4 Szenarien für die anstehenden Bundesratswahlen

“Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt!”, lautet eine Volksweisheit. Das beherzigend, verzichte ich auf eine Prognose zu den anstehenden Bundesratswahlen. Dafür skizziere ich hier meine vier Szenarien, von denen jedes etwas an sich hat. Konkreter werde ich heute Abend in einem Vortrag vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft in Bern.

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Erstens, der Status Quo: Der neue Bundesrat wäre demnach, parteipolitisch gesprochen, der alte. Die Vakanz auf dem SP-Sitz von Micheline Calmy-Rey wuürde durch eine Vertretung der SP aus der Romandie ersetzt. Vorteil dieses Szenarios ist die personelle Stabilisierung des Bundesrates, der in den letzten 4 Jahren fast vollständig ausgewechselt worden ist. In vier Jahren kann man besser beurteilen, ob sich auch die BDP weiter etabliert hat und zu einer vergleichbaren Kraft geworden ist wie die FDP oder die CVP, und ob der Taucher der SVP bei der jüngsten Wahl mehr als eine Episode war. Je nachdem kann man dann verbindliche Entscheidungen, etwa im Sinne von Szenario 2 oder 3 treffen. Klar ist, dass die SVP mit diesem Szenario nicht zufrieden sein kann und der Machtkampf zwischen ihr und den anderen Parteien andauern wird. Immerhin, die Partei bekäme so die Chancen, einen oder zwei ausgewiesene und breit akzeptierte Bundesratskandidaturen aufzubauen. Selbstredend hat vor allem die BDP ein Interesse an dieser Perspektive, auch wenn man die neue Regierung nur noch beschränkt nach dem Konkordanzmuster hergestellt kritisieren würde.

Zweitens, die Rückkehr zur Zauberformel: BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf würde dem neuen Bundesrat nicht mehr angehören. Da sie ihre Kandidatur angemeldet hat, wird sie in dieser Perspektive abgewählt. An ihre Stelle tritt sofort ein Politiker der SVP. Der Vorteil dieser Variante ist evident: Die Grösse der Parteien würde zum entscheidenden Kriterium für die Zugehörigkeit im Bundesrat. Indes, die vier Parteien sind nicht mehr die gleichen wie 1959, als man die Formel begründete. Und damals wurde sie eingeführt, um die Vorherrschaft der FDP/SVP von Mitte/Links her zu brechen. Jetzt wäre es ziemlich anders, denn die SVP und FDP erhielten im Bundesrat ein Mehrheit. Das führt zur Schwäche der Variante: Beide Parteien verfügen weder im Parlament noch in der Bevölkerung über eine Mehrheit; sie könnten aber den beschlossenen Ausstieg aus der Atomenergie empfindlich bremsen. Zudem würden ausgerechnet die beiden grössten Wahlverlierer in der Regierung gestärkt. Unzufrieden wären die Linksparteien und die UmweltschützerInnen. Interessiert an dieser Variante sind die SVP und die FDP.

Drittens, die Etablierung der neuen Mitte zwischen den Polen: In diesem Szenario bleibt BDP-Bundesrätin Widmer-Schlumpf in der Bundesregierung. CVP, BDP und GLP treten in eine lockere Fraktionsgemeinschaft ein. Sie bleiben eigenständige Parteien, die je eine Fraktion bilden. Sie bilden aber ein übergeordnetes Gremium, das mit einem qualifizierten Mehr übergeordnete Standpunkte diskutieren und beschliessen kann, die für alle drei Fraktionen Gültigkeit bekommen. Gemeinsam melden sie den Anspruch auf zwei Sitze im Bundesrat an, welche das Zentrum abdecken – und zwar zu Lasten der FDP, die als Mitte/Rechts-Partei eine Sitz verlöre. Zur Hälfte ist dieses Szenario gleich wie das zweite; die SVP erhielte als grösste Partei der Schweiz zwei Sitze. Allerdings würde dies nicht gegen Bundesrätin Widmer-Schlumpf gerichtet sein, sondern gegen Johann Schneider-Ammann. Vorteilhaft wäre, dass die Zusammensetzung den Kräfteverhältnissen unter den Bundeskuppel angepasst würde. Nachteilig selbstredend, dass nach der SVP auch die FDP an der Konkordanz Zweifeln würde. Nutzniesser dieser Variante sind letztlich alle – ausser der FDP.

Viertens, jeder gegen jeden: Auch in diesem Szenario kommt es zur Wiederwahl der BDP-Bundesrätin Widmer-Schlumpf. Danach brechen aber alle Dämme. Die SVP attaktiert erfolgreich die FDP. Johann Schneider-Ammann würde aus dem Amt gedrängt, indes erneut kandidieren, und zwar im letzten Umgang als Nachfolger für SP-Bundesrätin Calmy-Rey. Hier würde er reüssieren. Die so ausgelösten Turbulenzen sind das Ende des Wiederbelebungsversuch der Konkordanz. Die Regierung wäre weniger aus Strategie entstanden, eher als Unfall. Sie würde einzeln zum Parlament passen, gesamthaft aber nicht. Mit einer erhöhten Diskussion über die Wahl des Bundesrates, sei es aus einer Volkswahl heraus oder aber mit einer Listenwahl im Parlament, wäre zu rechnen. Geführt würde die Debatte kaum mehr von der SVP, dafür von der SP und der GPS und vielleicht auch der GLP, welche die Zeche bezahlen würden. Mit Instabilitäten der Regierung wäre zu rechnen, mit Protesthaltungen aus der Romandie aus. Gewinnerin dieser Wahl wäre das bürgerliche Lager, das so vielleicht wieder zusammen finden würde – allerdings zu Lasten eine Variante, die man nicht mehr konkordant bezeichnen könnte.

Und zum Schluss noch dies: Vielleicht kommt es noch mehr anders, als man denkt. Dann zum Beispiel, wenn die Reihe der Wahlen nicht nach der Anciennität erfolgen würde, sondern im offenen Kampf. Das würde mit Sicherheit zu einer neuen Regierung führen. Sie hätte, genau wie das Verfahren, wohl den Mackel, unberechenbar zu sein.

Claude Longchamp

Auf dem Weg zu einem Bundesrat der politischen Lager

Mit der Ankündigung, sich der Wiederwahl stellen zu wollen, hat Eveline Widmer-Schlumpf den Wahlkampf um die Bundesratswahl eröffnet. Gefragt sind, wie der neue Bundesrat aussehen soll, und was die Spielregeln bei künftigen Wahlen in die Bundesregierung sein sollen. Eine Auslegeordnung, welche den vorläufigen Stärkeverhältnissen im neuen Parlament Rechnung trägt.

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Definitive Zahlen der Lager: rotgrün: 61; nationalkonservativ: 57, neue Mitte: 52; mitte/rechts: 30 Sitze

Die SVP möchte ihren zweiten Bundesratssitz zurück. Eveline Widmer-Schlumpf, will in der Bundesregierung bleiben. SP, FDP und CVP wollen keine Sitze im Leitungsgremium der Schweizer Politik abgeben. Damit sind 8 Ansprüche für 7 Sitze vorhanden.

Die Regierungskonkordanz, wie sie 1959 eingeführt worden ist, basierte auf dem Kriterium der Grösse. Relevante Parteien sollten gemäss ihrer Stärke eingebunden sein, damit der Machtkampf die Sachentscheidungen nicht lähmt. Das war ein Erfolgsmodell für die Schweiz – und es dürfte auch inskünftig eines sein.

Die Veränderungen im Parteiensystem, ausgelöst durch die fast ungebrochene Erosion der FDP und CVP auf ihren historischen Tiefststand, durch den wellenartigen Auf- und Abstieg von SVP, SP, und GPS, aber auch durch die neuen Kräfte BDP und GLP haben der Zauberformel zugesetzt. Mit der Abwahl von Ruth Metzler 2003 war der Zauber vorbei, geblieben sind verschiedene Formeln die jeder nach seinem Gusto aufbaut und auslegt.

Hinzu gekommen sind nebst der Arithmetik inhaltliche Ueberlegungen, aber auch personelle. Das alles erleichtert es nicht, einen neuen, festen Schlüssel zu entwickeln.

Zu den Neuerungen der Diskussion gehört, abgesichts volatil gewordener Parlamentswahlen, nicht mehr nur in Parteistärken zu denken, sondern Lager zu identifizieren. Diesen Gedanken habe ich am Wahlsonntag abend aufgenommen, und ein Parlament mit mehreren politischen Lagern geschildert, in dem es nicht nicht mehr die klassische Teilung zwischen bürgerlich und links gibt. Vielmehr zeichnen sich 4 Gruppen ab, mit dem

. mit dem nationalkonservativen Lager, zusammengesetzt aus SVP, Lega, MCR,
. rotgrünen Lager, bestehend aus SP, GPS
. mit der neuen Mitte, die von der CVP, BDP, GLP, EVP und CSP gebildet wird
. mit der Position Mitte/Rechts, formiert aus den fusionierten FDP und LP.

Noch ist nicht sicher, ob es drei oder vier Parteiengruppen gibt: 2010 bildete sich, vor allem aus sachpolitischen Ueberlegungen die Allianz der Mitte aus CVP und FDP, später um die Bündnispartner der CVP erweitert. Davon wolle die FDP im Wahljahr nichts mehr wissen, denn die Profilierung des Liberalen Pols war ihr wichtiger als alles andere. Dies führte auch zu einer Abgrenzung gegenüber dem nationalkonservativen Pol. Immerhin, eine Bindung an die Mitte bleibt. Im neuen Ständerat dürftenFDP und CVP über eine Mehrheit verfügen, wenn GLP und BD mitziehen.

Was heisst das für die Bundesratswahlen der nahen und weiteren Zukunft? In der “Zeit” vom letzten Donnerstag haben Michael Hermann und ich eine Auslegeordnung gemacht, die zwischenzeitlich mehrfach aufgenommen worden ist. Der rechte und der linke Pol verfügen über je 27 bis 28 Prozent Wählenden-Anteil. Die neue Mitte bringt es auf 25 Prozent. Die FDP.Liberalen auf 15 Prozent.

Die Sitzverteilung hängt von der Ausrichtung der FDP und SVP ab. Auf Dauer wird die FDP ihren zweiten Sitz nicht halten können, ohne elektoral zuzulegen. Vorübergehend ist dies denkbar, wenn die SVP sich nicht an die Regeln der Konkordanz hält, dass heisst gleichzeitige Regierungspartei sein will und Systemkritik betreibt, im gleichen Aufwisch Respekt für ihre Ideen fordert, das bei denjenigen der Partner nicht gewährt. Kurzfristig zentral wird die Positionierung in der Personenfreizügigkeitsfrage resp. zu den Bilateralen sein.

Die Zielvorstellung ist klar: Sinnvoll erscheint es, wenn Rechte und Linke je 2 BundesrätInnen bekommen. Auf der rechten Seite kommen die wohl auf Dauer von der SVP, auf der linke von der SP, solange sie doppelt so gross ist wie die GPS. Koordiniert, sodass politisch berechenbare Entscheidungen möglich werden, kann die neue Mitte einen Anspruch auf 2 Sitze anmelden, während die FDP Sonderstellung seit Verlassen der Allianz der Mitte auf einen käme. In einer engeren Allianz mit der SVP käme das Lager auf drei Sitze, ohne dass die FDP profitieren würde, und auch in einer solche mit der Mitte wäre das Ergebnis gleich.

Damit drängen sich, in Kenntnis des vorläufigen Wahlresultats, aus der Sicht der Lagerbildung für die kommende Legislatur eine Verteilung von 2 SVP, 2 SP, 1 FDP, 1 CVP, 1 BDP auf, allenfalls vorübergehend 2 SP, 2 FDP, je 1 SVP, CVP und BDP auf. Erstere ist artihmetischer und wünschbarer, letztere bedingt keine Abwahl, was auch ein Vorteil ist. Beiden ist eigen, dass sie in einem zentralen Dossier des Wahljahres, der Kernenergie, Stabilität auf Regierungs- und Parlamentsebene sichern.

Das Ziel bleibt, eine Formel für eine Regierungszusammensetzung zu haben, welche der Neuaufteilung der politischen Lager nach der Ueberwindung der einfachen Bi-Polarität zwischen bürgerlich und links Rechnung trägt, die neue Mitte würdigt wie die Pole, Dauerhaftigkeit vespricht, auch wenn sich die Wählendenteile in den Lagern weiterhin bewegen.

Claude Longchamp

zoonpoliticon ist zu einem Politologie-Medium geworden

zoonpoliticon wurde im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen 2011 besucht wie noch nie. Entstanden ist ein breit nachgefragtes Polito-Medium.

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zoonpoliticon entstand 2008 im Zusammenhang mit meiner Lehrveranstaltung an der Universität St. Gallen. Ursprünglich dachte ich an Diskussionen mit Studierenden, was indess keine gute Idee war. Deshalb habe ich schon im ersten Betriebsjahr die Grundidee modifiziert. zoonpoliticon berichtet, meist aktualitätsbezogen, über Politikwissenschaft in der Praxis, wie ich sie mit politischen Akteuren vor allem mit Medien, Verbänden, dem Staat und (Fach)Hochschulen betreibe.

Die Entwicklung, die das Blog danach genommen hat, ist beträchtlich. Von 50’000 besuchen im ersten jahr, gingen die Nutzungszahlen über 225’000 (2009) auf 480’000 (2010) hoch. Nach gut 9 Monaten im Wahljahr liegt der aktuelle Pegel bei 840’000. Die Millionengrenze wird im Wahljahr mit Bestimmtheit geknackt werden.

Spitzenmonat 2011 war mit 116’000 Besuchen bis jetzt der Februar 2011. Die Volksabstimmungen auf eidgenössischer (Waffen-Initiative) und kantonaler Ebene (Mühlberg-Entscheid in Bern) trugen das ihrige zum politischen Interesse bei, von dem zoonpoliticon profitieren konnte.

Aller Voraussicht nach wird die Nutzung Ende Oktober 2011 diesen Wert übertreffen. In der letzten Woche hatte ich 29000 Besuche – oder rund 4000 im Tag. Ich hoffe, mein Server hält der Belastung in den zwei kommenden Tage Bestand.

Auf jeden Fall danke ich allen, die sich hier über das aktuelle Geschehen, vor allem auch über die praxisorientierte Politikanalyse informieren, wie ich sie, ausgehend von meinen positiven Erfahrungen bei der EWR-Abstimmung 1992, in den vergangenen 20 Jahren aufgebaut und verfeinert habe. Nur dank dem Rückhalt, dass das gefunden hat, macht es auch Sinn, ein Polito-Medium zu betreiben.

Was die Zukunft uns allen bringt, wissen wir bald genauer!

Claude Longchamp

Zoonpoliticon als Teil der Medienkommunikation

Vor Kurzem wurde mein Blog mit andern im Rahmen einer Bachelor-Arbeit der Hochschule für Wirtschaft in Zürich untersucht. Kaum ein Beitrag selbst etablierter Politblogs in der Schweiz werde in den Massenmedien zitiert, war das Fazit. Ein Einblick in den zoonpoliticon als Teil der Medienkommunikation aus meiner Sicht.

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Idealisiertes Verhältnis von Blogkommunikation und massenmedialer Kommunikation (Quelle: Zerfass 2005)

Man kann die Erwartungshaltung des Studenten kritisieren. Denn Blogs haben drei grundlegende Funktionen:
. Sie dienen der eigenen Identitätsvergewisserung: Was von allem, das ich in meinem Alltag erfahre, ist für mich wichtig?
. Sie sind ein eigene Form der Informationsverarbeitung: Was, von dem, das mir wichtig ist, will ich elektronisch festhalten?
. Und sie sind eine Form der Beziehungspflege: Wen will informieren, von wem möchte ich Reaktionen, und mit wem möchte in einen Dialog treten?

Erst da geht es um die Relation zu den Massenmedien. Blog sind dabei, wie es der deutsche Mediensoziologe Jan Schmidt sagt, personalisierte Oeffentlichkeiten. Das Spektrum der Beiträge aus der Blogosphäre ist breit: Es reicht von speziellen Erlebnissen im Sinne des Bürgerjournalismus bis hin zum Fachwissen, das man als Experte einbringen will.

Man kann die Erwartungshaltung des jungen Forschers aus Zürich aber auch als Ansporn sehen: Mir war schon länger klar, dass verschiedene Medienschaffende meine Blogs (diese und den Stadtwanderer) mehr oder minder regelmässig konsultieren. Gelegentlich entdeckte ich Themen wieder, die ich als Erster aufgriff, manchmal fanden sich Argumentationsweisen, die ähnlicher nicht sein konnten, und gelegentlich las ich eine Pointe, die ich kommuniziert hatte, andernorts erneut. Dabei gilt: Verbereitet werden ist wichtiger als zitiert werden.

Nun fällt auf, dass zoonpoliticon recht häufig expliziert zitiert. Nicht nur durch andere Blogger, bisweilen auch durch KolumnistInnen, und seit jüngstem auch durch JournalistInnen. Zoonpoliticon wird leider erst selten erwähnt, dass es mein Blog sei, dagegen schon. Das ist diese Woche gleich mehrfach der Fall gewesen: Zum Beispiel hier auf newsnetz, bei 20 Minuten oder bei SF. In keinem Fall habe ich mit den Schreibenden gesprochen.

Zunächst bedanke ich mich bei meinen Kommunikationspartnern. Eine Brücke zu schlagen zwischen politikwissenschaftlichen Einsichten, Forschungsresultaten und Positionen von Kommunikatoren einerseits, den Zielgruppen der wissenschaftlichen Debatten anderseits war schon immer das Ziel dieses Blogs. Studierende, KollegInnen an den Universitäten, OeffentlichkeitarbeiterInnen in Parteien oder Firmen, und last but least Medienschaffende gehören selbstredend dazu.

Ueber die Gründe, kann man vorerst nur spekulieren. Aggregatoren zwischen Blogosphäre und Massenmedien wie der leider eingeschlafene “Mokka-Café” beförder(te)n die Sache offensichtlich. Sicher sind auf Hinweise auf andern Blogs, vor allem im Umfeld von kritischen PR-Beratern wie Bernet oder Balsiger reputationsfördernd. Schliesslich muss jeder und jede, der/die blogt, auch für sich werben. Plausibel sind für Nachahmer scheinen mir die folgenden Ursachen: die Prominenz des Absenders, eine thematische Spezialisierung, das Fachwissen sind wohl grundlegende Voraussetzungen. Hinzu kommen der Bezug zu Mediendiskussion, die Aktualität der Beiträge und die Klarheit zentraler Informationen oder Aussagen.

Generell kann man sagen, dass Blogs, die mit Massenmedien in Verbindung stehen, einen doppelten Bezug haben. Sie können vorausgehen, selten genug bei Themen, häufiger bei Argumenten, ganz ordentlich bei Studienergebnissen. Da haben sie eine allgemeinen Zitierpotenizial. Sie sind aber auch ein Reflexionstool zu massenmedial Publiziertem, um zu verstärken, zu kritisieren, oder Informationen weiter zu führen. Das haben sie vielleicht weniger Zitierpotenzial, stehen aber in einem Dialog zu Massenmedien, wenn sie von diesen akzeptiert. Das Zitieren ist ein Beleg dafür.

Claude Longchamp

Schweizer Parlamentswahlen 2011 auf wikipedia

Der Basisartikel zu den Schweizer Parlamentswahlen 2011 auf wikipedia ist geschrieben. Jetzt muss er noch regelmässig weiterentwickelt werden. Wer beteiligt sich?

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Ich habe in den letzten Wochen, wie angekündigt, einige Zeit damit verbracht, das Geschehen im Zusammenhang mit den Wahlen 2011 in der Uebersicht zu sichten und systematisieren. Die Arbeit ist es wert gewesen, denn bis jetzt mangelt es an Uebersichten zu den Wahlen 2011 in der Schweiz. wikipedia bietet hierfür eine ideale Plattform, die weltweit für solche Zwecke genutzt wird, und auch bei den letzten Parlamentswahlen in der Schweiz nützliche Dienste geleistet hat.

Beschäftigt habe ich mich mit dem Wahlmodus, den Neuerung beim e-voting, der Ausgangslage, den Trends in Umfragen, den Ergebnissen der kantonalen Wahlen, den Rücktritten im National- und Ständerat sowie mit den Wahlzielen der hauptsächlichen Parteien. Damit wurde die Basis gelegt, um den anziehenden Wahlkampf zu beobachten:

Wie entsteht das Meinungsklima …,
was sind die zentralen Streitthemen …,
wir wirkt als übergeordneter Kommunikator …,
wen schicken die Parteien ins Rennen …,
wie wird geworben und mobilisiert …,

sind Themen, die zu behandel sind, um zur finalen Frage zu gelangen: Was werden die Ergebnisse der Parlamentswahlen 2011 sein?

Was bis jetzt dabei heraus gekommen ist, auf Fakten und deren Vernetzung reduziert, kann man auf wikipedia nachschlagen. Die deutsche Fassung ist schon ziemlich gediehen, jedenfalls weiter als die französische und englische.

Wenn es weitere unabhängige WahlbeobachterInnen gibt, die sich an der Arbeit beteiligen wollen, sind sie herzlich willkommen. Die ersten Diskussion haben bereits eingesetzt.

Claude Longchamp

Wahlbefragungen, Wahlbörsen und Wahlergebnisse im Kanton Zürich im Vergleich

Parteiwahlen sind einfacher vorherzusehen als Personenwahlen. Diese gut bewährte Regel hat sich auch in Zürich bewahrheitet. Die Umfrage von Isopublic für den Tagesanzeiger-Medienverbund lag bei der Kantonsratswahl mit beschränkten Abweichungen richtig. Bei den Regierungsratswahlen ergeben sich aber relevante Abweichungen.

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Wenn Grafik schlecht lesbar, mit rechter Maustaste auf Festplatte speichern und ansehen.

Stellt man auf die Prognosefähigkeit von Wahlbefragungen und -börsen 10 Tage vor der Wahl ab, schneiden die Umfrage und Wahlbörse gleich gut ab. Beide Instrumente haben einen Abweichung von 1,25 Prozentpunkten pro Partei. Das ist mittlerer Werte für die Güte beider Instrumente.
Die Tagesanzeiger-Wahlbefragung täuschte sich bei der SP. Festgehalten wurden Gewinne, schliesslich resultierte ein kleiner Verlust. Die Differenz zwischen Befragung und Resultat beträgt 1,7 Prozentpunkte. Grösser noch ist die Abweichung bei der FDP, die schlechter als erwartet abschnitt. Dafür gewann die BDP 1,7 Prozentpunkte mehr als angezeigt, und die SVP verlor 1,6 Prozent weniger als angenommen. Alle Abweichungen bleiben im Stichprobenfehler. Auf einen Nenner gebracht, kann man sagen: Die SVP wurde (wie häufig) unterschätzt, und der Wechsel zu den neuen Parteien (insbesondere zur BDP) auch.

Die Börsianer irrten sich bei der GP. Da wurde 10 Tage vor der Wahl noch mit einem Verlust gerechnet, schliesslich resultierte ein kleiner Gewinn. In der Grössenordnung verschätzte sich die Wettgemeinde bei den Verlusten der SVP (2,5 Prozentpunkte weniger als angenommen) und der FDP (2,1 Prozentpunkte mehr als prognostiziert). Zu skeptisch war man hier auch bei der SP (1,4 Prozent negativer als effektiv), während mit dem Einbruch der CVP nicht wirklich angenommen wurde (1,1 Prozentpunkte geringer als in der Tat). Auch hier kann man vereinfachend festhalten: Die Börsianer sind in der Einschätzung der Linksparteien zu skeptisch.
Einen Tag vor der Wahl war die Wahlbörse dann genauer. Der mittlere Prognosefehler bei den acht grössten Parteien betrug 0.71 Prozentpunkte. Mit anderen Worten: Was in den letzten zwei Wochen geschah, hatte einen beschränkten Einfluss, der richtig bemerkt wurde. Ein Vergleich mit Befragungen ist hier nicht möglich, da die Standesregel des schweizerischen Branchenverbandes es untersagt, so kurzfristiger vor der Wahl Umfragen zu machen.

Schlechter stimmten die Befragungsergebnisse 10 Tage vor der Wahl mit den Resultaten der Regierungsratswahlen überein. Der mittlere Prognosefehler liegt hier bei 6,1 Prozentpunkten. Das ist weit ausserhalb des Stichprobenfehlers. Da dies bei den Kantonsratswahlen nicht der Fall war, sollte man nicht einfach auf ein generelles Problem mit der Umfrage schliessen. Vielmehr kann man annehmen, dass ein Teil der relevanten Meinungsbildung bei dieser Wahl tatsächlich in der Zeit nach der Befragung geschah.

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Denkbar ist die folgende Hypothese: Der bürgerliche Schulterschluss gelang erst zuletzt, vor allem zwischen SVP (beide Kandidaten legen um +8 %punkte gegenüber Umfrage zu) und FDP (+6%punkte), jedoch nicht mit der CVP. Umgekehrt funktionierte das rotgrüne Bündnis beim effektiven Aufschreiben von Namen gut (+5%punkte bei Graf, +4%punkte bei Fehr). Das kann mit der Grosswetterlage zusammenhängen, dem Linksrutsch in den Städten, aber auch Taktik sein, die sich aus der aktuellen Stimmungslage der einzelnen BürgerInnen gegenüber den KandidatInnen ergibt.

Rätselhaft bleiben die Resultate Regine Aeppli und Hans Hollenstein. Denn sie schneiden in der Wahl als einzige schlechter ab als in der Umfrage (je -5%). Einen Grund hierfür kann man aus dem Geschehen am Ende des Wahlkampfes nicht ableiten, sodass Befragungeffekte bei einzelnen KandidatInnen hier nicht ausgeschlossen sind. Von aussen her kann man dazu aber nicht mehr sagen.
Bei Hans Hollenstein war das am Ende des Wahltages ausschlaggebend. Richtig erkannte die Umfrage, dass die Wahlchancen von Martin Graf (GP) stiegen, doch nahm man fälschlicherweise an, zulasten von Markus Kägi (SVP).

Eine minimale Schlussfolgerung sollten Demoskopen und JournalistInnen meines Erachtens jeweils schon im Voraus gerade bei Personenwahlen beherzigen: Zu Umfragen gibt es keine wirkliche Alternative. Wenn nun Hochrechnungen gepriesen werden, übersieht man, dass deren Prognosewert 2-3 Stunden beträgt und damit kein Ersatz für Vorwahlbefragungen sind. Parteiwahlen können präziser befragt werden, weil die Meinungsbildung stärker länger- und weniger kurzfristig erfolgt, während bei Personenwahlen bis am Schluss Relevantes Vieles offen bleibt.
Wünschenswert wären grössere Stichproben, oder Befragungen bei BürgerInnen mit einer Teilnahmeabsicht. Das würde die denkbaren Fehlerquellen verringern. Im aktuellen Fall wäre es sicher besser gewesen, wenn man angesichts der Ereignisse eine repräsentative Umfrage vorher und nachher gehabt hätte; so blieb letztlich alles Spekulation.
Unabhängig davon gilt: Umfragen sind deshalb nicht einfach falsch, wenn sie mit dem Ergebnis nicht identisch sind, denn sie werden aber überinterpretiert, wenn sie in einem Meinungsbildungsprozess unbesehen zu Prognosen gemacht werden.

Claude Longchamp

Ueberall Fukushima-Effekte?

Die Wahlsiege der deutschen Grünen am Wochenende waren spektakulär. In der Schweiz sucht man indessen nach Vergleichbarem. Eine Klärung von Unterschieden – und ein Ausblick auf denkbare Entwicklungen in der Schweiz.

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Spitzenkandidat der Grünen in Baden-Württemberg, Hermann Kretschmann, bei der Verkündigung des Resultates bei den Landtagswahlen 2011.

In Baden-Württemberg steigerten sich die Grünen von 11,7 auf 24,2 Prozent WählerInnen-Anteil. In Rheinland-Pfalz legten die Grünen von 4,6 auf 15,4 Prozent zu. Hier traf es die SPD, bisher alleinregierend am stärksten. In beiden deutschen Bundesländern stieg die Wahlbeteiligung an. Zurecht spricht man in Deutschland schon heute von einem Fukushima-Effekt. Und man kann sagen: Er hilft fast ausschliesslich den Grünen bzw. er trifft die regierenden Parteien.

Dass die Auswirkungen in Deutschland so hoch sind, hat verschiedene Ursachen. Zunächst liegt ein Machtwechsel in der Luft, nicht nur in den Ländern, auch im Bund. Denn die Regierung Merkel ist angeschlagen, nicht zuletzt wegen ihrer mehrdeutigen Kernenergiepolitik. In kaum einem anderen Dossier unterscheiden sich Schwarz-Geld und Rot-Grün so klar wie in diesem.

Und in der Schweiz? Die Gemeinsamkeiten sind nur äusserlich. Zwar hat Energieministerin Doris Leuthard das laufende Verfahren für neue Rahmenbewilligungen sistiert; die vorgesehene Volksabstimmung hierzu findet 2013 nicht statt. Doch löste das bei weitem nicht die gleiche Welle der politischen Mobilisierung aus wie im nördlichen Nachbarland. Kein Mensch forderte deswegen Rücktritt der Allparteienregierung in Bern. Und keine Partei kann sich auf die Fahne schreiben, die Führung in dem Thema alleine inne zu haben.

Der Protest gegen die Kernenergiepolitik Deutschlands bewegte in den letzten Wochen stark. Mehrere Hunderttausend gingen während zahlreichen Demonstrationen auf die Strasse: spontan, von den Umweltverbänden aufgefordert und von den Grünen angetrieben. Aehnliches gab es in der Schweiz nicht – das Frühstück auf dem Gelände der BKW mutete dagegen geradezu familiär an. Ankündigt ist, der richtige Volksaufmarsch finde am 22. Mai in Beznau statt. Was das bringt, wird man erst noch sehen.

Aehnliches ist bei den Baselbieter Wahlen von gestern geschehen. Die Grünen schafften den Eintritt in die Mehrparteienregierung. Von einem grossen Wahlerfolg in den Parlamentswahlen ist der Wechsel nicht begleitet gewesen. Drei Sitz gewonnen hat die Konkurrentin gewonnen, die gemässigte Grünliberale Partei. Die Grünen legten ein Mandat zu. Anders als in Deutschland bracht die SP in Baselland nicht ein; einzig die herben Wahlverluste für die FDP, der stärksten Partei in der Regierung, sind mit den deutschen Phänomen vergleichbar. Fast hätte man dabei übersehen, dass die BDP der eigentliche Wahlsieger war, begleitet von einer SVP, die zur grössten baselbieter Partei avancierte. Ganz unterschiedlich auch der Trend bei der Wahlbeteiligung: keine Spur steigender Beteiligung vermeldete man in Liestal.

Was sind die Ursachen der Unterschiede? Zunächst werden Sachfragen in der Schweiz in Volksabstimmungen entschieden; in Deutschland gibt es das noch nicht, sodass auch die thematischen Weichen bei Wahlen gestellt werden müssen. Sodann finden Kantonswahlen in der Schweiz für Regierung und Parlament getrennt statt; in Deutschland wählt man den Landtag, und die Mehrheitspartei oder -koalition bildet die Regierung. Das erhöht die Bedeutung der Wahl, während man Präferenzen dosiert ausdrücken kann. Schliesslich sind Lokalwahlen in der Schweiz in hohem Massen personzentriert – und zwar nicht einmal als Medien-, sondern als Alltagsphänomen. Das ist in Deutschland ganz anders, denn mit jeder Wahl ist auch das Schicksal der SpitzenkandidatInnen verbunden. Das alles erleichtert die rasche Verarbeitung von Streitfragen in Deutschland – vor allem aus Machtgründen. In der Schweiz gibt es die Möglichkeit, die Frage sachorientierter anzugehen.

Diese strukturellen Unterschiede zu nennen, heisst nicht, dass es in der Schweiz keinen Fukushima-Effekt geben. Solche Phänomen beurteilen kann man in der Regel erst in der Retrospektive. Denn was wir bisher sehen, sind die Differenzen in der kurzfristigen Reaktion. Diese hängt in erster Linie vom Empörungspotenzial ab, das durch emotionale Aufwallungen geprägt wird und durch Parteien für sich eingenommen werden kann. Etwas anderes sind die mittelfristigen Folgen, die sich an einer Neupositionierung relevanter Akteure ableiten liesse. Der Bundesrat hat hier die relevante Vorgaben gemacht, indem er bis im Sommer Szenarien der künftigen Energiepolitik studieren lässt. An diesen wird sich zeigen, wie Energieproduzenten, Wirtschaftsverbände, KonsumentInnen-Organisationen und andere mehr reagieren werden. Der letzte denkbare Fukushima-Effekt ist langfristiger Natur: Er betrifft den Wandel grundlegender Werte in der Gesellschaft, wie das Bekenntnis zur Nachhaltigkeit der Ressourcennutzung, wie den Umgang mit Risiken, die Zivilisationen zersetzen können und wie die Bedeutung der Politik, die dem Allgemeinwohl verpflichtet ist, gegenüber der Wirtschaft, die keine Nachteile gegenüber dem Status Quo in Kauf nehmen will.

Letzteres weiss man wohl erst in Rückblicken erkennen, wie man sie heute zu Unfällen wie jenen in Tschernobyl macht. Massgeblich ist hier eine anhaltende Betroffenheit, denn die Wirkung der Bilder verflüchtigt sich mit neuen Bildern, während übersäuerte Seen, Radioaktivität in der Nahrung und
missgebildete Kinder zu dauerhaften Wahrnehmungsänderungen führen. Vorletztes kann man in vielleicht eins bis drei Jahren abschätzen, wenn klar wird, was die politischen Konsequenzen sind Ersteres kann man, nach den Wahlen in Basellandschaft, in den beiden kommenden Wahlen festmachen, wenn auch Kantone wie Zürich, Luzern und Tessin wählen. Bis dann gilt aber: Abstrakt gesprochen macht es Sinn, nach einem Fukushima-Effekt zu fragen. Konkret geht es dabei um ein Kommunikationsphänomen, das sich unter bestimmten Umständen entwickelt und wenig vorhersehbar ist. Bis jetzt hat es medial voll durchgeschlagen, und sachpolitisch sind die Fronten aufgeweicht. Elektoral fehlt es in der Schweiz noch am starken Beleg, wie man ihn gestern in Deutschland gesehen hat.

Claude Longchamp

Wahlen in Genf: die Erstanalyse des MCG-Erfolges

73 VertreterInnen in den Genfer Gemeinde-Exekutiven stellt das Mouvement Citoyen Genevois seit diesem Sonntag – das sind 61 mehr als bisher. Denn die Protestbewegung, bisher nur in 3 Kommunalregierungen vertreten, weitet den eigenen Aktionsradius auf 19 Municipalités aus. Mit diesem Erfolg war man der grosse Sieger bei den Genfer Gemeindewahlen.

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Eric Stauffer und sein MCG feiern den neuerlichen Wahlerfolg in Genf.

Politologe Pascal Sciarini analysiert in der welschen Presse von heute das Phänomen MCG wie folgt: Entstanden ist es rund um die Grenzgänger-Frage. Die frontaliers dienen dabei als willkommene Projektionsfläche für Vieles: den Stau auf den Strassen, die Unsicherheiten am Abeitsplatz, ja selbst für die steigenden Mietzinse. Denn wer auch nur sporadisch komme, möchte irgendwie für immer bleiben, ist die Logik.

Wie alle populistischen Bewegungen arbeitet das MCG mit dem Gefühl der Unsicherheit – und hat damit vor allem bei Polizisten erfolg. 2005 trat man auf kantonaler Ebene erstmals an; 2009 folgte die Bestätigung im Kantonsparlament. Jetzt gelang der Bürgerbewegung der eigentliche Durchbruch. 73 Genfer Gemeinderäte gehören neuerdings ihr an. Auf 10 bis 12 Prozent Wähleranteil schätzt der Direktor des Genfer Instituts für Politikwissenschaft den Neuling in der Parteienlandschaft.

Gearbeitet wird vor Ort, in den Vororten und Quartieren, aber auch via Medien, die gerne über das Neue berichten. Reduzieren könne man die Bewegung nicht auf ihren Präsidenten, Eric Stauffer, sagt der Fachmann. Der stehe zwar im Zentrum des öffentlichen Interesses, habe aber zahlreiche Stellvertreter, lieutnants, mitgezogen, weiss der Politikwissenschafter. Das stabilisiere.

Wenig Gesichertes weiss man über die Wählerschaft des MCG. Vermutet wird vor allem, dass es unzufriedene WählerInnen anderer Parteien anziehe. Denn die Wahlbeteiligung bei Genfer Wahlen schnellt nicht einfach nach oben. Nimmt man die Gewinne und Verluste von diesem Wochenende, beschränken sich die Wanderungen mit Sicherheit nicht einfach auf die SVP. Denn die verlor nur wenig. Stärkere Einbussen erlebten die halbfusionierten FDP/Liberalen, aber auch die linke Solidarité. Sciarini vermutet denn auch, dass deren Wählerschaft direkt von ganz links nach ganz rechts wechselt -aus Protest über das Versagen der staatlichen Programme. So ist die Solidarité in der Vortsgemeinde Vernier ganz aus den Behörden gekippt worden.

Wo genau man stehe, will das MCG nicht sagen. Klar ist der populistische Appell, offensichtlich auch die Nähe zur Rechten, sucht man doch die Kooperation mit Rechts gegen Links. Vertreten werden aber auch soziale Anliegen, um die unteren Schichten anzulocken, glaubt der Politanalyst. Bei Grünen und SP, hat das bisher wenig geklappt; gebrochen wurde aber deren mehrheit im prestigeträchtigen Stadtgenfer Parlament. Und: Solange das MCG von den Rechtsparteien nicht als gleichwertige politische Kraft anerkannt werde, werde man sich von fall zu fall positionieren, um als kräftige Zunge auf der Waage der Mehrheitsbeschaffung zu funktionieren. Einfacher werde das Regierung in Genf so nicht, bilanziert Sciarini.

Das grosse Ziel des MCG ist es schon länger, bei den Nationalratswahlen 2011 Sitze zu machen – am besten auch ausserhalb des Kantons Genf. Zuammen mit der Lega dei Ticinesi möchte man eine eigene Fraktion rechts der SVP gründen können. Ob es dazu kommt, kann man aber auch bezweifeln. Denn der Vorteil von Bewegungsparteien wie dem MCG ist es, schnell und präzise auf lokale Probleme reagieren können.

Doch genau das macht es auch schwer, das lokale Erfolgsprojekt in andere Kantone zu exportieren. Denn schon in Lausanne, aber auch in Neuchâtel sind die Verhältnisse zwar gleich strukturiert, aber anders konnotiert. Deshalb gelingt es der SVP nur schwer, im Tessin und in Genf Fuss zu fassen, während kantonale Bewegungen wie die Lega oder das MCG kaum über ihre Kantonsgrenzen hinaus kommen.

Claude Longchamp

Was ist los mit der SP?

Zugegeben, das Wahlbarometer ist “nur” eine Umfrage, “keine” Wahl. Doch schnitt die SP in keiner Umfragen so schlecht ab wie im jüngsten Wahlbarometer.

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Entwicklung der Wahlabsichten seit 2007 gemäss neuestem Wahlbarometer

18 Prozent Wähleranteil ist für die SP ein ausgesprochen schlechter Wert. Und das bei sinkendem Anteil von rotgrün insgesamt!

Die neueste Bilanz der WechselwählerInnen, wie sie aus dem 2. SRG SSR Wahlbarometer hervorgeht, zeigt zweierlei: Positiv ist, dass die SP mehr Neuwählende mobilisiert, als sie an die Nicht-WählerInnen verliert. Negativ fällt ins Gewicht, dass sie Wählende an die politische Mitte verliert: vor allem an die GLP, aber auch an die CVP und sogar an die BDP!

Die SP hat mit ihren Massnahmen nach den Wahlniederlagen der letzten Jahre noch nicht zum Erfolgspfad zurück gefunden. Der neuen Mobilisierungsstärke im rotgrünen mainstream steht eine ausgesprochene Bindungsschwäche bei sozial-liberalen und sozial-konservativen WählerInnen gegenüber.

Verbessert hat sich die SP nach 2007 in ihrem Themenauftritt. Die Partei ist im Parlament aktiver geworden, innovativer und frischer. Das empfiehlt sie als Regierungspartei. Gemäss Wahlbarometer kann sich die SP in Fragen der Sozial-, Gesundheits- und Arbeitsmarkpolitik sehr wohl auch über die jetzige Parteiwählerschaft hinaus empfehlen. In der Umweltpolitik stehen ihr indessen die verschiedenen grünen Parteien vor der Sonne. Keine zählbaren Ergebnisse lassen sich schliesslich aus der bisherigen Europa- und Migrationspolitik ableiten.

An der neuen Parteispitze liegt es nicht. Christian Levrat ist gemäss Wahlbarometer innerhalb und aushalb der Partei ähnlich gut verankert, wie die Präsidenten von Parteien, die zulegen. Levrat gelingt es jedoch nicht, den schweren Schleier über der Partei mit ausgesprochenem Links-Drall abzulegen. Der Programmparteitag von 2010 hat das für Medien und BürgerInnen in drastischer Weise sichtbar gemacht.

Die Erfolge im Jura und die Misserfolge im Berner Seeland zeigen, wie nahe die verschiedenen Politkulturen geografisch sind, wie unterschiedlich sie aber auf die Neupositionierung der Partei reagieren. Etwas vereinfacht kann man sagen: In der Romandie funktioniert der neue Kurs der Partei, vor allem in den ländlichen und kleinstädtischen Teilen der deutschsprachigen Schweiz wirkt er verheerend.

Von der vorherrschenden national(istisch)en Grundstimmung kann sich die SP keine Stimmen erhoffen. Mit dem Kopf durch die Wand gehen zu wollen, bringt aber auch nichts. In der gegenwärtigen Finanzsituation kann man einen Beitritt zur EU auch als SP nicht fordern, ohne die wahrscheinlichsten Zwischenschritte hierzu zu formulieren. Angesichts neuer Bedrohungslagen kann man auf die Armee nur verzichten, wenn alternative Sicherheitsangebote präsentiert. Und bei der laufenden Debatte über die Folgen der Migration unter den Bedingungen der Personenfreizügigkeit muss die Partei aktiv für Integrationskonzept einstehen.

Um es noch deutlicher zu sagen: Das prioritäre Thema der Schweizer BürgerInnen, aber auch der SP-WählerInnen ist die Ausländerfrage in all ihren Facetten. Da kann man nicht einfach schweigen.

Es ist der SP zu raten, ganz schnell und ganz massiv aufzuzeigen, wo sie als Regierungspartei auch nach den Wahlen 2011 aktiv sein will, wo sie pragmatisch zu handeln gedenkt, und wo sie Fehlentwicklungen aus linker Sicht blockieren will. Je klarer und deutlicher das erfolgt, umso grösser sind die Chancen noch, die erheblichen Wechselwählerverluste stoppen und damit die drohenden Wahlniederlagen 2011 abwenden zu können.

Die SP kann meines Erachtens auf ihrer neuen Themenstärke aufbauen. Sie kann ihre Mobilisierungskraft so noch verbessern. Das politische Vakuum mitte-links, das sie selber geschaffen hat, darf sie jedoch noch vergrössern, will sie elektoral nicht bestraft werden. Für die SP als Regierungspartei wäre das fatal!

Claude Longchamp

Kurzanalyse zum Stand der Meinungsbildung bei der Waffen-Initaitive

Am 13. Februar 2011 wird gesamtschweizerisch einzig über die Volksinitiative “Für den Schutz gegen Waffengewalt” abgestimmt. Hier wird der Stand der Meinungsbildung aufgrund der ersten von zwei SRG SSR Befragungen analysiert.

Tagesschau vom 14.01.2011

Die InitiantInnen werten ihren Vorstoss als Beleg, dass die politische Linke die veränderten Sicherheitsbedürfnisse der BürgerInnen aufnehmen. Ihre bürgerlichen Widersacher sehen darin nicht mehr als die Fortsetzung linker Politik zur Entwaffnung der Schweiz. Entsprechend klar ist der Abstimmungskampf gestartet, wobei sich starke Plakate zu Schussopfern im familiären Umfeld einerseits, Verrat an Schweizer Traditionen anderseits gegenüberstehen. Umstritten sind wie heute fast schon üblich, welches die Fakten sind. Das Bundesamt für Statistik nennt rückläufige Zahlung für Selbsttötungen mit der .Armeewaffe, während die Ärzte von einem Europarekord an Selbstmorden in der Schweiz sprechen.

Unsere erste von zwei Umfragen legt für die Anfangsphase des Abstimmungskampfes nahe, dass die Ja- gegenüber der Nein-Seite führt. Die momentanen Stimmabsichten lauten 52 zu 39 zugunsten der BefürworterInnen. Zudem zeigt die Erhebung, dass die Meinungsbildung trotz des frühen Zeitpunktes der Datenerhebung schon fortgeschritten ist. Sie ist allerdings noch nicht abgeschlossen. Dafür stehen 9 Prozent ohne Stimmabsichten und weitere 22 Prozent der teilnahmewilligen BürgerInnen, die sich erst tendenziell festgelegt haben. Zudem steigt mit dem Abstimmungskampf die Beteiligung erfahrungsgemäss um 5 bis 10 Prozentpunkte, sodass Effekte der Mobilisierung auf das Endergebnis nicht ausgeschlossen werden können.

Nimmt man die Erfahrungen mit Vorbefragungen bei Volksinitiativen zu Rate, kann man die denkbaren Szenarien auf ein übliches und ein unübliches reduzieren: auf den Meinungswandel vom Ja ins Nein und auf den konstanten Ja-Anteil. Im ersten Fall ist mit einer mehr oder weniger knappen Ablehnung zur rechnen, im zweiten Fall eine knappe Zustimmung möglich.

Vom Konfliktmuster, das sich in der Repräsentativ-Befragung abzeichnet, kann man mit einem recht klaren Links/Rechts-Gegensatz rechnen. Aktuell bilden die Grünen auf der Ja-, die SVP auf der Nein-Seite die Pole. Das zustimmende Lager wird durch die WählerInnen der SP, mehrheitlich auch durch jene ohne Parteibindung verstärkt, derweil relative Mehrheiten von FDP und CVP die anlehnende Seite ergänzen. Für den weiteren Verlauf der Meinungsbildung entscheidend wird sein, in welche Richtung sich die BürgerInnen ohne eindeutige Parteibindung entwickeln, beschränkt auch, wie geschlossen die bürgerlichen Parteien auf der Nein-Seite stehen werden.

Anders als bei Links/Rechts-Polarisierung wegen materiellen Interessen prallen diesmal eher wertemässige Weltbilder aufeinander. Entsprechend ist sind die sonst üblichen Differenzierungen zwischen der Romandie und dem Rest respektive den Städten und dem Land diesmal wenigstens in der Ausgangslage nicht erheblich. Dafür gibt es zwei andere Phänomene: Belegt ist ein grosser Gegensatz in den vorläufigen Stimmabsichten nach Geschlechtern. Noch unbekannter ist der Sachverhalt, dass die Behörden, welche die Vorlage bekämpfen, durch die BürgerInnen mit ausgesprochenem Regierungsmisstrauen verstärkt werden.

Sowohl die Ja- wie auch die Nein-Seite haben je eine populäre Botschaft und einige mehrheitsfähige oder zielgruppenspezifische Argumente, die sie (noch) vorbringen können. Je zwei Drittel der befragten StimmbürgerInnen finden, dass ein Gewehr im Kleiderschrank eine Gefahr für Familien und Gesellschaft sei respektive auch ein Ja zur Initiative missbräuchliche Verwendungen von Waffen nicht ausschliessen würde. Mehrheiten sind der Auffassung, das Bedrohungsbild der Schweiz habe sich längst soweit verändert, dass keine Gewehr mehr zu Hause Schutz bietet, während auf der anderen Seite ebenso verbreitet begründet werden kann, dass das Gefährlichste an jeder Waffe, die Munition, nicht mehr zu Hause aufbewahrt werde. Etwas umstrittener ist, wie unsere Umfrage zeigt, ob mit einem Ja zur Initiative traditionelle Schweizer Werte aufgegeben würden respektive ob man damit die Selbstmordrate in der Schweiz verringern könnte.

Wenn sich die Zustimmung wie im zweiten Szenario zurückentwickeln sollte, ist mit einem Schwenker der Parteiungebundenen und der bürgerlichen Frauen, namentlich bei der CVP, zu rechnen. Unsere Abklärungen hierzu zeigen, dass es kein optimales Argument gibt, die Summe der Einwände aber entscheidend sein könnte, um Zweifel an einer Zustimmungsneigung zu nähren. Für unausgeschöpft halten wir das meinungsbildende Potenzial der Botschaft, dass es nebst der Ordonanzwaffe zahlreiche andere Waffen gibt, von denen im Alltag eine Bedrohung ausgeht. Die Nein-Seite versucht ganz bewusst mit einem der beiden Plakate darauf anzuspielen, indem wie bei der letzten Volksabstimmung auf Ängste gegenüber ausländisch wirkenden Mitmenschen angespielt wird.

Wie einleitend festgehalten: In der Ausgangslage hat die Ja-Seite einen Vorsprung auf das Nein-Lager. Es ist aber nicht auszuschliessen, dass es zu einem Meinungsumschwung kommt, wie er bei linken Initiativen eigentlich immer beobachtet werden kann, bei dem nicht nur der Nein-Anteil mit dem Abstimmungskampf steigt, sondern auch der Ja-Prozentsatz sinkt. So gesehen ist der Ausgang der Volksabstimmung vom 13. Februar 2011 offen.

Claude Longchamp