Konkordanz in Theorie und Praxis

Die zweite Vorlesung zur „Wahlforschung in Theorie und Praxis“ an der Uni Zürich bot Anlass, über die Eigenheiten der Konkordanz-Diskurse in Politik und Politikwissenschaft und den Reformvorschlägen, die daraus resultieren, nachzudenken.

„Ich kandidiere zur Wiederherstellung der Konkordanz“, sagte Bruno Zuppiger kurz nach seiner Nomination als Bundesratskandidat 2011. Faktisch meinte er, mit seiner Bewerbung gegen Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf antreten zu wollen. Den Rest der Geschichte kennen wir. Zuppiger musste wegen Anschuldigungen seine Kandidatur zurückziehen; der nachnominierte Hansjörg Walther wurde nicht gewählt; die SVP ist unverändert mit nur einem Sitz im Bundesrat vertreten; sie hat, vorübergehend lautstark, den „Bruch der Konkordanz durch die andern“ beklagt, um dann doch mit nur einem Vertreter im Bundesrat zu bleiben.

PolitikwissenschafterInnen, die sich wie amerikanisch-niederländische Politikwissenschafter Arend Lijphart ein Leben lang mit dem Thema „Consociationalism“ auseinander gesetzt haben, kommen zu einem ganz anderen Verständnis. Konkordanz sei eine Form der Regierungsweise in tief gespaltenen Gesellschaften, um Gewalt in der Politik zu vermeiden, Demokratie zu gewährleisten und Stabilität der Regierung zu garantieren. Ausdruck der Konkordanz seien Proporzwahlrecht für das Parlament, grosse Koalitionen für die Regierung, Minderheitenschutz und Föderalismus.
Konkordanz, könnte man es zuspitzen, bestimmt sich nicht einfach nach der personellen oder parteipolitischen Zusammensetzung der Regierung; sie ist ein Demokratiemuster, der Umstände wegen.

Eben dieses Demokratiemuster der Schweiz bestimmte Adrian Vatter, Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Bern, wie folgt:
. Erstens, grundlegend sei, dass nicht die Parteien die Interessenvermittlung dominierten, sondern den Verbänden eine zentrale Rolle in der Willensbildung zukommt; das versachliche den möglichen Parteienstreit.
. Zweitens, Machtteilung werde durch die hohe Bedeutung der Kantone im schweizerischen Politsystems nachhaltig garantiert; das relativere die Möglichkeit, zentral eine Politikrichtung vorzugeben.
. Drittens, die durchdeklinierte direkte Demokratie in der Schweiz begünstige die BürgerInnen-Partizipation auf allen Stufen; sie wirke mässigend auf politische Einseitigkeiten aus, die sie durch Volksentscheidungen korrigiere.
Mit letzterem geht typischerweise einher, dass Konkordanz auf einer Mehrparteienregierung basiere, die mehr als die knappest mögliche Mehrheit integriere. Nicht entgangen ist Vatter, dass Konkordanz heute auf kantonaler und Bundesebene unterschiedlich gut funktioniere; der Wandel weg vom Spezialfall hin zum Normalfall finde hier schnell statt als in den Kantonen, ohne jedoch schon dort angekommen zu sein.

Wenn Determinanten des politischen Systems auf Konkordanz ausgerichtet bleiben, ein zentrales Element, das Parteiensystem auf Bundesebene mit seiner Aufteilung in neue Akteure und polarisierte Parteien, jedoch in eine andere Richtung weist, stellt sich die Frage, was verändert werden muss. Ich denke, es gibt unter den hiesigen Politologen heute drei typische Antworten darauf:

. Einmal, Regierungskonkordanz bleibt zentral, sie muss aber institutionell erneuert werden, um den veränderten Bedingungen in Medien, Parlament und Regierung Rechnung zu tragen.
. Sodann, das Politsystem ist überholt und muss den neuen Entwicklungen in den Parteien entsprechend in Richtung Alternanz umgebaut werden.
. Schliesslich, die Regierung soll inskünftig alle jene Parteien umfassen, die sich langfristig an konkordanten Regeln ausrichten wollen.

Letzteres vertritt beispielsweise der Genfer Politikwissenschafter Pascal Sciarini; er spricht dabei von der kleinen Konkordanz, die funktionsfähig bleibe, auch wenn auf eine Polpartei im Bundesrat verzichtet werde. Zweiteres ist das Steckenpferd von Hanspeter Kriesi, Politologieprofessor in Zürich, demnächst in Florenz, der die SP auffordert, in die Opposition zu gehen, sich umfassend zu erneuern und so den politischen Kampf mit der erstarkten Rechten in einem veränderten System aufzunehmen. Ersteres wiederum propagierte jüngst Michael Hermann mit seinem Plädoyer für eine Revitalisierung der Konkordanz durch Elemente der Volkswahl des Bundesrates, des Schiedsgerichtes durch das Volk bei uneinigen Parlamentskammern und durch Aufwertung der Bundeskanzlei zu einem Präsidialdepartement mit besonderen Befugnissen.

Ich selber bin ja immer wieder erstaunt zu sehen, wie gut der Sog funktioniert, dass man als grosse Parteien nur in der Regierung Erfolge für die eigene Wählerschaft erzielt, selbst wenn man Probleme auf sich lädt. Denn insbesondere das Kollegialsystem wirkt nachhaltig einschränkend auf die Profilierungsmöglichkeiten einer Regierungspartei.
Konkordanz ist deshalb eine Herausforderung für politische Parteien, die dauerhaft Erfolg haben wollen, die sie nicht unterschätzen sollten. Ohne Anpassungsleistungen der Parteien an die mehr oder weniger garantierte Teilhabe an der Regierung kann das Demokratiemuster nicht überleben, das bei aller Veränderbarkeit der Schweiz durchaus angemessen bleibt.

Claude Longchamp

Was ich mit der Vorlesung zur Wahlforschung erreichen will

Die Vorlesungszeit hat begonnen: In Zürich unterrichte ich im Bachelor-Programm der Politikwissenschaft erneut Wahlforschung – in Theorie und Praxis. Hier meine Absichtserklärung.

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Ort des Geschehens: Das neue Gebäude des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Zürich

Fünf Ziele hat die Wissenschaft, will ich meinen Studierenden der Politikwissenschaft an der Universität Zürich während der Vorlesung zur Wahlforschung beibringen:

. die Beschreibung der Wirklichkeiten bei Wahlen
. die Erlärung von Ursache-/WirkungsZusammenhängen
. die theoretische Begründung von
. die Prognose von Ereignissen und
. das Handeln als Wissenschafter.

Jede dieser Zielsetzungen ist anspruchsvoll, wie mit nicht zuletzt bei der Vorbereitung wieder einmal klar geworden ist.

Denn Medien beschreiben einem, was ist, doch machen sie das nach ihrer eigenen Logik, der die Wissenschaft nicht folgen muss. Ursache- und Wirkungszusammenhänge scheinen Berater besser zu kennen als Forscher, was auf die Akteure ausstrahlt und die Aufgabe der Wissenschaft nicht erleichtert. Theorien wiederum hat die Wissenschaftsgemeinschaft entwickelt, doch stammen die meisten aus den USA – und sind durch das politische System geprägt, genauso wie in vielem amerikanischen Kultur mitschwingt. Bei den Schwierigkeiten, welche der Prognose von Ereignisse innen wohnen, muss man gar nicht so weit ausholen; die eigenen Erfahrungen reichen da. Und last but not least, wird das Handeln als Wissenschafter schnell missverstanden.

Letzteres war auch schon in den ersten Diskussionen während der Lehrveranstaltung der Fall. Das hat wohl damit zu tun, dass Politikwissenschaft – gerade während dem Studium – kontemplativ ist. Der zentrale Studienmodus ist der des Schauen, bisweilen der Beschaulichkeit. Erklärungen, die man dazu anbringt, haben überwiegend den Charakter der ex-post-Erklärung. Häufig sind die induktiver Natur, eher selten deduktiver. Vorhersagen muss man während der ganzen Ausbildung zur PolitikwissenschafterIn allermeistens nichts – und ist vielleicht genau deshalb erfolgreich.

Mir geht es, mit der Vorlesung zur Wahlforschung in Theorie und Praxis, um mehr: Zum Beispiel um die rasche Vermehrung von Politologen in der Wahlpraxis.

Nicht nur, weil zahlreiche Kandidierende ein politikwissenschaftliches Studium hinter sich haben. Auch, weil PolitologInnen heute GeneralsekretärInnen von Regierungsparteien sind, in Wahlausschüssen arbeiten, die Wahlkämpfe durchziehen, in grosser Zahl in Medien darüber berichten oder als ExpertInnen für Medien arbeiten. Dafür werden sie kaum vorbereitet. Mehr noch, auch PolitikwissenschafterInnen, die sich nicht so nahe an die Aktualität wagen, handeln heute zunehmend in Anwendungsfeldern: beileibe nicht nur als PraktikantInnen in Wahlstäben amerikanischer PräsidentschaftskandidatInnen, immer mehr auch als WahlhelferInnen in neuen Demokratien, wo sie daran beteiligt sind, eine vernünftige Wahlpraxis auszubauen. Nicht zuletzt werden PolitikwissenschafterInnen, gerade auch aus der Schweiz, an vielen Orten um Rat gefragt, wie Wahlen konzipiert sein sollten, damit sie ihrer vornehmsten Aufgabe, dem friedlichen Machtwechsel gerecht werden, und nicht selber zum Anlass für Gewalt werden. Daran zu arbeiten, ist eine der anspruchsvollsten Herausforderungen, auf die man sich frühzeitig einstellen sollte.

Oder um noch deutlicher zu sagen: WahlforscherInnen, aber auch WahlexpertInnenen sollen zurecht ein politikwissenschaftlichen Studium machen können, dass nicht ideologisch geformt ist, indem nicht nur die Aktualität den Takt angibt. Meines Erachtens braucht es indessen keine Hyper-Spezialisten, die theoretisch alles kennen, von der Praxis aber keine Ahnung haben, die fast alles wissen, aber über fast nichts. Nebst dem Können in der Forschung geht es mir auch um Fragen der Relevanz von wissenschaftlichem Wissen, das sich nicht scheut, bisweilen mitten im Geschehen zu stehen, ohne zu glauben, man sei bloss Techniker und ohne zu meinen, man sei der Guru, indes, wie es Jürgen Habermas formulierte, ihren eigenen Diskurs im Dialog mit der Politik führen, wobei Ziel und Mittel des politischen Handelns zum Vorteil beider Seiten aktiv verhandelt werden.

Claude Longchamp

Auf nach Zürich!

Wahlforschung in Theorie und Praxis – heisst meine Lehrveranstaltung im kommenden Frühlingssemester an der Universität Zürich. Eine erster Einblick.

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Politikwissenschaft für den Wahltag: 12 Stunden-Live-Einsatz im Wahlstudio des Schweizer Fernsehens – und was davon für die Wissenschaft bleibt.

Wahlforschung ist interdisziplinär: Zuerst interessierten sich die Juristen für das Wahlrecht, dann die Statistiker für die Wahlergebnisse. Geografen vermassen die Resultate in den Regionen und Historiker berichteten über ihren Wandel in der Zeit. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Wahlen zugenommen: Institutionellen Fragen, das Wahlverhalten, die Einflüsse aus Wirtschaft, Gesellschaft und Medien haben an Bedeutung gewonnen, und sie bedingen, Wahlen unter verschiedenen Perspektiven zu betrachten.

Im Frühlingssemester unterrichte ich Wahlforschung an der Universität Zürich. Die Vorlesung wird vom Institut für Politikwissenschaft im Rahmen des sozialwissenschaftlichen Bachelor-Studiums angeboten. Die Besonderheit meines Kurses: Er soll in Theorie und Praxis einführen, also nicht nur ökonomische und sozialpsychologische Verhaltensmodelle lehren, das Wirken der Parteien und Medien vorstellen und die Auswirkungen des sozialen und politischen Wandels auf die Ergebnisse diskutieren, nein, er wird auch über Projekte der Wahlberichterstattung, Lücken der Forschung und die Rolle der PolitologInnen in der Mediendemokratie berichten.

Der zentrale Gegenstand könnte aktueller nicht sein; ich werde vorwiegend Beispiele aus dem Wahljahr 2011 nehmen: Die Nationalrats- resp. Ständeratswahlen, die Bundesratswahlen, aber auch die kantonalen Wahlen sollen zur Sprache kommen.

Detailliert habe ich die Veranstaltung noch nicht geplant. Sie entsteht gegenwärtig in “meinem Bauch” – auch als Verarbeitung von Ergebnissen, Analysen, Eindrücken aus dem auslaufenden Jahr. Viel Material hat sich in meinem Büro gesammelt, das ich dieser Tage sortiert, bewertet, weggeworfen oder abgelegt habe. Jetzt muss ich Gefühle, Wissen und Können nur noch in grossen Ganzes bringen. Hier schon mal die Disposition:

1. Vorlesung: Einführung zur Wahlforschung in Theorie und Praxis
2. Mikro-Theorie (I): Das einfache ökonomische Verhaltensmodell
3. Mikro-Theorie (II): Parteibindung, Themen- und Kandidatenorientierung
4. Makro-Theorie (I): Historische Konfliklinien und das Parteiensystem der Schweiz
4. Makro-Theorie (II): postmaterialistischer und nationalkonservativer Wertewandel als neue Konfliktlinien im Parteiensystem der Schweiz
5. Politische Mobilisierung und Wahlbeteiligung
6. Wahlen und Wahlkämpfe in der Mediengesellschaft von heute: zwischen Aufklärung und Propaganda
7. Wahlen und Wahlrecht in der Schweiz
8. Wahlprognosen im Vergleich
9. Modellhafte Analyse der Nationalratswahlen
10. Modellhafte Analyse der Ständeratswahlen
11. Wahlen im Konkordanzsystem: Analyse der Bundesratswahlen 2011
12. PolitologInnen im Wahlgeschehen 2011

In Gedanken mache ich mich auf nach Zürich!

Claude Longchamp

Partij voor de Vrijheid als Partei neuen Typs

Die hier bereits einmal aufgeworfene Frage, ob mit islamfeindlichen Positionen eine neue Konfliktlinie in den europäischen Parteiensystemen entsteht, war Gegenstand einer Diskussion in meiner heutigen Vorlesung zur Wahlforschung. In den gegebenen Antworten überwog die Skepsis, wenn auch die niederländische PVV als Partei neuen Typs verstanden werden kann.

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Positionierung der PVV 2010 gemäss dem niederländischen Politikwissenschafter André Krouwel, für den die PVV 2010 konservativ ist. Der jüngste Berichte zu den Entwicklungen des niederländischen Parteiensystems bezeichnet die PVV etwas komplexer als neue radikale Rechte mit einer nationaldemokratischen Ideologie, aber ohne rechtsextreme Wurzeln.

Es war eine Woche, in der sich Vieles um Geert Wilders drehte: Zuerst sprach er vor Getreuen in Berlin. Dann gaben die niederländischen Konservativen grünes Licht für eine Minderheitsregierung mit den Rechtsliberalen, die sich nur mit Duldung Wilders Partei für die Freiheit an der Macht halten kann. Schliesslich musste sich Wilders wegen mutmasslicher Hetze gegen den Islam vor Gericht verantworten, ohne dass schon ein Urteil gefällt worden wäre.

Um sinnvollerweise von einer (neuen) Konfliktlinie im Parteiensystem eines Landes sprechen zu können, definierte der Florenzer Politikwissenschafter Stefano Bartolini drei Kriterien:

. Es braucht eine tiefgreifende Spaltung in der Gesellschaft.
. Auf dieser aufbauend müssen neue kollektive Identitäten entstehen.
. Diese müssen durch neue parteiähnliche Organisationen verfestigt werden.

Erstes ist gegenwärtig offensichtlich vielerorts vorhanden. Namentlich die Globalisierung hat soziologisch bestimmbare Gewinner und Verlierer hervorgebracht, die seit einiger Zeit gesellschaftliche Spannungen hervorbringen. Zu den zentralen Punkten des BürgerInnen-Alltag gehört insbesondere die Migration und die Durchmischung von Kulturen. Dazu gehört an verschiedenen Orten eine Anwachsen der Islamfeindlichkeit. Ob daraus auch verbreitet neue kollektive Identitäten entstehen, kann indessen beizweifelt werden. Damit verringert sich die Chance, dass politische Organisationen diese zur Basis einer Partei machen könnten.

Es ist aber auch möglich, die PVV ganz anders, nämlich als eine Partei neuen Typs zu analysieren. Sie hat nun ein Mitglied, ihren Gründer Geert Wilders. Alle anderen Aktivisten sind Supporter. Deshalb versucht man auch, die Partei im Sinne des politischen Entrepreneurships zu interpretieren. Sie begann als parlamentarische Gruppe, die rechtskonservativ politisierte, wird unverändert als rechtspopulistisch, positionsmässig neuerdings aber als konservativ eingestuft. Sie konzentriert sich auf die Islamfrage, hat hierzu eine offene Basis, lebt von der Behandlung in den Medien und hat kaum Parteistrukturen, die einen demokratischen Willensbildungsprozess strukturieren würden, entwickelt. Eine Herleitung aufgrund sozialstruktureller Bedingungen versagt damit weitgehend.

So kann man auch folgende Hypothese wagen: Die PVV nimmt gerade deshalb erfolgreich an Wahlen teil, weil sie konsequent auf die Kommunikation eines Themas mittels eines Kommunikators setzt, der sich wie ein Politunternehmer verhält. Das ist für die Politik in der Mediengesellschaft wohl typisch.

Claude Longchamp

Das Werden des schweizerischen Parteiensystems

Gegenstand meiner gestrigen Vorlesung zur Wahlforschung an der Uni Zürich war die Analyse von Parteiensystemen und ihrer Bedingungen. Hierzu braucht es ein Zusammenspiel von Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft.

Politologen haben immer wieder versucht, sie aus dem Wahlrecht abzuleiten. Frühe Theoretiker wie der Franzose Maurice Duverger, aber auch heutige Politikwissenschaft wie der Estländer Rein Taagepera haben uns die Zusammenhänge zwischen Mehr- und Verhältniswahlrecht einerseits, Zahl der Parteiensystem anderseits nahegelegt. Was die Schweiz betrifft, können wie gegenwärtig von einem polarisierten Pluralismus in einem Mehrheitparteiensystem sprechen, das im Nationalrat fragmentierter ist als das europäische Mittel der Parteiensysteme, nicht aber im Ständerat.

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Parteiensysteme wie das der Schweiz kann man nur interdisziplinär analysieren.

Soziologen genügt diese Analyse nicht. Sie wollen begreifen, wie zentrale gesellschaftliche Konfliktlinie, Staatswerdung und Parteiensysteme zusammenhänge. Der Amerikaner Seymour Lipset und der Norweger Stein Rokkan haben mit ihrer Cleavage-Theorie die Basis hierfür gelegt. Der Verlauf der Revolutionen in der Neuzeit, beginnend mit Reformation/Gegenreformation, weiter führend mit der Französischen Revolution, bis hin zur Industriellen Revolution legte nach ihnen die Basis für europäische Staatsentwicklung, für die Brücken über die Gräben nötig waren, die so aufgerissen worden waren. Wie die Niederlande zählt die Schweiz nach ihnen zu jenen Staaten, für eine unvollständige Reformation typisch ist, mit der der Staat die Kontrolle über die nationale Kirche gewann, eine starke Minderheit Katholiken aber verblieb, mit der Industrialisierung das (klein)städtische Bürgertum die erste Regierungspartei, den liberal-radikalen Freisinn stellte, und der katholische Konservatismus, später auch die Bauern- und Bürgerpartei sowie die Sozialdemokratische Parteien mindestens vorerst aus der Opposition heraus politisierten.

Schweizer Historiker verweisen darüber hinaus auf die unterschätzten geschichtlichen Konflikte zwischen Stadt und Land, Herrn und Untertanen, aber auch innerhalb der Städte zwischen Patriziern und Bürger, Stadtadel und Zünften wird nur unzureichend erfasst. Zudem wurde der Erfolge einer nationalen Revolution durch die Beständigkeit der Kantone, die Mehrsprachigkeit des Landes und die Regionalismus in zahlreichen Kantonen immer wieder gebrochen. Schliesslich spaltete die Demokratisierung der staatlichen Strukturen den Freisinn, und verlangte die Etablierung der Volksrechte die Ausbildung nationaler Dachorganisationen über die weitgehend kantonal strukturierten Parteien. Ihre grundlegende Ausprägung hat das Parteiensystem der Schweiz durch den Uebergang von der regierenden Mehrheitspartei FDP hin zur Konkordanz-Regierung vin heute erhalten.

Daniele Caramani, Politikwissenschafter an der Universität St. Gallen, hat zudem klar gemacht, dass die aktuellen Entwicklungen der Parteiensystem durch die gegenwärtigen Cleavages geprägt sind: Während des 20. Jahrhunderts, der Zeit der grossen Ideologien interessierten namentlich die Spaltungen zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen, bürgerlich und faschistisch ausgerichteten Parteien. Anderseits geht es um die postmodernen Konfliktlinien, die im wesentlichen aus der Oekologiedebatte der 80er Jahre und der Gobalisierung seit dem Ende des Kalten Krieges entstanden sind. Sie können beigezogen werden, um grüne Parteien, aber auch Antipoden zu ihnen wie die Autoparteien zu erklären resp. um das Aufkommen antieuropäisch geprägter Parteien angesichts der Europäisierung der Politik zu analysieren.

Das eigentümliche der SVP ist, dass es ihr mit der Umpositionierung von einer bürgerlich-konservativen Zentrumspartei zu einer Mischung aus Volkspartei und Rechtspopulismus gelang, nicht nur Globalisierungsverlierer in den unteren Schichten für sich zu gewinnen, sondern auch neoliberal Denkende in Opposition zum politischen System. Sie ist auch nicht einfach mit der EU-Gegnerschaft insgesamt deckungsgleich ist, sondern, führungsmässig und kommunikativ getrieben, eine Sammelbewegung nationalkonservativ gesinnerter SchweizerInnen. Das macht sie zur stärken Partei am rechten Rand des Parteienspektrums in Europa, die in die Regierung auf nationaler Ebene eingebunden ist.

Claude Longchamp

Theorie und Praxis der Wahlforschung

Morgen startet meine Vorlesung an der Uni Zürich zur “Wahlforschung in Theorie und Praxis”. Mit einem Anschauungsbeispiel aus der Praxis – und einer Reflexion, was wir eigentlich über Bundesratswahlen wissen (können).

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Kann man geheimen Wahlen das Geheimnis der Entscheidungen entlocken? Einer der Herausforderungen der Wahlforschung

Den Startschuss gebe ich aus aktuellem Anlass mit einer Instant-Analyse der Bundesratswahlen von gestern. Was ist geschehen? Was weiss kann man wissen, wer wen gewählt hat? Was kann man an Motiven annehmen, und was als Folgen unterstellen?

Anhand dieser Fragen soll diskutiert werden, was die Unterschiede zwischen normativer und empirischer Wahlforschung ist, welche Aussagen Positivisten und Pragmatiker in der Forschung zulassen, und wie sich die Anwendungs- und die Grundlagenforschung unterscheiden.

Das wird uns die Stichworte liefern, um die Wahlen von gestern auch unter zwei übergeordneten Themenstellung diskutieren zu können: Ist die erstmalige Frauenmehrheit im Bundesrat ein Trend oder eine vorübergehender Ausschlag? Und welche Form von Konkordanz haben wir heute eigentlich?

Uebersicht über die Themen
24.09.2010 Einführungsbeispiel/Wissenschaftstheorie                          
01.10.2010 Analyse von Parteiensystemen
08.10.2010 Der Rational-Choice Ansatz in der Wahlforschung
15.10.2010 Der sozial-psychologische Ansatz in der Wahlforschung
22.10.2010 Wahlen in der Mediengesellschaft 
29.10.2010 Nachanalysen der Nationalratswahlen Schweiz: die selects-Studien
05.11.2010 Voranalysen der Nationalrastwahlen Schweiz: die Wahlbarometer-Studien
12.11.2010 Politische Partizipationsforschung und Wahlanalysen
19.11.2010 Fallbeispiel Abstimmungsforschung: EU-Abstimmungen 1992-2006
26.11.2010 Voranalysen Abstimmungen Schweiz: SRG-Trend-Befragung zur den Volksasbstimmungen vom 28. November 2010
03.12.2010 Nachanalysen Abstimmungen Schweiz: Vox-analysen zur Volksabstimmungen
10.12.2010 Fragestunde/Repetition
17.12.2010 Prüfung

Generell lehnt sich die Vorlesung während des ganzen Herbstsemesters im Aufbau an jene im letzten Herbstsemester an. Im Zentrum steht die Analyse von Wahlen, die Erklärung, warum es Parteien gibt, was ihre Aufgaben sind, wie Wahlkämpfe in der Mediengesellschaft funktionieren, ob Wählende eher rational oder emotional entscheiden, und was man mit all dem Wissen machen, wenn man Wahlergebnisse analysiert oder Wahlvorbereitungen trifft. Thematisch wurde die Vorlesung gegenüber dem Vorjahr etwas gekämt, aber auch erweitert: Neu wird es auch eine Veranstaltung zur politischen Partizipation geben, und die Abstimmungsforschung wird systematischer als bisher berücksichtigt werden.

Ich freue mich, auf die riesige Herausforderung, ein hoffentlich gut besuchte Veranstaltung zu haben, die angehenden PolitologInnen etwas Spannendes und Bleibendes mit auf ihren Weg durchs Studium und darüber hinaus gibt. Denn die Vorlesung heisst “Wahlforschung in Theorie und Praxis”.

Claude Longchamp

Auf Vortragstournee

Meine Vorträge der Herbst/Winter-Saison 2010 stehen vor der Tür. Hier eine Uebersicht, zu was ich in diesem Jahr in Vorträgen oder Kursmodulen noch sprechen werde.

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“Woher kommt die Schweiz, was ist sie, und wohin treibt sie?” Diesen Fragen gehe ich zahlreichen Vorträgen und Kursen bis Ende Jahr nach.

Für 2010 ist mein Haus voll. Was ich 2011 mache, werde ich bald einmal entscheiden. Sicher stehen da Theman aus dem Wahljahr im Vordergrund.

Referat und Kurse Herbst/Winter 2010

10./11. September 2010: “Demoskopie und Oeffentliche Meinung”, Kursmodul im CAS Politische Kommunikation der Zürcher Hochschule Winterthur

24. September 2010: “Wahlen: Betätigungsfeld von PolitologInnen am Beispiel der Schweizer Bundesratswahlen”, Kursmodul im Rahmen der Lehrveranstaltung Wahlforschung an der Uni Zürich

29. September 2010: “Entstand die Schweiz 1291? Eine Provokation”, Referat zum fulehung vor dem Mittelalterverein Thun

1. Oktober 2010: “Das Parteiensystem der Schweiz und in europäischen Staaten: politologische, soziologische und historische Herleitungen”, Kursmodul im Rahmen der Lehrveranstaltung Wahlforschung an der Uni Zürich

8. Oktober 2010: “Alles nur noch Eigennutz? Möglichkeiten und Grenzen von “rational choice” Modellen als Erklärungsansätze für das Wahlverhalten”, Kursmodul im Rahmen der Lehrveranstaltung Wahlforschung an der Uni Zürich

15. Oktober 2010: “Individuen oder Gruppen? Wahlentscheidung im Lichte der Sozialpsychologie”, Kursmodul im Rahmen der Lehrveranstaltung Wahlforschung an der Uni Zürich

22. Oktober 2010: “Vom Sein und Schein der Wahlen in der Mediengesellschaft”, Kursmodul im Rahmen der Lehrveranstaltung Wahlforschung an der Uni Zürich

25. Oktober 2010: “Verschwinden die Mittelschichtsfamilien in der Schweiz?”, Referat vor dem BürgerInnen-Forum Kirchberg

27. Oktober 2010: “Lobbying. Eine neue Form der politischen Einflussnahme bahnt sich ihren Weg”, Kursmodul im CAS Medienarbeit des MAZ.Die Schweizer Journalistenschule

29. Oktober 2010: “Selects. Das Wahlprojekt der Grundlagenforscher in der Schweiz im Spiegel der internationalen Forschung”,

31. Oktober 2010: “Die Zukunft des politischen Sytems der Schweiz”, Beitrag an der Jugendparlamentskonferenz

4. November 2010: “Direkte Demokratie in der Schweiz und anderswo” (Titel provisorisch), Referat an der Weiterbildungstagung der Bernischen MittelschullehrerInnen

4. November 2010: “Schweizer Werte. Ein übergeordnetes Wahlkampf-Thema 2011?”, Referat vor der FDP Baselland

5. November 2010: “Wahlbarometer. Das Wahlforschungsprojekt der SRG”, Kursmodul im Rahmen der Lehrveranstaltung Wahlforschung an der Uni Zürich

12. November 2010: “Politische Partizipationsforschung: Wer entscheidet bei Schweizer Wahlen und Abstimmungen?”, Kursmodul im Rahmen der Lehrveranstaltung Wahlforschung an der Uni Zürich

18. November 2010: “Politische Theorie – wozu?”, Kursmodul im Rahmen des Politiklehrgangs des Berner Bildungszentrums für Wirtschaft

19. November 2010: “Europa-Abstimmungen in der Schweiz: Was man aus Abstimmungsergebnisse und -analysen über den Willen der Bürgerschaft ableiten kann”, Kursmodul im Rahmen des Politiklehrgangs des Berner Bildungszentrums für Wirtschaft

19. November 2010: “Sind Abstimmungsprognosen eine Wissenschaft?”, Referat bei der Naturforschenden Gesellschaft Winterthur

26. November 2010: “SRG Trends: Eine Bilanz zu Abstimmungsuntersuchungen vor Volksabstimmungen”, Kursmodul im Rahmen der Lehrveranstaltung Wahlforschung an der Uni Zürich

3. Dezember 2010: “Warum wer wie stimmt? Die VOX-Analysen als Instrument der Nachanalyse von Schweizer Abstimmungsentscheidungen auf der BürgerInnen-Ebene”, Kursmodul im Rahmen der Lehrveranstaltung Wahlforschung an der Uni Zürich

7. Dezember 2010: “Die Schweiz, das Land, die Städte – richtige oder falsche Prioritätensetzung?”, Referat vor dem Rotary Club Bern

Auf zur neuen Wahlforschung!

Zum zweiten Mal in Folge werde ich im Herbstsemester 2010 an der Universität Zürich die Vorlesung zur Wahlforschung halten: eine grosse Herausforderung für einen Praktiker der Forschung im Tummelfeld der Theoretiker zu bestehen!

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Lichthof Hauptgebäude Uni Zürich, wo ich im Herbstsemester wieder unterrichten werde

Die erste Austragung der Vorlesung war ein voller Erfolg. Mehr als 50 Studierende kamen zu dieser (nicht-obligatorischen) politikwissenschaftlichen Veranstaltung. Ihr Feedback war überwiegend positiv. Gelobt wurden der gebotene Stoff, die Art der Präsentation während den Vorlesungsstunden, und der Bogen von der Theorie zur Praxis. Begeistert war man von den Bezügen zur Aktualität, zu Beginn der Stunden – wenn sie auch gelgentlich zu lange waren. Wie überhaupt, die Menge der Unterlagen und Themen, die angesprochen wurden wohl etwas zu gross waren.

Nun bekomme ich im Herbstsemester eine gute Gelegenheit, die Schwachpunkte anzugehen und die Starkpunkte auszubauen. Dafür habe ich den besten Prüfling der erster Runde, (Blogger) Simon Lanz, angestellt. Er überarbeitet gegenwärtig alle Unterlagen aus Sicht eines Lernenden.

Am 24. September beginnt die Vorlesung. Der Einstieg wird den Bundesratswahlen gewidmet sein, konkret der Frage, wie man sie gesamtgesellschaftlich analysieren, im politischen System verorten kann, und welche Beweggründe die ParlamentarierInnen die eine oder andere Kandidatur favorisieren lassen. Frischeres Material dafür kann man nicht haben.

Der erste Teil der anschliessenden Semesterveranstaltung wird den theoretischen Ansätzen gewidmet sein, wie sie in den verschiedenen Sozialwissenschaften entwickelt worden sind, um die Ausprägung von Parteiensystem zu untersuchen, ökonomische und psychologische Elemente im Wahlverhalten zu bestimmen, und die Transformation von Wahlkämpfen in der sich abzeichnenden Mediengesellschaft zu bestimmen.

Der zweite Teil wird sich mit der doppelten Praxis beschäftigen: der Grundlagenforschung einerseits, die von UniwissenschafterInnen betrieben wird, um sich bestehende Theorie zu testen, und der Anwendungsforschung anderseits, die mit dem Zweck betrieben wird, die im vielfältiger werdenden Realitäten zu untersuchen. Dabei werde ich mich, anders als das erste Mal, nicht fast ausschliesslich auf Wahlen, Wahlkämpfe und Wahlentscheidungen konzentrieren, sondern, ausgehend vom Schweizer Beispiel, Abstimmung und Wahlen etwa gleichwertig behandeln. Der Ausblick wird den Wahlen 2011 gewidmet sein: der Neubestellung des Parlamentes und – nicht zu vergessen, der Regierung!

Ich freue mich auf die grosse Herausforderung, eine zeitgemässe, spannende und fliessende Vorlesung an der Universität Zürich halten zu können.

Claude Longchamp

“Protestkampagne” ja, “soziale Bewegung” nein!

Pause. Zwischen zwei Vorlesungen eine Viertelstunde Unterbrechung. Zeit für einen kleinen Schwatz mit StudentInnen in den Gängen der Universität Zürich, wo die Securitas an uns vorbei patroulliert. Unweigerlich setzt das Gespräch bei den StudentInnen-Protesten der letzten Tage an. Einige Notizen zum Thema.

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Es gäbe Missstände mit der Umsetzung von Bologna – etwa für Studierende, die arbeiteten, sagt mein Gegenüber. Der Zwang zur Prüfung beschleunige das Studium, sei aber unter StudentInnen unbeliebt, fügt er hinzu. Diese Unzufriedenheit werde nun von linken Gruppen instrumentalisiert; bürgerliche Studentengruppen würden da nicht mitziehen.

Nach meinem Besuch vor einer Woche bei den Demonstrierenden sei ich erstaunt gewesen, entgegne ich, wie harmlos das Ganze sei. Der Diskurs sei sachbezogen, anders als es die Konfrontation mit dem Rektor war. Von einer tiefgreifenden Revolte, wie ich sie selber in den 70ern noch erlebt habe, würde man nicht viel merken. In der Stadt spreche man kaum über das, was in der Uni passiere.

Schlug da mein romantisierender Blick auf meine eigene Studentenzeit durch, frage ich mich, als ich im Zug sitze? – Und schlage die herumliegende “Zeit” auf. Dieter Rucht, 63, bekannter Soziologe in Berlin, analysiert das Geschehen an den deutschen Universitäten wie folgt: Von Sozialer Bewegung mag er nicht mehr sprechen. Die Arbeiterbewegung oder die Bürgerrechtsbewegung hätte eine andere Gesellschaft gewollt. Die Studierenden von heute forderten bessere Studienbedingungen. Protestkampagnen seien das, wie man sie seit einige Jahren an den Unis kenne.

Es protestierten heute nicht weniger als früher. Was aber fehle, sei der provokative Gestus. Früher hätten die Studenten schnell mal alle gegen sich gehabt, die Polizei, die Wasserwerfen, die Springerpresse. Das habe sie radikalisiert, charismatische Persönlichkeiten an der Spitze der Proteste hervorgebracht und sie zu einer Bewegung mit politischen Ziele geformt.

Rucht schätzt, die Studentenproteste hätten seit den späten 80er Jahren eine neue Qualität erhalten. Sie seien pfiffig, seien ein wenig, aber nicht zu frech, denn sie stellten die Frage nach der besten Bildung, was durchaus im Einklang mit bürgerlichen Werten stehe. Trotz abstrakter Kritik am Neoliberalismus, interessierten konkrete Sachen wie andere Lehrverhältnisse, bessere Ausstattungen und mehr ProfessorInnen. Das sichere ihnen die Unterstützung eines Teiles der UniversitätslehrerInnen und BildungspolitikerInnen zu.

Die Stellungnahme von Kurt Imhof, dem Zürcher Soziologie-Professor, passt gut dazu. “Reinfuttern, rauskotzen, und vergessen” ist wohl etwas zugespitzt, trifft aber die Stimmung, welche die Studierenden in der Uni mobilisierte. “Raustreten, umkrempeln, und hoffen” hält auch der Sympathisant der Studentenproteste nicht für die Schlagworte der Zeit.

Claude Longchamp

The “state of the art” in der akademischen Wahlforschung der Schweiz.

Die 10. Zürcher Vorlesung zur Wahlforschung war dem Stand der Dinge in der Schweiz gewidmet. Ausgangspunkt bildete das grösste akademische Wahlforschungsprojekt selects, das seit 1995 betrieben wird.

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Wahlentscheidung und Alter 2007: Bis 50 lassen sich politischen Generationen erkennen, darüber hinaus dominieren Lebenslaufeffekte mit Rechtstendenz

Beeindruckend am selects Projekt ist vor allem die Datenlage. Die repräsentativen Nachbefragungen basieren auf einer Grosszahl Interviews, die nationale, teilweise auf kantonale Aussage erlauben. Zu den für mich wichtigsten Forschungsergebnissen zählen insbesondere Erkenntnisse zur Altersabhängigkeit von Wahlentscheidungen. Denn in ihnen reflektiert sich bis heute die jüngere Zeitgeschichte der Schweiz. Wählende zwischen

… 18 und 24, in der Jetztzeit sozialisiert, kennen einen überdurchschnittliche SVP-Anteil;
25 und 44, in der Zeit nach dem Waldsterben politisiert, unterstützen über dem Mittel die Grünen.
35 und 54, durch den Aufburch der 68er geprägt, neigen mehr als der Schnitt zur SP.

Das sind nicht nur die Parteien, die sich elekotral am stärkersten erneuert haben; es sind auch die, welche Denk ihrer Verankerung in neuen politischen Generationen WählerInnen-Gewinne verzeichnen konnten. Bei der SP ist der Zyklus offensichtlich ausgelaufen, während er bei Grünen nicht mehr erneuert, bei der SVP aber ungebrochen anhält. Bei CVP und FDP lassen sich entsprechende Phänomene nicht, allenfalls nicht nicht erkennen.

Nebst solche Stärken kennt die akademische Wahlforschung in der Schweiz auch Schwächen. Unverändert stark ist ihre Ausrichtung an den länger- und mittelfristigen Determinanten von Wahlentscheidungen. Die kurzfristigen Einflüsse, namentlich jene, die sich aus dem Wahlkampf ergeben, werden noch immer kaum untersucht. Das gilt speziell für stark medialisierte Monente des Wahlkampfes wie zentrale Fernsehsendungen im Vorfeld der Wahl. Es gilt aber auch generell für Veränderungen der Meinungsbildung in der Mediengesellschaft, die durch Personalisierung, Emotionalisierung und Skandalisierung geprägt wird, während die sich die schweizer Wahlforschung unverändert an Sachthemen als Wahlhilfen ausrichtet.

Datenmässig darf sich die Wahlforschung in der Schweiz nicht mehr ausschliesslich oder vorwiegend auf Nachanalysen und KandidatInnenbefragungen stützen. Medienanalysen und Trendbefragung müssen hinzu genommen, um die Dynamiken des jeweiligen Wahlgeschehens besser verstehen zu lernen. Wünschenswert wären zudem Panelbefragungen, welche die kurfristige Meinungsbildung bei einer Wahl untersuchen würden, aber auch die biografische Entwicklung der politischen Entscheidungen auf Dauer untersuchen würden.

Namentlich der Vergleich von Studiendesigns der Wahlforschung in der Schweiz und etwa jener in Deutschland zeigt, dass die Schweiz den Anschluss an die internationalen Trends immer noch sucht.

Claude Longchamp