1. Vorabstimmungsanalyse zur eidgenössischen Abstimmung vom 3. März 2013

Die erste von zwei Befragungen zu den Volksabstimmungen vom 3. März 2013, durchgeführt vom Forschungsinstitut gfs.bern für die Medien der SRG, gibt für alle drei Vorlagen eine Ja-Mehrheit. Das alles ist jedoch keine Prognose, sondern eine Bestandesaufnahme zu Beginn des Abstimmungskampfes. Worauf es ankommt, sei hier in geraffter Form zusammengefasst.

Am einfachsten ist die Lage beim Bundesbeschluss über die Familienpolitik, bei dem es sich um ein obligatorisches Referendum handelt. Der Konflikt unter den Parteien und Interessenorganisationen ist beschränkt. Das merken auch die BürgerInnen. Der Stand der Meinungsbildung ist vergleichsweise mittelstark oder mittelschwach. 44 Prozent unserer repräsentativ ausgewählten Befragten haben eine feste Stimmabsicht dafür oder dagegen; nur 11 Prozent sind noch gar nicht vorentschieden. Theoretisch sind die entscheidend, die eher dafür sind. Da sie mit 31 Prozent zahlreich sind, ist dieses Segment praktisch nicht zu unterschätzen. Indes, der Vorsprung ist der BefürworterInnen ist gross. Unsere Erfahrung mit solchen Ausgangslagen spricht dafür, dass hier wenig geschieht, denn die zu erwartenden Polarisierung von rechts gegen die Vorlage dürfte vor allem Unschlüssige ansprechen, womit sich der Nein-Anteil erhöht, nicht aber der Ja-Anteil verringert.
Grafik Familienpolitik
Etwas anspruchsvoller ist die Interpretation der Befragungsergebnisse zum teilrevidierte Raumplanungsgesetz, gegen das der Schweizerische Gewerbeverband erfolgreich das Referendum ergriffen hat, weshalb wir darüber abstimmen. Zwar blieb auch hier der Konflikt vergleichsweise gering, doch stösst die Debatte bevölkerungsseitig auf einen anderen Hintergrund als bei der Familienpolitik. Denn die Raumplanung ist für viele alltagsferner, und so bestehen weniger ausgeprägte Prädispositionen. In unserer Befragung manifestiert sich dies, dass nur 37 Prozent eine bestimmte Stimmabsicht haben, sei dies dafür oder dagegen. Dafür machen die, die gar keine Stimmabsicht haben, sich aber beteiligen wollen, 28 Prozent aus. Anders als beim Familienartikel sind sie nicht nur theoretisch die massgeblichen StimmbürgerInnen. Namentlich dann, wenn unter dem Eindruck des Referendums die parlamentarische Allianz im Abstimmungskampf zerfällt, ist eine Meinungswandel in der stimmberechtigten Bevölkerung nicht auszuschliessen. Die Augen sind dabei nicht nur auf die opponierende SVP gerichtet, vielmehr auf die CVP. Mit ihrer Ja-Parole hat die Partei einiges der denkbaren Brisanz gekappt; immerhin ist es nicht auszuschliessen, dass sich ausgehend vom Wallis eine Opposition gegen die Raumplanung in konservativen Mitte-Kreise ausdehnt, was die heutige Zustimmungsbereitschaft verringern könnte.
Grafik Raumplanung
Vordergründung am überraschendsten ist meine Analyse der Ausgangslage zur Abzocker-Initiative. Doch ist sie empirisch gut begründet. Denn es ist fast schon eine Binsenwahrheit, dass die anfängliche Zustimmungsbereitschaft zu Initiativen mit der Dauer des Abstimmungskampfes sinkt. Das hat mein der Logik der Meinungsbildung zu tun. Anders als bei Referenden, nehmen Initiativen fast immer mehr oder weniger breit getragene Themen aus der Bevölkerung, die von der Politik vernachlässigt werden. Das ist denn auch ihre Stärke. Ihre Schwäche ist, dass sie meist radikale Lösungen vorschlagen, denen in der Volksabstimmung Opposition erwächst. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Initiative klar der linken oder rechten Seite zugeordnet werden kann. Praktisch sicher ist, dass der jetzige Nein-Wert zur Initiative noch steigt; wahrscheinlich ist auch, dass sich der aktuelle Ja-Wert verringert. So gut das aus der Erfahrung heraus belegt ist, so wenig Gesichertes wissen wir aus der Vergangenheit über das Ausmass der Veränderung. Denn die folgt nicht einer fixen Mechanik, sondern ergibt sich aus der Interaktion der Kampagnen Pro und Kontra, die im Voraus schwer abschätzbar ist. Bekannt sind Bespiele, wo der Meinungswandel gerade mal 5 Prozentpunkte umfasste und damit nur eine Minderheit der BefürworterInnen, die anfänglich eher dafür waren. Es lassen sich aber auch Fälle zitieren, wo der Meinungswandel 25 Prozentpunkte ausmacht, und damit weitgehend alle, die zu Beginn der Meinungsbildung eher für die Initiative stimmen wollten. Bei der Abzocker-Initiative ergibt unsere Umfrage 26 Prozent, die zur fraglichen Kategorie zählen. Mit anderen Worten: Das Potenzial für einen erheblichen Meinungsumschwung ist gegeben. Jetzt kommt es auf die Wirkungen der beiden Kampagnen an!
Grafik Abzocker
Die grösste Unsicherheit in diesen Überlegungen betrifft übrigens die Beteiligung. Aktuell wollen sich 39 Prozent äussern – ein mittlerer Wert. Er steigt erfahrungsgemäss mit dem Abstimmungskampf an; 5 Prozentpunkte sind die Regel. Das alleine ändert die politische Zusammensetzung des Elektorates nicht entscheidend. Bei populistischen Themen und Kampagnen ist indessen nicht auszuschliessen, dass der Wert einiges höher ausfallen kann. Von den 3 Vorlagen, über die wir am 3. März entscheiden, eröffnet die Abstimmung über die Abzocker-Initiative die grössten Chancen, dass es dazu kommen könnte: mit dem Effekt, dass das Protestpotenzial unter den Stimmenden steigt, was wohl die Nein-Anteile rundum ansteigen lassen würde.

Was Oesterreich aus der Beteiligung bei Sachabstimmung in der Schweiz lernen kann

Oesterreich stimmt an diesem Wochenende ab. Nebst dem Ausgang in der Sache, der Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht, interessiert die Beteiligung. Gerechnet wird mit einer Teilnahmequote leicht über 40 Prozent. Was weiss man dazu aus Schweizer Sicht?

Die mittlere Stimmbeteiligung bei eidgenössischen Volksabstimmungen liegt gegenwärtig bei 43-44 Prozent. Sie ist damit tiefer als die Wahlbeteiligung der letzten 10 Jahren. Wahlen, die seltener stattfinden, für die Parteien entscheidend sind, mobilisieren generell mehr BürgerInnen als Sachentscheidungen von unterschiedlichem Stellenwert.

Diskussionen zur Stimmbeteiligung haben in der Schweiz stark nachgelassen. In den 70er Jahren sank die Stimmbeteiligung, und manche interpretierten das als Folge des spät eingeführten Frauenstimmrechts. Vordergründig war das nicht falsch, denn die politische Partizipation der Frauen ist etwas weniger ausgeprägt als die der Männer. Hintergründig ist das aber keine gute Erklärung: Weder für die Höhe, denn die wird in erster Linie durch die Schulbildung bestimmt, denn es gilt, je höher diese ist, desto eher kommt es zu Stimm- und Wahlbeteiligung und der mittlere Schulabschluss ist bei Frauen etwas tiefer als bei Männer; noch für den Trend, denn nach 1971 entwickelte sich auch die Stimmbeteiligung der Männer zurück. Mit der Repolitisierung der Schweiz angesichts der EU- und Ausländerfragen sind diese Trends in den 90er Jahren allerdings weitgehend gestoppt worden. Die mittlere Stimmbeteiligung ist seither wieder steigend und hat sich zwischen 40 und 45 Prozent eingependelt.

Wichtiger als die rein quantitativen Aspekte der Stimmbeteiligung sind die qualitativen. Die Forschung konnte ausführlich belegen, dass zwischen generellem politischen Interesse, Informiertheit bei Sachentscheidungen und Beteiligung ein relevanter Zusammenhang besteht. Mit anderen Worten: Wer sich in der Schweiz an Sachabstimmungen beteiligt, ist besser informiert als Abwesende, und dies erfolgt auf einem vergleichsweise höheren politischen Interesse. Damit reguliert die Politisierung die Meinungsbildung in erheblichem Masse und diese bestimmt die Beteiligung massgeblich. Auf die Qualität der Entscheidung hat dieser Mechanismus nur Vorteile.

Entsprechend verzichtet die Schweiz heute weitestgehend aus Zwangsmassnahmen wie Bussen oder Anreize wie Vorteile für BürgerInnen, die sich beteiligen. Strafen wären kaum mehr durchsetzbar, und die Absicht, politische Beteiligung mit ökonomischen Privilegien heben zu können, hat kaum Wirkungen gezeigt. Vorteilhaft auf die Stimmbeteiligung wirkt sich dagegen die Einfachheit der Stimmabgabe aus. Der Uebergang vom Urnen- zum Postgang hat die Beteiligung etwas erhöht, denn es ist für die meisten einfacher, in den letzten 20 Tagen vor dem Abstimmungssonntag ihre Stimme brieflich abzugeben, als sich zu bestimmten Urnenöffnungszeiten zu amtlichen Stellen zu gehen. Die Erfahrungen mit der e-voting sind noch zu gering, um gesicherte Aussagen machen zu können, ob auch diese Neuerung zur Steigerung der Stimmbeteiligung beitragen wird.

Ueberhaupt, man muss Abschied nehmen von der Vorstellung, es würden sich immer die gleichen BürgerInnen bei Volksabstimmungen beteiligen. In viel höherem Masse als bei Wahlen variiert die individuelle Stimmbeteiligung von den Umständen wie dem Thema der Vorlage, der medialen Thematisierung während des Abstimmungskampfes, aber auch der Politisierung in den Wochen vor der Abstimmung. Schliesslich trägt auch die Spannung über den Ausgang einer Sachentscheidung zur Mobilisierung des Elektorates etwas bei.

Das hat mit folgender Verhaltensdisposition zu tun: Rund ein Viertel der Stimmberechtigten beteiligt sich auf eidgenössischer Ebene immer, sprich unabhängig von den Entscheidungsgegenständen. Rund die Hälfte macht ihre Teilnehme genau davon abhängig. Knapp ein Viertel nimmt nie teil. Entsprechend variiert die Stimmbeteiligung von Abstimmungstag zu Abstimmungstag massiv. Bei der EWR-Entscheidung im Jahre 1992 gab es mit 79 die höchste Stimmbeteiligung seit Einführung des Frauenstimmrechts. Die tiefste lag, im Jahre 1972 bei 26 Prozent.

Die geringsten Beteiligungswerte resultieren immer dann, wenn man über Vorlagen abstimmt, die wenig Betroffenheit auslösen und das spezifische Interesse an der Entscheidung gering bleibt. Das potenziert sich, wenn über nur eine Vorlage abgestimmt wird. Wird gleichzeitig über mehrere entschieden, steigt die Beteiligung im Mittel an, denn es summieren sich verschiedene spezifische Teilnahmegründe. Allerdings, gleichzeitig steigen die materiellen Anforderungen an die BürgerInnen, was die Teilnahme wiederum erschwert, sodass sich die Effekte bei 4-5 gleichzeitigen Entscheidungen wechselseitig aufheben. Kampagnen der Komitees erhöhen die Beteiligungsabsicht mit näher rückendem Abstimmungstermin. Meist stellt sich eine ungefähre Beteiligungshöhe mit Beginn des Abstimmungskampfes ein; eine zusätzliche Mobilisierung in den letzten 4 bis 6 Wochen von 5-10 Prozent ist die Regel.

Die politischen Dispositionen des Elektorates ändern sich qualitativ nicht wesentlich, wenn die Beteiligung zwischen 30 und 50 Prozent schwankt. ParteisympathisantInnen bilden die Mehrheit die teilnimmt, und die Polarisierung vor einer Entscheidung führt in der Regel zu eine vermehrten Mobilisierung auf linker wie auf rechter Seite. Beteiligungen von mehr 50 Prozent sind eher selten und meist nur mit populistischen Kampagnen erreichbar, was den Anteil misstrauischer BürgerInnen unter den Stimmenden überproportional ansteigen lässt. Die Behörden haben das längst begriffen: Die Forderung, Abstimmungen nur gelten zu lassen, wenn sich mindestens die Hälfte beteiligt, wurde in den frühen 90er Jahren zu letzten Mal erhoben. Denn zwischenzeitlich haben die meisten PolitikerInnen, die etwas realisieren wollen, verstanden, dass bei hoher Beteiligung das Misstrauen unter den EntscheiderInnen steigt. Würden sich in der Schweiz alle Berechtigten beteiligen, wäre das Politisieren erschwert: Die Steuern würden drastisch gesenkt, die Armee würde womöglich abgeschafft und Tempo-Limiten auf Autobahnen würden nur noch stören. Generell trägt die mittlere Stimmbeteiligung in der Schweiz zur Mässigung bei.

Stärker noch als die Wahlbeteiligung hat sich die Stimmbeteiligung in der Schweiz im Empfinden der Bürgerschaft von der Pflicht zum Recht einer etwas wechselhaft politisch interessierten Bürgerschaft entwickelt: Vorstellungen des Verhaltens eines guten Bürgers sind namentlich in nachrückenden Generationen stark rückläufig, derweil die Beteiligung aus Interesse wichtiger wird. Dank gezielter Massnahmen beispielsweise zur Hebung des politischen Bewusstseins von Frauen konnten die Unterschiede zwischen den Geschlechtern verringert werden. Heute kennen wir Abstimmung mit ausgeglichener Beteiligung. Bis jetzt ist dies bezüglich des Alters nicht gelungen. Nach wie vor werden politischen Entscheidung in der Schweiz durch BürgerInnen zwischen 50 und 75 Jahren bestimmt, während namentlich jüngeren vermehrt fern bleiben.

Mein grösste Spannung im Vergleich der Stimmbeteiligung in Oesterreich und der Schweiz ist denn auch hier: Ist die Teilnahme der jüngeren Generationen in unserem Nachbarland bei jüngeren Menschen grösser, weil sie den Wandel der Partizipationsmöglichkeiten mehr wollen als die älteren, während dies in etablierten Direktdemokratien kein vergleichbar starkes Bedürfnis mehr zu sein scheint?

Claude Longchamp

Krise der Demokratie in Europa?

Wolfgang Merkel referierte am Montag in Bern zum Thema “Krise der Demokratie in Europa”. Seine Auslegeordnung war ganz interessant, indes, sein Beitrag zur aktuellen Debatte blieb weitergehend im Theoretischen.

Die aktuelle Debatte zur Demokratie ist reichhaltig. Verwiesen wird etwa auf sinkende Raten der Wahlbeteiligung. Bemängelt wird das Ungenügen der nationalstaatlich verfassten repräsentativen Demokratie. Kritisiert werden die geringen Einflussmöglichkeiten der BürgerInnen auf EU-Ebene.


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Wolfgang Merkel, Professor für Politikwissenschaft am Berliner WZB, versprach, sich mit dem Thema der Krise der Demokratie in Europa während eines Gastvortrages in Bern systematisch anzunehmen.

Krise habe zwei Bedeutungsgehalte, führte Merkel zu Beginn aus: den aktuten und die latenten. Der akute würde einem kranken Menschen entsprechen, der latente einem alternden, dessen Leistungsfähigkeit nachlasse. Im ursprünglichen Wortsinn bedeute Krise auch Entscheidung, wobei das Ende der Demokratie nicht zwangläufig sei, vielmehr es auch zu einer Transformation der Demokratie kommen könne.

Der gängigen Aufteilung zwischen minimalen und maximalen Konzepten der Demokratie mochte der Referent nicht viel abgewinnen. Vielmehr fasste er gekonnt die Krisendiagnosen vier relevanter Demokratietheoretiker der Gegenwart zusammen: die von Jürgen Habermas mit seiner Legitimationskrise der Demokratie im Spätkapitalismus, die der Trilateralen Kommission mit der Ueberlastung des demokratischen Staates durch nicht-erfüllbare Bürgererwartungen, die von Colin Crouch mit seiner von innen her ausgehölten, nur noch formal bestehenden Postdemokratie und die von Samuel Huntington mit der ethnischen Heterogenität demokratisch verfasster Gesellschaften.

Daraus leitete Merkel sein Konzept der idealen Demokratie mit der Partizipation im Kern, den politischen Rechten, den Bürgerrechten, der Verantwortlichkeit und der Regierbarkeit als Mantel rund herum ab. In Merkels Gesamtdiagnose gibt es im Kern keine wirkliche Krise, im Mantel rund herum jedoch ernsthafte Herausforderungen.

So klar die Ausführungen bis hierher waren, so verworren präsentierten sich die anschliessenden vorgelegten empirischen Belege. Denn die meisten Befunde widersprachen der entwickelten These, ohne das Autor das Wort Falsifizierung auch nur einmal erwähnt hätte.

Zum Beispiel: Die Demokratiezufriedenheit in (westlichen) Demokratie verringert sich bürgerseiteig nicht; auch Expertenratings verweisen zwar auf Unterschiede, nicht aber auf übergeordnete Trends. Wenn schon, habe die subjektive und objektive Qualität der Demokratie in den letzten 25 Jahren eher zu- als abgenommen.

Der wichtigste Krisenbeleg in Merkels Ausführungen ergab sich bei der Legitimation der Demokratie durch (Volks)Parteien, die durch Mitgliedschaft und Wahlbeteiligung zwei wesentlichen Elemente der Partizipation nicht mehr sicher stellen können.

Entsprechend fielen auch die Ausführungen Merkels zu sinnvollen Massnahmen bei der Bewältigung von Demorkatiekrisen eher dürftig aus: Von der Erweiterung der repräsentativen durch die direkte Demokratie mochte der Autor gar nicht sprechen; das tendenzielle Wegfallen der Unterschichten schon in der Wahldemokratie war für den Referenten Warnhinweis genug, dass komplexe Artikulationsforderung zur selektiver Teilnahme führen. Pluralisierungen des Parteiensystem mit neuen Parteien begegnete er ebenfalls mit Skepsis, denn sie würde zwangsweise zu Verhandlungsdemokratien führen, die nichts vereinfachen, eher alles verkomplizieren würden. Eher noch liebäugelte er eine Moment lang mit populistischen Erweiterungen der Demokratie. Seine Abneigung Berlusconis Politikstil blieb alles Zuhörern zwar unverhohlen; die Notwendigkeit, sich verdrängten, von rechtspopulistichen Parteien aufgebrachten Themen anzunehmen, empfahl der Referent schon.

Sicher, man kann Merkel und seinem Forschungsteam zu Gute halten, erst am Anfang eines umfassenden Forschungsprojektes zu stehen. Dennoch, für die zentrale These, die zwischen einem wenig problematischen Kern- und herausgeforderten Kernbereichen unterscheidet, inspirierte theoretisch, aber nicht empirisch, wie die Diskussion zeigte.

Markus Freitag, Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Uni Bern, legte in der Diskussion den wohl interessantesten Kritikpunkt offen. Gerade die politische Kulturforschung verzichte auf letztlich weltanschaulich befrachtete Demokratie-Diagnosen, wie Merkel sie für die Mangel-Regimes propagiere. Vielmehr stelle sie die fundamentale Frage, ob Institutionen und Werte in einer Gesellschaft übereinstimmten und damit Demokratie vor Krise schütze, oder aber ob sich Werte und Normen entwickeln würden, die institutionell nirgends eingebunden seien, und damit auch Demokratie bedrohen könnten. Davon sprach Merkel aber kaum!

Claude Longchamp

Abstimmungsforschung in der Schweiz und in Deutschland im Vergleich

Bereits zum zweiten Mal traf sich der VOX-Beirat, eingeladen von gfs.bern und unterstützt von der Universität Bern, um ausführlich über sich zum Stand der Abstimmungsforschung zu unterhalten. 2012 ging es um den Vergleich der Analysen, wie sie in der Schweiz seit langem und in Deutschland seit kürzerem gemacht werden. Hier eine Auswahl wichtiger Standpunkte.

Exemplarische Ursachen des Meinungswandelns in Abstimmungskämpfen
Am ersten Tag berichteten die Schweizer Kollegen. Ausgewählt wurden Arbeiten, die Vor- und Nachanalysen von Volksabstimmungen kombinieren. Thomas Milic, Oberassistent an den Universitäten Zürich resp. Bern und VOX-Autor, beschäftigte sich mit dem häufig festgestellten Meinungswandel während Abstimmungskämpfen. Zur Erklärung setzte er auf den denkbaren Zusammenhang zwischen Mitteleinsatz in Kampagnen und der Meinugnsveränderung, wie er seit 30 Jahren diskutiert wird. Neu berücksichtigte er selber erhobene Informationen bei den Volksentscheidungen über die Zweitwohnungsinitiative einerseits, den Schutz vor Passivrauchen anderseits. Im Abstimmungsvergleich klassierte er beide Abstimmungskämpfe als unterdurchschnittlich intensiv. Im ersten Fall resultierte kein Mehrheitenwechsel; der Ja-Anteil verrringerte sich aber. Ganz anders verhielt es sich beim zweiten Beispiel, wo die Ja-Werte um exemplarische 24 Prozent zurück gingen, und die Vorlage schliesslich scheiterte. Ein Grund hierfür ortete Milic darin, dass die parteipolitische Polarisierung beim Passivraucherschutz (mit unter wegen parteiabweichenden Stellungnahmen) misslang, sodass die Initiativ-Unterstützung ausnahmeslos in allen Parteianhängerschaften mit der Dauer des Abstimmungskampfes zurückging. Genau das war bei der Zweitwohnungsinitiative anders, denn bei der SP wuchs die Zustimmung, genauso wie bei den Parteiungebundenen, während sie einzig bei der CVP, nicht aber bei SVP und FDP nachliess. Ein zweiter Grund findet sich bei den Argumenten: Jene der Ja-Seite waren bei der Zweitwohnungsinitiative deutlich populärer als jene des entgegengesetzten Lagers, während beim Passivrauchen auch die Nein-Argumente von Beginn weg mehrheitsfähig waren. Schliesslich zeigte auch die Propaganda-Analyse Unterschiede: So konzentrierte sich die Nein-Seite zum Passivrauchen auf die Radikalität der Initiative und übertraf damit die Intensität der Ja-Botschaft, Rauchverbote seien die beste Prävention gegen Lungenkrebs.

Inkonsistenzen in der Stimmabgabe
Alessandro Nai, Oberassistent an der Universität Genf und gleichfalls VOX-Autor, behandelte das Thema der Entscheidungsambivalenz. Zum Vorschein kommt sie beispielsweise dadruch, dass die Argumente beider Seiten mehrheitsfähig sind. Logisch gesehen bedeutet dies, dass es mehr oder minder viele Stimmberechtigte gibt, die sich nicht eindeutige positionieren können und im Abstimmungskampf zwischen den Botschaften beider Seiten abwägen. Im Gegensatz zu andere Untersuchungen interessierte er sich vor allem für Inkonsistenzen in der Stimmabgabe, die gemäss seiner Definition dann vorliege, wenn man anders stimmt, als es die systeamtische Argumentenbewertung erwarten lässt. Er konnte zeigen, dass bei der Staatsvertragsinitiative die Inkonsistenz während des Abstimmungskampfes einzig bei den Parteiungebundenen zunahm, während sie sich bei den Lagerwählern links, in der Mitte und rechts (erwartungsgemäss) zurückging. Bei der Entscheidung zum Zweitwohnungsbau war dies nicht im vergleichbaren Masse der Fall. Insbesondere im rechten Lager vergrösserte sich die Inkonsistenz, indem man, trotz kritischer Bewertung der Argumente, gegen den Schluss vermehrt zustimmte. Die Gründe hierfür vermutet derr Autor in der Rechtsform, dem Thema und der Kampagnenart begründet.

Schweiz als Referenz in einem globalen Prozess
In seinem Abendreferat öffnete Bruno Kaufmann, Präsident iri-europe, die Perspektive von der Schweiz auf den Globus, beschäftigte er sich doch mit der Ausbreitung der direkten Demokratie. Was in der Schweiz seinen Ursprung hatte, findet weltweit Beachtung, sei es auf der rechtlichen, aber auch auf der praktischen Ebene, wie beispielsweise die jüngste Tagung für moderne direkte Demokratie in Montevideo (Uruguay) gezeigt habe. Die Schweiz bezeichnete er weder als Sonderfall, noch als Vorbild. Vielmehr sei sie eine wichtige Referenz. Direkte Demokratie werde dabei mehr und mehr als Bestandteil einer wirklich repräsentativen Demokratie gesehen, die verbessert werde, wenn sie auf unterschiedlichen Artikulationskanälen basiere. Zentral sei, dass beide Form bürgerInnen-freundlich ausgestaltet werden, um eindeutige Entscheidungen zu produzieren.

Stuttgart21: Wut und Aerger dank Volksabstimmung rückläufig

Der zweite Verhandlungstag war Volksabstimmungen in Deutschland gewidmet. Thorsten Faas, Professor für Politikwissenschaft an der Uni Mainz, berichtete über die Entscheidung zur Stuttgart’21, während Harald Schoen, in Bamberg lehrend, zum Nichtraucherschutz in Bayern referierte. Gleich zu Beginn hielt Faas fest, die Entscheidung in Baden-Württemberg sei ein eigentliches Plebiszit gewesen, mit der Absicht, in einer verfahrenen Situation eine verbindliche Entscheidung zu erhalten. Das war denn mit der Annahme des Bahnhofsumbaus auch geschehen. Die Beteiligung, geringer als bei der letzten Landtagswahl, sei in erster Linie durch das vorlagenspezifische Interesse geprägt gewesen, während bei Wahlen das allgemeine politische Interesse von Belang sei. Das habe auch positive Effekte gehabt, indem beispielsweise der Anteil Stimmberechtigter, der entgegen der seiner Präferenz stimmen wollte, mit unter den Stimmenden mit der Zeit zurückgegangen sei. Erreicht worden sei so eine breite Legitimierung, sowohl bei Befürwortern wie Gegnern; zudem seien Wut und Aerger, eigentliche Auslöser der Protestbewegung, mit Dauer der Kampagne zurückgegangen. Zu einer Annäherung der beiden Lager sei es aber nicht gekommen, vor allem wegen des Verdachts, es seien seites der Befürworter relevante Informationen zurückgehalten worden.

Nichtraucherschutz in Bayern: Standpunkte, Unwissen und Beteiligung nicht neutral verteilt

Die Selektivität der Beteiligung stand auch bei Harald Schön im Zentrum seiner Ausführungen. Er konnte aufzeigen, dass Plakate, wie Werbung überhaupt mit der Dauer des Abstimmungskampfes vermehrt genutzt wurden. Beschränkt galt dies auch für Informationsmaterial. Hingegen blieben solche Effekte bei direkten Politikerkontakten aus, mitunter auch, weil sich die grösste Partei, CSU, weder für die eine, noch für die andere Seite aussprach und die Kampagnen der anderen Parteien recht beschränkt blieben. Zu den Problemen, die man sich damit eingehandelt habe, zählte der Referent den Zusammenhang zwischen Abstinenz, Wissen und Position. So konnte er zeigen, je geringer die Information über das neuartige Verfahren war, umso eher beteiligten sich gewisse Gruppen der Vorlagengegner nicht. Eine hypothetische Extrapolation des Egebnisses bei voller Information zeigten denn auch, dass die Zustimmung insgesamt geringer gewesen wäre, immerhin, die Ja-Mehrheit gleich ausgefallen wäre.

Folgerungen für die Forschung in der Schweiz
Pascal Sciarini, Professor für Politikwissenschaft an der Uni Genf, hob in seine Zusammenfassung die unterschiedlichen Forschungsdesigns hervor. In Deutschland habe sich ein kurzfristig interessantes Feld für vertiefte Fallstudien eröffnet, während in der Schweiz der Vergleich zwischen Abstimmungen besser möglich sei. Dennoch leitete er fünf Folgerungen aus der Tagung für die Schweizer Abstimmungsforschung ab. Bezüglich der Untersuchungsdesings postulierte er, die Werbung in Zeitungen miteinzubeziehen, ebenso Vor- und Nachbefragungen stärker zu verknüfpen. Bei letzterem sieht er Verbesserungspotenzial, wenn während der ganzen Kampagnenzeit Vorbefragungen gemacht würden. Zudem plädierte er dafür, vermehrt Teilsegmente der Stimmenden wie Sprachregionen, urbane und rurale Räume zu untersuchen, um Eigenheiten in der Meinungsbildung kennen zu lernen. Schliesslich legte er Wert darauf, Wahlen und Abstimmungen auch hierzulande systematischer zu vergleichen, denn beide Formen der Willensäusserung tendierten angesichts selektiver Beteiligungen dazu, themenspezifische Elektorate zu erzeugen.

Dadurch wird die Bürgerschaft im politischen System nicht mehr eindeutig abgebildet, vielmehr mutiert sie zu einem Hybrid mit konstanten Grundbotschaften und spezifischen Einzelentscheidungen, füge ich bei.

Claude Longchamp

Zutreffende Prognosen zeigen zuverlässige Verfahren

Florida hat gezählt, sodass das Endergebnis der US-Präsidentschaftswahlen endlich feststeht. Mit dem Endresultat kann man die Güte der Umfragen, der Aggregatoren und der Umrechnungen von Wähler- auf Elektorenstimmen prüfen.

Präsident Barack Obama bei seiner Wiederwahl Ende Januar 2013 mit 332 von 538 Elektorenstimmen rechnen. Von den gut 120 Mio. WählerInnenstimmen hat er 50,5 Prozent bekommen; sein Widersacher, Mitt Romney, kam auf 47,9 Prozent, während 1,6 Prozent der Stimmen auf die übrigen Bewerber entfielen.

Nate Silver, den Star unter den Analytikern der US-Wahlen, hat für seine Evaluierung nur die Firmen berücksichtigt, die in den letzten 3 Wochen mindestens 5 Umfragen realisiert haben, sei dies auf nationaler oder auf staatlicher Ebene. Das schränkt Zufallsergebnisse in der Bewertung ein, nicht zuletzt, weil es kurz vor der Wahl eine Tendenz gäbe, die letzte Umfragen eines Instituts dem mainstream unter den Polls anzugleichen, schreibt “Mr. 538”.

Auf Silvers Liste rangiert denn auch IBD/TIPP an der Spitze, realisiert für Investors.com. Die Abweichung vom Endergebnis beträgt hier 0.9 Prozentpunkte; mit einem minimalen Ueberhang für den Herausforderer. 22 weitere Firmen figurieren auf der Liste: 12 arbeiteten mittels LivePhones, 6 mit Internetumfragen und 5 mit RobotPhone; letztere haben keine Befrager mehr, sondern führen die Interviews mit einer Automatenstimme durch.

In den letzten drei Wochen entschienen am meisten Umfragen mit dieser Methode – zum Nachteil der Demoskopie, denn sie waren am ungenauesten und sie hatten am deutlichsten einen Bias Richtung Romney.

Leseanleitung:
Entscheidend ist jeweils die 2. Kolonne, welch die mittlere Abweichung der gemachten Umfragen in absoluten Zahlen angibt, während die dritte zeigt, in welche Richtung diese im Schnitt ausfällt. Wenn Gravis Marketing für seine 16 Umfragen ein 2,7 erhält wich man im Schnitt 2,7 Prozentpunkte vom Endresultat ab, und zwar, wie Kolonne 3 nahelegt, stets zugunsten der Republikaner. Derweil verteilen sich die geringeren Abweichungen von Mellman auf beide Seiten gleich stark.

Beste Umfragen mit Live-Interviews

Firma/Medium Zahl Abweichung Richtung

. IBD/TIPP 11 0.9 R+0,1
. Mellman Group 9 1,6 R/D +/-0,0
. OpinionResearch/CNN 10 1,9 R+0,8
. CVOTERInternation/UPI 13 2,0 R+2,0
. GroveInsight 18 2,0 R+0.1

Schnitt 10 1,7 R+0,6

Beste Online-Umfragen

. GoogleConsumerSurvey 12 1,6 R+1,1
. RANDCorporation 17 1,8 D+1,5
. Ipsos/Reuters 42 1,9 R+1,4
. AngusReid 11 1,9 R+0,8
. YouGov 30 2,6 R+1,1

Schnitt 22 2,0 R+0,6

Beste Umfragen mit Robotinterviews

. SurveyUSA 17 2,2 R+0,5
. WeAskAmerica 9 2,6 D+0,1
. PublicPolicyPolling 71 2,7 R+1,6
. Gravis Marketing 16 2,7 R+2,7
. RassmusenReports 60 4,2 R+3,7

Schnitt 36 2,9 R+1,7

Berücksichtigt man die 5 besten jeder Methode, liegen die Umfragen mit LivePhones vorne; ihre mittlere Abweichung beträgt 1,7 Prozentpunkte. An zweiter Stelle finden sich die Internet-Umfragen, deren durchschnittlicher Fehler bei 2,0 Prozentpunkten liegt. Mit 2,9 Prozentpunkten deutlich schlechter die Umfrageroboter.

Das zweite wichtige Ergebnis betrifft die Richtung der hauptsächlichen Abweichung. 19 der 23 Serien überschätzen Romney, nur 4 Obama. Das straft alle Behauptungen als Lügen, wonach republikanische Wähler schwieriger zu befragen seien, inbesondere bei der traditionellen Methoden mit InterviewerInnen.

Vielmehr fallen drei negativ Firmen auf: Gallup, American ResearchGroup und RassmusenReport. Sie haben Romney zwischen 4 bis 7 Prozent systematisch überschätzt; was ausserhalb des Stichprobenfehlers liegt. Hauptgrund hierfür dürften die unbrauchbare Definition der wahrscheinlichen WählerInnen, denn die entsprechenden Angaben verschärften in der Regel den Bias zugunsten der Republikaner.

Besser als die genauesten Umfrageserien waren die Aggregatoren. Das überrascht nicht wirklich, denn ihr Vorgehen ist darauf ausgerichtet, Fehleinschätzungen aufgrund von Ausreiser zu vermeiden. Meine Uebersicht hierzu lautet:

Endwerte der Umfrageaggregatoren

Effektiv: 51,3 zu 48,7 (Vereinfachung der Verhältniszahlen durch Reduktion der Angaben auf die beiden Hauptkandidaten)

. NateSilver/“538“ 51,3 zu 48,7 (R/D +/- 0,0)
. Sam Wang/ElectionConsoriumProjection 51,2 zu 48,8 (R+0,1)
. ElectionProjection 50,6 zu 49,4 (R+0,7)
. TalkingPointsMemo 50,5 zu 49,5 (R+0,8)
. RealClearPolitics 50,4 zu 49,6 (R+0,9)

Schnitt R+0,5

Die fünf gebräuchlichsten unter ihren haben eine finale Abweichung von maximal 0.9 Prozent; der mittlere Fehler betrug eine halben Prozentpunkt. Genau richtig lag Nate Silvers „538“, während alle anderen einen leichten Republikaner-Bias hatten. Am knappsten fiel der bei Sam Wangs Berechnung für das ElectionProjection der Universität Princeton aus, gefolgt von den Plattformen ElectionProjection und TalkingPointsMemo. Vergleichsweise ungenau war RealClearPolitics – der Aggregator, auf den sich die meisten (hiesigen) Massenmedien stützten. Er überschätzte Romney mit 0,9 Prozentpunkten und legte damit am deutlichsten einen knappen Ausgang nahe. Gänzlich unangebracht war die Attacke auf Nate Silver aus den Rängen der republikanischen Medien, kurz vor der Wahl, weil sie seiner Wahrscheinlichkeitsberechnung keinen Glauben schenken wollten.

(Selber habe ich am meisten auf Pollyvote abgestellt, ein Aggregator, der nicht nur Umfragen, sondern auch weitere Analysetools berücksichtigt; Die Abweichung hier: 0,3 – und zwar gunsten Romneys. Leider kurz vor der Wahl einem Hacker-Angriff zum Opfer gefallen).

Prognosen von Elektorenstimmen

Effektiv: 332 zu 2106

. Drew Linzer/Votamatic: 332 zu 206
. Josh Putnam/Frontloading: 332 zu 206
. Nate Silver/FiveThirtyEight: 313 zu 225
. Sam Wang/ElectionConsortiumPrinceton: 312 zu 236
. ElectionProjection: 303 zu 235
. RealClearPolitics: 303 zu 235

Es bleibt der Kommentar zur Liste der Abweichungen bei Elecotral College. Alles richtig hatten hier Josh Putnam, Professor für Politikwissenschaft am Davidson College, North Carolina, gleich auf mit seinem Kollegen Drew Linzer von der Emory University. Nate Silver hatten ebenfalls keinen Fehler, vergab aber die Stimmen nicht blockweise nach Gliedstaaten, sondern multipliziert sie mit Wahrscheinlichkeiten, weshalb er leicht schlechter abschneidet.

Mit einem Fehler (alle Florida, wo man mit einer republikanischen Mehrheit rechnet) folgen das ElectionConsortium, ElectionProjection und RealClearPolitics. Ein schwerer Missgriff machte hier übrigens Karl Rove, der Romney mit 285 Elektorenstimmen als Sieger sah.

Was bleibt?

Erstens, die Umfragen waren recht zuverlässig; die klassischen Telefonbefragung (mit Handynummern) bleibt die beste Methode.

Zweitens, die Aggregatoren sind genauer als die Umfrageserien, weil sie Ausreisser vermitteln. “538” war dabei besser als “RCP”.

Drittens, die Umrechnung von Wähler- auf Elektorenstimmen klappt umso besser, je mehr man rechnet und keine wishfull-thinking Zuschreibungen vornimmt.

Claude Longchamp

Eine Woche Abstimmungsberichterstattung

Die eidg. Volksabstimmungen vom 23. September 2012 stehen an. Entschieden wird über den Verfassungszusatz zur Jugendmusikförderung, über die Volksinitiative «Sicheres Wohnen im Alter» und die zum «Schutz vor Passivrauchen». Diese Woche bereitet unser Institut die Auswertung der ersten Repräsentativ-Befragung vor, realisiert für die SRG-Medien. Eine Uebersicht über mein Programm.


Wie gross ist das Ja oder Nein und was an Ueberzeugungen steckt dahinter? – Das ist die Frage der Voranalysen zu Volksabstimmungen.

Montag
Die Daten der Befragung während der vergangenen Woche treffen ein. Wenn, wie normal, alles plausibel ist, beginnt sofort die Verarbeitung: die statistische Datenanalyse einerseits, die Visualisierung der Hauptergebnisse anderseits. Martina Imfeld, Stephan Tschöpe und Sarah Deller leisten diese Vorarbeit gemeinsam. Meinerseits kümmere ich mich um eine erste schriftliche Kurzfassung der Ergebnisse, und ich überprüfe meine Arbeitshypothesen zum anfänglichen Stand der Meinungsbildung und zum erwarteten Abstimmungsausgang. Daraus entsteht die Einleitung zum Bericht, verbunden mit einem Anhang zur Theorie und zu den Daten, die der Studie zu Grunde liegen. Im Wesentlichen ist das noch Routine.

Dienstag
Das ist der eigentliche Tag der Berichterstattung. Martina schreibt diesmal die Kapitel zur Beteiligung(sabsicht) und zum Stand der Meinungsbildung beim Schutz vor Passivrauchen. Ich kümmere mich um die beiden anderen Vorlagen. Wir fragen uns jeweils: Wer ist (vorerst) dafür, wer (vorerst) dagegen? Wie gut kommen die Argumente der Kampagnen an? Wenn immer möglich, schauen wir uns auch Vergleichsabstimmungen in der Vergangenheit an, und was da die Analyse ergaben. Beim Eigenmietwert ist das am ehesten möglich; bei Passivrauchen kaum, den gesamtschweizerisch haben wir noch nie darüber entscheiden können. Wenn es reicht, bereiten wir am Abend noch die Präsentationfassung in Grafikform vor. Gestört werden will ich an diesem spannendsten Tag von niemandem!

Mittwoch
Der Morgen beginnt mit Lektüre. Martina und ich lesen die Kapitelentwürfe übers Kreuz; eine kurze kollegiale Rückmeldung wird erwartet. Danach schreibe ich die Synthese; alles Wichtige soll in verdichteter Form nochmals aufgelistet werden. Aufgezeigt werden soll, was noch unsicher ist, und es wird bewertet, was gesichert erscheint. Denn zum Schluss der Analyse geht es darum aufzuzeigen, was man von der kommenden Meinungsbildung im Abstimmungskampf erwarten kann. Martina kümmert sich parallel dazu um das Lektorat und Layout des Medienberichts. Dieser geht am Nachmittag an die SRG-Zentrale, welche allfällige Nachfragen aus journalistischer Sicht stellt. Am Mittwoch Abend löst sich bei uns meist einiges der Arbeitsanspannung in solchen Wochen.

Donnerstag
Das ist der Tag der internen Praesentation. Erwartet werden die JournalistInnen der beteiligten SRG-Unternehmenseinheiten. Am Morgen bin ich meist kurz beim Coiffeur, dann im Büro, um mich einzustimmen. Die Präsentation von MedienvertreterInnen mache ich gemeinsam mit Martina. Diesmal wird sie über den Schutz des Passivrauchens berichten – die Vorlage, welche die Oeffentlichkeit wohl am meisten interessiert. Ich nehme mich der beiden anderen Themen an. Danach gibt es Interviews und Statements, in Deutsch, Französisch und Englisch. Bis am Mittag sollten alle alles im Kasten haben, um an der journalistischen Umsetzung der Studienergebnisse zu arbeiten. Bei uns im Büro werden Medienmitteilung gegengelesen, Blogs aufgesetzt und die Information via Internet vorbereitet. Meist ist am frühen Nachmittag Schluss – Zeit sich all dem zu widmen, was die ganze Woche liegen geblieben ist.

Freitag
Nach Aussen ist der Freitag der entscheidende Tag; nach Innen hoffen wir auf Ruhe. Meist bereiten wir das, was kommt, am Morgen ein wenig via Twitter vor. Mehr ist da nicht! Das wird auch diesmal so sein, denn ich bin den ganzen Tag ausser Haus. Die Spannung steigt nachmittags um 4 Uhr, denn dann verbreitet die sda die Ergebnisse bei ihren Abonnenten. Um 17 Uhr läuft die Sperrfrist aus, und es beginnt die Publikation via Online-Plattformen. Um 18 Uhr sind die ersten Radiosendungen, und um 1930 berichten die Tagesschauen der SRG-Medien. Der Rest hängt von der Brisanz der Ergebnisse ab. Das gilt im Wesentlichen auch für den Samstag, dem Tag, an dem die wichtigsten Ergebnisse auch in den Tageszeitungen nachzulesen sind.

Meine Arbeitshypothesen lauten übrigens: Die Meinungsbildung zur Jugendmusikförderung ist noch kaum erfolgt; dafür fehlt es auch an einer frühen Aufmerksamkeit; mit einer Problematisierung von rechts ist aber noch zu rechnen. Konkreter wird das Ganze voraussichtlich bei den beiden Volksinitiativen sein: Zwar laufen die Kampagnen auch hier erst an; doch ist namentlich das “Raucher”-Thema bei vielen Menschen im Alltag ein Diskussionsgegenstand, was zur frühen (wenn auch nicht abschliessenden) Meinungsbildung beitägt. Eingeschränkt auf Hausbesitzer im mittleren und höeren Alter gilt dies auch für die Vorlage zum Eigenmietwert. In welche Richtung sich das auswirkt, werden wir ja noch sehen!

Claude Longchamp

Identify. Empower. Ask.

Sein Auftritt war perfekt. Souverän bewegte er sich auf der Bühne. Die Sildeshow im Hintergrund gefiel. Der Inhalt verdient ein ähnliches Prädikat. Dennoch, am Schluss staunte nicht das Publikum, sondern der Redner John Della Volpe!

John Della Volpe hat italienisch-irische Wurzeln. Doch ist er durch und durch Amerikaner. Als Polling Director am Institut of Politics der renommierten Harvard University amtet er.

Am eben zu Ende gegangenen SwissMediaForum 2012 zu den neuen sozialen Medien hat er gestern über amerikanische Wahlkämpfe im 21. Jahrhundert berichtet.

Zum Beispiel über die geschichtsträgtige email von John McCain, die im Jahr 2000 die politische Kommunikationsrevolution auslöste.
Oder über die zielgruppenspezifischen Botschaften von Karl Rove, der 2004 die Wiederwahl von Goerge W. Bush sicherten.
Und über Barack Obama, der 2008 den entscheidenden Moment der Ausmarchung innerhalb der Demokraten Hillary Clinton mit den Stimmen der Junge via Facebook für sich gewann.

Della Volpes These zu den neuen soziale Medien leitete sich aus deren Entwicklung in den letzten 20 Jahren ab: Sie lautet, amerikanisch einfach wie auch amerikanisch einprägsam:

Identify, Empower. Ask.
Schaffe Identifikation, lass Selbstbestimmung zu, und frage nach.

Nicht ganz so griffig war der Ausblick auf das Wahljahr 2012. Twitter hätten sich sich die Republikaner Nach der Wahlniederlage von 2008 erschlossen, bekam man zu hören. Zum Beispiel Kandidat Newt Gingrich, der 1,4 Millionen Follower habe. Indes, der Schein trüge: Zwei Drittel der Accounts seien ein Fake. Obama habe rasch viel Boden gut gemacht, wenn es um Twitter gehe. Er habe sensationalle Tageszuwachsraten. Und dennoch, John Della Volpe wollte ihn keineswegs zum Sieger für die Wahl im November 2012 erklären. Denn, so die professorale Kritik, seine Kampagne sei auffällig uninspirierend – ganz anders als 2008.

Das Publikum im Saal staunte. Da wurde es vom Harvard Pollster nach den eigenen Wahlabsichten befragt. Gegen 90% für Obama, gut 10% für Romney, war das Ergebnis der Umfrage bei der politmedialen Crème der Schweiz.

Und nun staunte der Bühnenstar John Della Volpe.
Twitterte aber bald schon das Resultat.

Claude Longchamp

Wie aus WutbürgerInnen Citoyen(ne)s werden

Er ist der optimistischste Politikwissenschafter, den ich kenne. Seine Karriere begann mit einer Habilitation über das gütliche Einvernehmen in der Schweizer Politik. Dass es damit nicht mehr weit her ist, bestreitet der emeritierte Berner Professor nicht. Doch sucht Jürg Steiner via deliberativer Politik nach einen Ausweg Richtung mehr Verständigung.

Wenn es Sommer wird und ich nach dem klingelnden Telefon greife, ahne ich, was kommt: “Claude, das esch dr Jürg”, heisst es in akzentreiem Berndeutsch. Was auch immer für eine Geschichte danach folgt, sie endet mit einer Einladung zum Mittagessen. Letzte Woche war es wieder soweit. Wir trafen uns im Della Casa, einem Berner Traditionsrestaurant.

Jürg Steiner lebt in Thun, wenn er nicht auf Achse ist. Einmal, als er mich am Bahnhof seiner Heimatstadt abholte, fragte er: “Was ist schöner als Thun?” – “Nichts t(h)un”, antwortete er gleich selber – und lachte über den gelungenen Witz.

Dass Steiner in seinem Forscherleben nichts getan hätte, kann man wahrlich nicht behaupten: Seine Habilitation in Mannheim widmete er der Konkordanzkultur der Schweiz nach der Einführung des Zauberformel für die Wahl des Bundesrates. Es war die hohe Zeit des gütlichen Einvernehmens, der Verständigung politisch unterschiedlicher Kreise untereinander. Seit es keine Einigkeit mehr gibt, wie der Bundesrat richtigerweise zusammengesetzt sein soll, ja, seit die Polarisierung die politisch-mediale Szenarie beherrscht, ist es damit nicht mehr weit her. Es herrscht, auch in der Schweiz, meist der Machtkampf, bis klar ist, wer in der Mehr- und wer in der Minderheit ist!

Das ist auch Jürg Steiner, der zwischenzeitlich Professor in Chapel Hill und Florenz war, nicht entgangen. Dennoch hat er nicht aufgegeben: In den letzten Jahren hat er sich ganz dem Projekt der deliberativen Demokratie gewidmet. Gemeint ist damit, dass Demokratie vom Diskurs über politischen Themen lebt, den möglichst viele BürgerInnen ganz im Sinne der partizipatorischen Demokratie miteinander führen. Und genau darin sieht Steiner neue Chancen, den Blockierungen durch das Schwarz-Weiss in der Mediendemokratie etwas gegenüberstellen zu können.

Bei all seinen Treffen in der Schweiz weibelte Steiner für sein neues Buch zur deliberativen Demokratie, das Ende Juni im Cambridge-Verlag erscheint. Vor dem Essen mit mir, war er bei der NZZ-Gruppe – und das nicht ohne Erfolg: Die NZZ am Sonntag widmete zu Pfingsten mit einem grossen Artikel Steiners Thema.

“Weisst Du”, sagte mir Jürg, “auf der ganzen Welt interessiert man sich für Deliberation. Die EU fördert sie mit viel Geld, und selbst die Kommunistischen Partei Chinas experimentiert damit. Nur in der Schweiz bleibt sie ein Unding”. Hauptgrund hierfür sieht der weltgewandte Berner Politologe in der Konzentration auf die hiesige direkte Demokratie, gemeinhin als Spezialfall verstande, der auf dem Globus Seinesgleichen sucht. Dabei übersehe man, dass gerade die Verlagerung der direkten Demokratie von der Versammlungs- zur Abstimmungsdemokratie Vor- und Nachteile habe, ist Steiners Credo: So sei es möglich, dass 5 Millionen Stimmberechtigte gemeinsam kommunizieren und entscheiden können; doch könne man nicht verhindern, dass mit der Medialisierung der Politik eine neue Logik Einzug halte.

Wenn zufällig ausgewählte BürgerInnen wieder in kleinen Gruppen in einem offenen Prozess miteinander diskutieren und einen gemeinsamen Entscheid fällen sollten, verschwinde der Kampf, kehre das Gespräch zurück, würden aus den WutbürgerInnen wieder Citoyen(ne)s.

Es ist eine bemerkenswerte These, die Jürg Steiner mit sich herumträgt. Er weiss sie mir Verve zu vertreten, und er ist nicht um Argumente verlegen, was auch in der Schweiz besser werden müsste. Der unermüdliche Debattierer mit gut 70 Lenzen empfiehlt Deliberation als Gegengewicht nicht nur zu Entscheidungen, die durch Abstimmungskämpfe bestimmt würden, nein, er sieht sie auch als Erweiterung der behördlichen Willensbildung, die zunehmend durch Lobbyismus bestimmt werde.

Forderungen nach mehr Partizipation waren immer das Gegenstück zu Technokratie, bleibt mir in Erinnerung, als wir uns verabschieden. Bis in einem Jahr … Und wer solange nicht warten mag, lese den Artikel der “Aus Wutbürgern werden Citoyens”, den Wissenschef und Physiker Andreas Hirstein in der NZZaSo publiziert hat, derweil fast alle hiesigen PolitologInnen rund um den prominenten Zeitgenossen aus Thun nichtstun, um die Welt zu verbessern.

Claude Longchamp

Die Wirkungen von Volksinitiativen – neu beurteilt

Dieses Buch muss man einfach loben! Denn es erweitert das Kleinklein über (Miss)Erfolge von Volksinitiativen durch einen bisher unbekannten Weitblick in Geschichte und Jurisprudenz. Eine Neubewertung des innovativsten Volksrechts der Schweiz ist angezeigt.

Gabriela Rohner, heute am Aarauer Zentrum für Demokratie tätig, hat einen überwältigenden Ueberblick über die Wirksamkeit von Volksinitiativen vorgelegt. Ihr Zeithorizont ist so umfassend wie nur möglich: Für 162 Jahre Schweizer Bundesstaatsgeschichte ist sie den vielfältigen Wirkungen von Volksinitiativen auf die Rechtssetzung nachgegangen.

Die Standardantwort zur aufgeworfenen Fragestellung lautete (auch in meinen Vorträgen): Rund 10 Prozent der Volksinitiativen werden in der Volksabstimmung angenommen. Der Rest scheitert, führt im besten Fall zu einem Gegenvorschlag, ohne dass man eine gesicherte Uebersicht über Erfolgswerte hätte.

Genau damit hat sich die Juristin Rohner nun beschäftigt, und sie legt, nach qualitativen Fallstudien, eine quantifizierende Uebersicht vor. Ihre neue Antwort ist: In 14 Prozent der Volksinitiativen führt ihre Einreichung zu einem direkten Gegenvorschlag. In weiteren 39 Prozent kommt es zu einem indirekten Vorschlägen. Zusammen sind das die Hälfte aller Fälle. Bei der Hälfte dieser Hälfte führte Verhandlung zwischen Behörden und InitiantInnen zum Rückzug der Volksinitiative – und damit (möglicherweise) zu gar keine Abstimmung.

Rohner nimmt dieses Ergebnis zum Anlass einer weit positiveren Würdigung der Wirkungen von Volksinitiativen als das bisher üblich war: „Diese Zahlen belegen, dass der Dialog mit den Initianten – soweit vertretbar – gesucht wurde mit dem Ziel, eine für alle Parteien akzeptable Lösung zu finden. Die Volksinitiative ist somit ein wichtiges Verhandlungspfand und stelle damit verbunden ein bedeutsames politisches Instrument zur Konfliktlösung dar. Die Kompromissbereitschaft hat massgebend damit zu tun, dass sich der Ausgang einer Volksabstimmung nie definitive voraussagen lässt.“

Die revidierte Lehrmeinung untermauert Rohner mit einer neuartigen Typologie der inhaltlichen Wirkungen der Volkinitiativen, die legislatorisch etwas ausgelöst haben. In einem knappen Drittel spricht sie von einem weitgehenden Erfolg der Initianten, in gut einem Drittel von einem mittleren und im letzten Drittel von einem kleinen Erfolg. Beispiele dafür zitiert sie zuhauf.

Natürlich, fast alles von dem, was hier wiederholt wird, hängt von den Kategorienbildung ab. Die Autorin selber sagt, eine gereifte Methode dafür gibt es (noch) nicht. Ihr ist aber zu Gute zu halten, dass sie die bisher aufwendigste Datenbeschaffung vorgenommen und eher konservative Kriterien verwendet hat. Damit schützt sie ihr optimistisches Urteil vor Einwänden. Ihr Schluss ist nicht das Ergebnis einer subjektiven Wertung; vielmehr kommt er zustande, weil die bisherige Optik, von Wirkungen auf Verfahren in der Abstimmungsdemokratie ergänzt wird durch einen tiefen Einblick in die Gesetzgebung.

Vielleicht ist eine ihrer Begründungen für Politikwissenschafter etwas blauäugig. Denn Rohner glaubt, das Parlament verhandle nur, weil es nicht wisse, wie allfällige Abstimmungen ausgingen. Das weiss das letztlich niemand genau, Annahmen hierzu werden aber sehr wohl ins Positionierungskalkül zu Volksinitiativen miteinbezogen. Dafür ist Politik letztlich auch zuständig.

Dennoch: Nicht nur die 300 Textseiten der Dissertation, die von Andreas Auer betreut wurde, lohnen sich. Es kommt ein fast 100seitiger Anhang hinzu, der bestehende Uebersichten wie bei Swissvotes erhellend erweitert. Da steckt nicht nur unheimlicher Fleiss dahinter, auch Unvoreingenommenheit, die miteinander kombiniert ein neues Bild des Funktionierens der direkten Demokratie erscheinen lässt. Wünschenswert wäre eigentlich nur, das alles wäre via Internet elektronisch verfügbar.

Claude Longchamp

Volkswahl des Bundesrates: Warum die Regierungsratswahlen keine Vergleichsbasis sind

Es ist ein innovatives Gutachten zu den Auswirkungen der Volkswahl des Bundesrates, welches das Justizdepartement vergangene Woche veröffentlichte. Zu deterministisch sollte man es allerdings nicht interpretieren. Denn Wahlen auf Kantons- und Bundesebene sind nicht vergleichbar.

Auf die Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat reagierte die SVP mit der Initiative zur Volkswahl des Bundesrates. Diese ist zustande gekommen, wird aber, wie der Bundesrat letzte Woche entschied, dem Parlament zur Ablehnung empfohlen: Bundesräte seien keine Parteisoldaten, der permanente Bundesratswahlkampf müssten vermieden werden, es gälte Stabilität und Ausgewogenheit des Bundesregierung zu sichern, sind die amtlichen Beweggründe.

Ein gleichentags veröffentlichtes Gutachten der Politologen Adrian Vatter und Thomas Milic zu den voraussichtlichen Folgen einer Volkswahl des Bundesrates entwarnt: zerst, Bisherige würden mit hoher Wahrscheinlichkeit wiedergewählt; sodann, ein parteipolitischer Umsturz sei nicht zu befürchten. Die wahrscheinlichste Zusammensetzung wäre – nach einer Uebergangsfrist – gleich wie zwischen 1959 und 2003, nämlich je 2 FDP, CVP, SP und 1 SVP. Unsicher ist gemäss den Politikwissenschaftern der siebte Sitz: um den würden sich CVP, SVP und GPS streiten. Je nach Mobilisierung sind die die Chancen des Zentrums resp. der Pole. Eine tiefe Beteiligung nützt der CVP, bei hoher Beteiligung am ehesten die SVP.

Die Kollegen der Uni Bern betonen in ihrem Gutachten, die Bundesratswahlen durch das Volk aufgrund von Erfahrungswerten bei kantonalen Exekutivwahlen simuliert zu haben – für den Normalfall. Nun kann man die Ansicht vertreten, dass es für den Normalfall keinen Systemwechsel braucht. Volksinitiativen für eine Volkswahl des Bundesrats sind vielmehr ein Zeichen der Krise –mindestens aus der Optik einer Partei. Im aktuellen Fall ist das die SVP, allenfalls ergänzt durch die GPS.

Solange es jedoch keinen Konsens über die parteipolitische Sitzverteilung unter relevanten Akteuren gibt, ist bei Bundesratswahlen durch das Volk mit Kampfwahlen zu rechnen. Was dabei geschieht, weiss man letztlich nicht.

Meine Wette ist: Von den heutigen Mitglieder des Bundesrates hätten Simonetta Sommaruga (bundesweit sehr bekannte KonsumentInnen-Schützerin) Doris Leuthard und Ueli Maurer (national bekannte ParteipräsidentInnen) die Voraussetzung erfüllt, dass sie auch ohne grossen Wahlkampf vom Volk hätten beurteilt werden können. In Majorzwahlen wären die beiden Frauen wohl auch gewählt worden, während der polarisierende Maurer am ehesten gescheitert wäre. Eveline Widmer-Schlumpf, Didier Burkhalter, Johann Schneider-Ammann und Alain Berset hingegen wären ohne einen aufwendigen Wahlkampf kaum je Bundesrat oder Bundesrätin geworden. Denn bei einer gesamtschweizerischen Wahl hätten sie den MitbürgerInnen ausserhalb ihres Wohnkantons, insbesondere aber auch in anderen Sprachregionen einer breiten Oeffentlichkeit zuerst vorgestellt werden müssen.

Damit sind wir beim springenden Punkt, wenn Bundes- und Regierungsratswahlen miteinander verglichen werden. Kantonales Exekutivmitglied wird in der Regel, wenn man Parlamentarier im Kanton, Präsident einer wichtigen Stadt war und häufig in den lokalen Medien präsent war. Der Schritt zu höheren Weihen ist meist ein relativ klein. Der Schritt vom National-, Stände- oder Regierungrat ist auch für die meisten fähigen PolitikerInnen ein grosser. Denn keiner von ihnen wäre zuvor national gewählt worden!

Ohne eigentliche Medienpartnerschaft, ohne finanziell aufwendigen Wahlkampf geht das für die allermeisten Politikerinnen nicht! Ausser man würde auch das Wahlsystem für den Nationalrat ändern – zum Beispiel, dass die eine Hälfte vom den KantonsbürgerInnen, die andere von den SchweizerbürgerInnen gewählt würde. Solche Zwischenschritte scheut man im Bundesstaat seit seinem Bestehn, selbst für ParlamentarierInnen. Bei Bundesräten will man aber im Nu von Null auf Hundert!

Da bin ich mir ganz sicher: Der/die „erfolgreiche“ PolitikerIn würde nach Medieneignung und finanzieller Potenz gewählt, nicht nach dem Kompetenzprofil.

Das wissen letztlich alle, die sich eingehend mit PräsidentInnen-Wahlen durch das Volk beschäftigt haben. Sie akzeptieren das, denn sie wissen, dass ein Staats- oder Regierungschef mit sachkundigen MinisterInnen umgehen wird. Wenn man, wie in der Schweiz auf diesem Weg Mitglieder einer Kollektivregierung auf nationalstaatlicher Ebene sucht, hat das auf der ganzen Welt kein Vorbild.

Das Argument, in den Schweizer Kantonen habe man das auch, sticht meines Erachtens nicht. Denn Grösse macht etwas aus; und eine Bundeswahl muss sieben Mal mehr Leute involvieren als eine Regierungsratswahl im Kanton Zürich, dem noch einwohnerstärksten Kanton der Schweiz.

Mit der Grösse verändern sich Struktur und Kultur. Nicht zu unrecht, argumentiert man, die Konkordanz funktioniere auf Kantonsebene von Ausnahmen abgesehen gut, auf Bundesebene dominierte dagegen das Alternanz-Denken. Das hat mit einer anderen Medienlandschaft zu tun, mit differenter Interessenartikulation durch Verbände und mit einer Parteienlandschaft, die bundesweit klar polarisierter ist als in den Kantonen.

Genau deshalb sollte man noch so überzeugende Analysen von kantonalen Regierungsratswahlen nicht zu schematisch auf Bundesratswahlen übertragen.

Claude Longchamp