Mikro-Theorie (II): Parteibindung, Themen- und Kandidatenorientierung
4. Makro-Theorie (I): Historische Konfliklinien und das Parteiensystem der Schweiz
4. Makro-Theorie (II): postmaterialistischer und nationalkonservativer Wertewandel als neue Konfliktlinien im Parteiensystem der Schweiz
5. Politische Mobilisierung und Wahlbeteiligung
6. Wahlen und Wahlkämpfe in der Mediengesellschaft von heute: zwischen Aufklärung und Propaganda
7. Wahlen und Wahlrecht in der Schweiz
8. Wahlprognosen im Vergleich
9. Modellhafte Analyse der Nationalratswahlen
10. Modellhafte Analyse der Ständeratswahlen
11. Wahlen im Konkordanzsystem: Analyse der Bundesratswahlen 2011
12. PolitologInnen im Wahlgeschehen 2011

In Gedanken mache ich mich auf nach Zürich!

Claude Longchamp

Analyse von Ständeratswahlen – Forschungsseminar an der Uni Bern

Programm Forschungsseminar “Analyse von Ständeratswahlen”
Herbstsemester 2011, Master “Schweizerische und vergleichende Politik”, IPW, Universität Bern

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Zielsetzung
Die Wahlforschung in der Schweiz hat sich weitgehend auf die Analyse von Nationalratswahlen konzentriert. Die Erforschung der Ständeratswahlen blieb weitgehend aus.
Das Forschungsseminar für Fortgeschrittene, das ich im Herbstsemester 2011 im Rahmen des Master-Programms am IPW der Universität Bern anbiete, will dem entgegenwirken.
Ziel des Seminars ist es, ein Modell zur Prognose und Erklärung von Ständeratswahlen zu erarbeiten.
Das soll aufgrund der laufenden und zurückliegenden Wahlen in die kleine Kammer geschehen, durch Fallstudien und vergleichende Analysen über die Kantone, allenfalls auch über die Zeit hinweg.
Das Seminar berücksichtigt den spärlichen Forschungsstand, den die Politikwissenschafter Hanspeter Kriesi und Romain Lachat repräsentieren. Es nimmt aber auch Ansätze der Analyse auf, die Statistiker Peter Moser, Marc-André Röthlisberger und Stephan Tschöpe entwickelt haben, und es will auch einen Zugang zu den Ueberlegungen bieten, die sich PolitikerInnen für ihre Wahlkämpfe machen.
Untersuchen wollen wir den Einfluss von Kontextfaktoren, von Personenmerkmalen und von Kommunikationsstrategien bei Ständeratswahlen. Geleistet werden die Arbeiten in Form studentischer Gruppenarbeiten, die wir gemeinsam diskutieren, welche die Studierenden ausarbeiten, und die am Schluss des Seminars präsentiert werden muss. Die letzte sitzung dient der Sichtung von Ergebnissen, die wir in unser anfänglich postuliertes Modell einbauen wollen, um so einen plausibilisierten Anstoss für künftige Forschungen zu geben.

Zielgruppe
Das Forschungsseminar, das sich an Studierende des Masters “Schweizerische und vergleichende Politik” richtet, setzt grundlegende Kenntnisse der Methoden und Verfahren der empirischen Politikforschung voraus; von Nutzen ist es, Kompetenzen in der vergleichenden Forschung zu haben. Erwartet wird die regelmässige Mitarbeit im Seminar einerseits, die aktive Beteiligung an einem studentischen Forschungsprojekt andererseits. Diese muss mündlichen und schriftlich präsentiert werden. Alles zusammen fliesst in die Note ein. Ein eigentliche Prüfung gibt es nicht.

Termine
23.9. Einführung: Wahlforschung und Modellbildung zur Erklärung und Prognose von Wahlen
30.9. Gemeinsame Entwicklung von Ideen für Forschungsprojekte zu Kontextfaktoren, Persönlichkeitsmerkmalen und Kommunikationsstrategien
7.10. Diskussion Forschungsstand anhand ausgewählter Dokumente
14.10 Beschlussfassung zu studentischen Forschungsprojekte im Rahmen des Forschungsseminars
21.10 Exkurs I: Hochrechnung Ständeratswahlen 2011 im Kanton Bern, Präsentation durch Stephan Tschöpe, Hochrechner gfs.bern

23.10. Wahltag

28.10. Diskussion ausgewählter Erstanalysen der Ständeratswahlen
4.11. dito
11.11. Kampagnenstrategien im Ständeratswahlkampf, Referat von und Diskussion mit Ursula Wyss, Ständeratskandidatin SP im Frühling 2011
18.11. Exkurs II: Prognose von Ständeratswahlen
10 Uhr Prognose der Ergebnisse erster Wahlgänge, Präsentation Peter Moser, Kantonsstatistiker Zürich
11 Uhr Prognose der Ergebnisse zweiter Wahlgänge aufgrund der Resultate im ersten Wahlgang, Präsentation Martin Röthlisberger, Mathematiker Bern

27. 11. Nachwahltag für Ständeratswahlen

2.12. Präsentation der Gruppenarbeiten I: Analyse von Kontextfaktoren
9.12. Präsentation der Gruppenarbeiten II: Analyse von Personenfaktoren
16.12. Präsentation der Gruppenarbeiten III: Analyse von Kommunikationsfaktoren
23.12. Schluss: Modellbildung zur Ständeratswahl für Theorie und Praxisbesprechung: Was wir neu über Ständeratswahlen in der Schweiz wissen

Das freut mich wirklich!

Ende März 1992 verliess ich die Uni Bern als Lehrbeauftragter (etwas unfreiwillig); gestern vergab mir die WISO-Fakultät der Uni Bern nach 19 Jahren den Lehrauftrag für Wahlforschung erneut!

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Was Wahlen entscheidet, soll ich inskünftig den Studierenden der Uni Bern lehren!

Im Herbstsemester 2011 nehme ich meine Lehrtätigkeit auf der Masterstufe der hiesigen Universität auf. Als Erstes ist ein Seminar vorgesehen – zu den von der Wahlforschung lange vernachlässigten Ständeratswahlen. Verlangen werde ich qualifizierte studentische Projekte, die uns helfen zu verstehen, was bei Ständeratswahlen anders seit langem anders verläuft als bei Nationalratswahlen, was sich heute ändert, und wohin sich die wichtigste Wahl von KantonsvertreterInnen auf Bundesebene entwickelt.

Traditionellerweise versteht man unter Ständeratswahlen Personenwahlen. In der Tat, auf unsere Wahlzettel schreiben wir KandidatInnen. Chancenreich sind StänderätInnen, die wieder antreten. Erfolgsversprechend waren lange Kandidaturen von RegierungsrätInnen. Heute steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man als bekannte Nationalrätin, als profilierter Nationalrat in die kleine Kammer gewählt wird. Offenbar gerät einiges in Bewegung.
Zwar ist die Polarisierung zwischen den Polen links und rechts geringer als bei Nationalratswahlen, doch nimmt die Zahl erfolgreicher Bewerbungen von SP, SVP und GPS zu. Ueberhaupt, langweilige Ständeratswahlen werden seltner, umstrittene Wahlgänge mit offenem Resultat häufiger.
Die Medienaufmerksamkeit für die Wahlen in die Kantonsvertretung nimmt offensichtlich zu – nicht nur auf lokaler Ebene, auch auf nationaler. Die Entscheidungen fallen zwar in den Kantonen, doch die nationalen Themen erfassen sie immer deutlicher. Nicht die angepasste Bewerbung in der Mitte interessiert dabei, sondern die angriffige der CharismatikerInnen, die ihre Anhänger, ja die Wählerschaft mit polarisierender Abgrenzung zu mobilisieren wissen.
Personalisierung von Persönlichkeitswahlen heisst heute Vieles: Man traut dem Menschen, nicht seinen Hintergründen. Man will mehr Privates wissen, weil das Oeffentiche gestellt und. Oder man will den Kampf in Sachfragen, weil die Ideologien aufgeweicht sind. Das alles machte Ständeratswahlen interessant: für Aufbau-Kandidaturen, als Plattformen für den Wettbewerb von Ideen, als Kampf der Titanen, bei dem man sein ganzes Prestige aufs Spiel setzt. Nicht nur für das Schaulaufen verdienter PolitikerInnen.

Ob das gut oder schlecht ist, werden dereinst die HistorikerInnen beantworten. Die normative Sozialwissenschaft bereitet die Antworten heute schon vor. Die empirisch Wahlforschung ist dafür nicht wirklich geeignet: Sie will beobachten, was ist, diagnostizieren, was das heisst und analysieren, was die Ursachen sind. Genau so verstehe ich auch mein erstes Seminar in Bern, das ich inskünftig, mit variierenden Themen regelmäsig anbieten werde.

Die Rückkehr an den Ort, wo ich vor mehr als zwei Jahrzehnten zu unterrichten begann, zu Europa-Abstimmungen und kantonalbernischen Wahlen freut mich umso sehr, als ich meinen Abgang 1992 bereute. Denn nicht nur als Forscher, auch als Dozent machte es mir immer wieder Spass, junge Menschen in die Einsichten der politikwissenschaftlichen Forschung einzuführen und aus ihren Ueberlegungen die Spuren herauszufiltern, welche die Entwicklung des Faches auf neuen Gebieten befördern werden. Dafür will ich mich, rechtzeitig vor den Wahlen 2011, aber auch darüber hinaus, erneut einsetzen.

Ein grosses Dankeschön ans Institut für Politikwissenschaft und an die WISO-Fakultät, die mir, dem Vernehmen nach einstimmig, eine zweite Gelegenheit hierzu eröffnen!

Claude Longchamp

Lobbying in der Schweiz: Was ist und was wird?

Regelmässig halte ich meinen Kurs zum Lobbying am Verbandsmanagement Institut der Universität Freiburg. So auch diese Woche. Das ist jedesmal auch Gelegenheit, über die Trends im Lobbying nachzudenken, und den Puls zu fühlen, wo wir in der Schweiz hierzu stehen. Hier meine aktuellste Bilanz!

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Typisch für das neue Lobbying auch in der Schweiz: beeinflusst von allgemeinen Trends, insbesondere angelsächsischen, die über internationale Firmen und die EU in die Schweiz kommen.

Die aktuelle Ausgabe der Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft bilanziert: „Während Lobbying im angelsächsischen Raum weitgehend akzeptiert ist, haftet ihm im kontinentaleuropäischen Kontext ein anrüchiger Geschmack an. Empirisch zeigt sich jedoch, dass immer mehr Ressourcen in Public Affairs und politische Kommunikation investiert werden.“

Aus meiner Sicht lassen sich seit Längerem fünf Trends, die auch das Lobbying in der Schweizer erfassen können, ableiten:

Erstens, Lobbying differenziert sich immer mehr als eigenständige politische Aktivität.
Zweitens, Lobbying entwickelt hierzu Standards, was geht und was nicht geht,
Drittens, Lobbying professionalisiert sich aus sich selber heraus.
Viertens, Lobbying wird zum Bestandteil der politischen Oeffentlichkeitsarbeit.
Fünftens, Lobbying initiiert vor allem im globalen Kontext neue Politiken.

Ein Trend trifft in der Schweiz unbestritten zu: Das Lobbying, vor allem der nationalen Verbände, wird zusehends zum Bestandteil ihrer Oeffentlichkeitsarbeit. Teilweise trifft das auch für Firmen und andere Organisationen zu. Die direkte Ansprache von Parlamenten, Regierungen und Verwaltung wird dabei durch die indirekte erweitert. Die Medienarbeit wird zum zentralen Bestandteil des Lobbyings, denn man weiss zwischenzeitlich nur zu gut, dass sich nicht nur die BürgerInnen, sondern auch PolitikerInnen und BeamtInnen in einem erheblichen Masse über Massen- und Fachmedien zu politischen Fragen informieren.
Lobbying ändert damit den eigenen Charakter. Es verlässt das Schummerlicht der verdeckten Einflussnahme auf politische Entscheidungen mindestens teilweise. Es wird transparenter. Es erhofft sich dadurch nicht nur mehr Wirkung, es rechnet auch mit einem Glaubwürdigkeitsgewinn.

In der Schweiz bleibt dagegen die Initiativfunktion für neue Politiken weitgehend Aufgabe von Regierungen und Parlamenten – oder der Wissenschaft. Die Behörden steuern über politische Weltanschauungen, Regierungsprogramme und Expertisen, die von der Politik in Auftag gegeben oder genommen werden, die Agenda. Das Lobbying in diesem Bereich bleibt zurück, nicht zuletzt, weil Denkfabriken hierzulande eine untergeordnete Rolle spielen. Einzig im Abstimmungsbereich haben entsprechende Institutionen eine gewisse Vordenkerfunktion.

Beschränkte Veränderungen kann man bei den drei anderen Trends festhalten. Lobbying differenziert sich teilweise von politischen Aemtern. Lobbying entwickelt beschränkt Standards für eigene Verhaltensnormen. Und Lobbying professionalisiert sich nur schrittweise. Ueberall hinkt die Schweiz im internationalen Vergleich indessen hinten nach.

Hinderlich erweisen sich das Milizsystem auf Parlamentsebene, das die Verquickung öffentlicher und privater politischer Funktionen fördert. Wenig förderlich ist auch, dass sich Lobbying unverändert hinter anderen Tätigkeiten wie Public Affairs, Oeffentlichkeitsarbeit oder politischer Beratung versteckt. Das führt nicht dazu, dass man ein eigenes Selbstverständnis des Guten und Schlechten entwickelt.

Schliesslich, anders als in zahlreichen anderen Ländern gibt es eine genuine Ausbildung zum Lobbyisten oder zur Lobbyistin in der Schweiz kaum. Das ist schade, den nebst dem Handwerklichen, das man irgendwo erwerben kann, braucht das Lobbying auch herausragende Fachkenntnisse des politischen Systems, der politischen Prozesse und der politischen Kulturen.

Eigentlich wäre das alles eine geniale Herausforderung für die Politikwissenschaft mit einem Flair für Praxis.

Claude Longchamp

Ständeratswahlen in der Schweiz: Vorschläge zur Analyse zwischen Theorie und Praxis

Das Blockseminar zur Analyse von Ständeratswahlen in der Schweiz an der Universität St. Gallen ist vorbei. Ein ordnender Rückblick.

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Wird am 23. Oktober 2011 neu bestellt: der Ständerat der Schweiz, die zweite, gleichberechtigte Kammer der Bundesversammlung

18 Lektionen in 3 Tagen sind eine Herausforderung. Mit dem Blockseminar in der ostschweizer Metropole erspare ich mir viel Reisezeit zwischen Bern und St.Gallen. Die Energie braucht man aber, um während den Verhandlungen permanent präsent zu sein. Meiner Meinung nach wirkte sich diese Veranstaltungsform vorteilhaft auf das Lernklima aus. Denn so vertieft kann man eine Thema während den üblichen Wochensitzung nicht verarbeiten. Dafür ist die Distanz zu den Inputs grösser, wenn man regelmässige Abstände zwischen den Sitzungen hat.

Aufschlussreich waren die drei Referate “von aussen”: Regierungsrätin Karin Keller-Sutter reflektierte über den Mainstream in der st. gallischen Politik, den sie gerne in Bern vertreten würde. Aus ihrer Warte sind erfolgreiche Kampagnen bürgerInnen-nah, dezentral, authentisch – und ohne übergeordnete parteipolitische Absichten. Auch TV-Journalist Hanspeter Trütsch betonte die Vielfalt der Schweiz, wo jeder Kanton anders als der andere ist, weshalb auch Wahlkampfkulturen divers blieben. Die wachsenden Rolle der Medien in der Politikvermittlung führe zu einer Transformation von Wahlkämpfen. Erfolgreichen Politikerprofile bleiben sich ähnlich, es wechselten aber die Köpfe, Auftrittsstile und Kommunikationskanäle. Hermann Strittmatter wurde seinem Image als Exzentriker unter den Schweizer Werbern vollumfänglich gerecht. Erfolg im urbanen Raum, dozierte er, hänge davon ab, im Kommunikationswirrwarr nicht unterzugehen. Werbung müsse auffallen, was Kreativität verlange. Von Parteien erwartet einen Kompatibilitätstest, bevor sie KandidatInnen nominierten. Gewinne werde schliesslich der oder die, welche(r) keine Fehler mache, indem er oder sie in der Hektik des Wahlkampfes Ruhe bewahre.

Der systematische Teil des Blockseminars beschäftigte sich mit Wahlkampftheorien. Allen bekannt sind die Annahmen der rationalen Wahl. Sie haben sich für die Analyse der kurzfristigen Programmwahl durch die einzelne BürgerIn bewährt. Doch sind sie kaum geeignet, die Konstanten in Wahlergebnissen zu untersuchen, und sie eigenen sich auch nicht gesellschaftlichen Strukturen und ihren Wandel in Wahlresultaten zu bestimmen. Skepsis herrscht auch, dass man damit Personenwahlen treffend untersuchen kann. Das Spannendste in der Forschung findet aktuell dort statt, wo das Handeln der Akteure im Schnittfeld von KandidatIn, Partei und Medien analyisert wird.

Konflikttheorien, welche die Transformation des postindustriellen Staates erhellen, wie das Herbert Kitschelt geleistet hat, geben hier den Rahmen ab. Stefan Dahlems grundlegende Uebersetzung der sozialwissenschaftlichen Wahltheorie in die Mediengesellschaft verdeutlicht, wie sich die Beziehungen zwischen Wählenden und Gewählten verändern. Schliesslich geht es in Wahlanalysen seit langem um das Marketing von Parteien und KandidatInnen, welche eingesetzt werden, um den Wahlerfolg erhöhen.

Drei Thesen haben der gegenwärtigen politik- und medienwissenschaftlichen Forschung haben uns inspiriert: uum einen die Medialisierungsthesen, wie sie von Barbara Pfetsch für die Erforschung von Wahlkämpfen vorgeschlagen wurden; sodann die Personalisierungsthesen, die namentlich Skeptiker der Demokratieentwicklung wie Colin Crouch favorisiert werden; schliesslich die Thesen der Modernisierung von Wahlkämpfen, die namentlich Pippa Norris eingebracht hat.

Formuliert wurden diverse studentsiche Forschungsarbeiten, die im Schnittfeld von Thesen, Daten und Ergebnissen mit Praxisrelevanz diskutiert wurden. So fragt man beispielsweise nach neuen Stadt/Land-Konflikten in Ständeratswahlen, die insbesondere die Wahlchancen von linken und rechten Kandidaturen in den Sprachregionen beeinflussen und genutzt werden können, um die Chancen einer Wahl zu erhöhen. Mehr wissen will man exemplarisch über Medienstrategien im urbanen Raum, namentlich in Zürich und Genf, wenn es um PolitikerInnen-Vermittlung geht. Dazu werden typologisch ausgewählte Medien untersucht. Und man interessiert sich ausdrücklich für Möglichkeiten und Grenzen der Personalisierung von Ständeratsbewerbungen, die zwischen staatstragendem und parteiischem Auftritt der BewerberInnen beurteilt werden sollen. Denn bei Nationalratswahlen weiss man, was gegenwärtig zieht, und es ist gut, dass wir mehr erfahren, ob sich die Erkenntisse dieser Wahlanalyse auch für die Untersuchung von Ständeratswahlen eigenen.

Ich bin gespannt, zu welchen Schlüssen die studentischen Forschungsvorhaben führen, und ob wir danach mehr wissen über das Stiefkind der Schweizer Wahlforschung.

Claude Longchamp

Auf zur Analyse von Ständeratswahlen

Diese Woche findet mein Praxiskurs an der HSG zur “Analyse von Ständeratswahlen” statt. Besser hätte man weder den Zeitpunkt noch den Ort wählen können, denn in St. Gallen kommt es im Herbst zum wohl spektakulärsten Showdown bei diesen Wahlen.

In nächsten Semester beschäftige ich mich mit Ständeratswahlen. Das schwor ich mir, als ich die Forschungsberichte zu den Selects-Projekten sah, die sich ausschliesslich auf die Nationalratswahlen konzentrierten. Nun ist es soweit: vom Mittwoch bis Freitag findet mein Blockseminar hierzu statt.

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KandidatInnen bei der diesjährigen Ständeratswahl in St. Gallen sind Toni Brunner (SVP), Karin Keller-Sutter (FDP), Paul Rechsteiner (SP) und Eugen David (bisher, CVP)

Der Praxisbezug wird in verschiedenster Hinsicht gewährleistet: Erstens durch die Aktualität der Ständeratswahlen 2011. Zweitens durch die Kontroverse über die Funktion des Ständerats als Vertretung der Kantone oder als Hort der Parteiinteressen. Und drittens gilt es, angesichts des Fehlens einer Theorie von Ständeratswahlentscheidungen nötig, induktiv vorzugehen, das heisst, den Stand der Dinge und ihre Veränderung zu beobachten.

Gewährleistet wurde der Praxisbezug auch durch den Beizug Externer. Das Eröffnungsreferat hält die St. Galler Regierungsrätin Karin Keller-Sutter, nebst Eugen David, Paul Rechsteiner und Toni Brunner eine der vier prominenten KandidatInnen für den Ständerat aus St. Gallen. Am zweiten Tag beleuchtet SF-Bundeshausredaktor Hanspeter Trütsch, weshalb sich selbst nationale Medien neuerdings für exemplarische Ständeratswahlen interessieren. Am dritten Tag lässt sich der Zürcher Werber Hermann Strittmatter, erfolgreicher Campaigner für verschiedene linke KandidatInnen bei Majorzwahlen, in die Karten schauen.

Ziel des Blockkurses ist es, eine Gesamtsicht zu bekommen, wie ein Modell zur Erklärung von Ständeratswahlen aussehen könnte. Angesichts des Forschungsstandes hierzu sind rasche Verbesserungen zu erwarten. Denn bis heute gilt, dass der common sense nicht nur die Wahlvorbereitungen in die kleine Kammer regiert, sondern auch die Analysen des Geschehens rund um den Ständerat.

Die Studierenden präsentieren diese ihre Forschungsvorhaben dazu, die sich in der ersten Semsterhälfte erarbeitet haben. Ich wiederum werde versuchen, das Wissen der Politik- und Medienforschung zu Personenwahlen in der Mediengesellschaft einzubringen. Ich bin gespannt, zu welchen Schlüssen wir kommen. Ich freue mich, wenn der Praxiskurs Resultate erbringt, die man die die Analyse der kommenden Ständeratswahlen einfliessen lassen kann.

Claude Longchamp

Analyse von Ständeratswahlen

Heute war Auftakt zu meiner Lehrveranstaltung an der Universität St. Gallen. Der Kurs ist einer der neun Praxisprojekte im Rahmen des MIA-Masterlehrgangs an der HSG. Hier meine Zielsetzung.

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Obwohl der Ständerat im bi-kameralistischen Parlament der Schweiz gleich wichtig ist wie der Nationalrat, ist seine Wah bisher praktisch nicht untersucht worden.

Ich habe mich entschieden, mit meine Studierenden Ständeratswahlen zu analysieren. Ausgelöst wurde dieses Interesse durch das jüngste Spezialheft der Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft. Es beansprucht, den Stand der Dinge zur Schweiz darzustellen, behandelt die Wahlen in die kleine Kammer aber mit keinem Artikel.

Ich habe zwei übergeordnete Fragestellungen an den Anfang der Veranstaltung gestellt:

Erstens: Kann man aus den Potenzialen von KandidatInnen sinnvolle Prognosen machen für das Wahlergebnis? – Ich hoffen auf ein Ja.
Zweitens: Wie weit können Aktualisierungen solcher Potenziale in Wahlkämpfen des Wahlergebnisses beeinflussen? – In denke, dass es auch hier positive Hinweise gibt.

In beiden Fällen interessieren die Wahlergebnisse als abhängige Variable. Dabei stehen Stimmenzahlen, Stimmenanteile, Beteiligungsanteile zur Verfügung. Ueber die Wahlmotive weiss so nichts, und es gibt praktisch keine Befragungen als Nachanalysen von Ständeratswahlen, die einem helfen würden, strategisches und taktisches Wählen zu analysieren. Untersuchbar sind aber Wahlergebnisse beispielsweise auf kommunaler Ebene, so im Stadt/Land- oder Sprachenvergleich.

Was die unabhängigen Variablen betrifft, schlage ich ein Raster vor, das bei den Potenzialen die institutionellen Rahmenbedingen, die KandidatInnen-Profile (im Vergleich) und die Allianzbildungen unterscheidet. Bei den Aktualisierungen differenziere ich nach dem Wahlkampf als solchem, nach den Kampagnen der KandidatInnen und nach den Medienstrategien.

Typische Indikatoren der Rahmenbedingungen sind das Wahlrecht, die Sitzzahl, die Zahl der freien Sitze sowie die Gesetzmässigkeiten erster und zweiter Wahlgänge. Bei den KandidatInnen-Profilen interessieren die Rollen der Bewerbung vom Amtsinhaber, über die Herausforderung bis zur Aufbau-Kandidatur. Es geht auch um die bisherige politische Karriere, den Leistungsausweise, die Erfahrugnen in Kampagnen, das Parteiimage und die Mitgliedschaften in politisch relevanten Gruppen. Schliesslich sollte man etwas über die Hausmacht der Bewerbungen wissen, die Allianzbildungen über Parteien hinweg und über Absprachen unter Parteien, welche den Wettbewerb bei einer Wahl einschränken.

Bei den Aktualisierungen geht es zunächst um das Unfeld einer Wahl, sei es, dass gleichzeitig weitere Wahlen oder Abstimmungen stattfinden. Es interessiert hier aber auch die Dauer des Wahlkampfes, und die Gepflogenheiten in einem Kanton bei solchen Wahlen. Wenn von Kampagnen die Rede ist, sollten die Stäbe der KandidatInnen verglichen werden, ihre Budgets, die beanspruchte professionelle Hilfe, die Werbe- und Kommunikationsstrategien sowie die direkte Wähleransprache und die Mobilisierungsaktionen. Schliesslich sollte man mehr wissen, über die Medienstrategien bei Ständeratswahlen, wie wichtig ihnen diese sind, welche Nähe und Distanz relevante Medien zu den Bewerbungen haben, wie ihre Redaktionskonzepte sind, wie sie mit Wahlwerbung umgehen, und wie das alles zusammenspielt.

Anlehnungen mache ich hiermit vor allem an das amerikanische Prognoseprojekt von pollyvote und an eine Untersuchung von Mark Balsiger zur Schweiz, der sich grundsätzlich mit Personeneffekten bei Nationalratswahlen beschäftigt hat.

Ich bin gespannt, was dabei herauskommt. Die ersten Diskussionen waren schon mal aufschlussreich. Sie zeigten mir, dass man sich zur weltanschaulichen Polarisierung von Personenwahlen Gedanken macht, dass man mehr über Emotionalisierung in Medienstrategien wissen möchte, und dass beispielsweise das Stadt/Land-Profil der Wahlkreise als Determinanten von linken und rechten Kandidaturen besonders interessiert.

Mehr später!

Claude Longchamp