Erste Professur für Demokratieforschung in der Schweiz

(zoon politicon) Gegenwärtig läuft eine Ausschreibungsverfahren, das der Schweiz eine Professur für Demokratieforschung bringen wird. Der Lehrstuhl wird von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich ausgeschrieben und soll schon am 1. September 2008 besetzt sein.

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Die Arbeit selber wird in Aarau geleitstet werden. Die Stadt hat finanziert vorerst befristet ein Zentrum für Demokratie, das durch die Stiftungsprofessur geleitet werden soll. Das Zentrum soll mit normativen Grundlagen, institutionellen Ausgestaltungen und der Leistungsfähigkeit demokratischer Systeme befassen, eigene Forschungsprojekt realisieren und insbesondere die Weiterbildung auf dem Gebiet der Politik aufbauen.

Für den neuen Lehrstuhl wird bis Mitte April 2008 eine ausgewiesene Persönlichkeit gesucht. Die Lehrstuhlinhaberin oder der Lehrstuhlinhaber sollte mit dem politischen System der Schweiz und ihren direktdemokratischen Institutionen sehr gut vertraut sein. Sie oder er sollte auch in der Lage sein, dem Aarauer Zentrum für Demokratie zu öffentlicher Sichtbarkeit zu verhelfen und eine entsprechende öffentliche Rolle zu übernehmen.

Ich freue mich auf diese Erweiterung der schweizerischen PolitologInnen-Landschaft und hoffe, die Stelle und das Zentrum werden etwas dazu beitragen, die schweizerischen Erfahrungen mit der (direkten) Demokratie namentlich im Ausland besser zu verankern.

Claude Longchamp


Ausschreibung

Vorbildliche Lektion in Demokratietheorie

Demokratie nahm in den griechischen Stadtstaaten ihren Anfang. Die bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts beförderten die Sache. Zum Siegeszug als Herrschaftsform setzte Demokratie jedoch erst im 20. Jahrhundert an.
Anders als erwartet, bildete sich dabei nicht nur eine Form der Demokratie heraus, sondern unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen verschiedenste Erscheinungweisen. Deshalb erstaunt es nicht, dass die Nachfrage nach wissenschaftlichen Theorien der Demokratie im letzten Jahrhundert rasant angestiegen ist.

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26 Theorien im Vergleich
Ein besonders geglückter Versuch, eine weitgehend unvoreingenommene Ordnung in diese ausufernde Diskussion zu bringen, ist das deutschsprachige Lehrbuch “Demokratietheorien” des Heidelberger Politikwissenschafters Manfred G. Schmidt. Auf rund 600 Seiten handelt der Autor Vorläufer und Hauptvertreter der modernen Demokratietheorien ab, und stellt er die Demokratietheorien vor, die in der Forschung der Gegenwart von zentraler Bedeutung sind vor. 26 Definitionen und Herleitungen des Gegenstandes, die einen Bogen schlagen von Aristoteles bis zur Transitionstheorie von Diktaturen in Demokratien sind so zusammen gekommen. Diskutiert werden sie durch einen kritischen Befürworters von Demokratien, der legale Herrschaft, allgemeines, freies und gleiches Wahlrecht, Parteienwettbewerb, liberale Freiheiten, Abwahlmöglichkeiten und Verfassungsrecht zur Minimaldefinition der Demokratie zählt.

Der besondere Wert des Lehrbuches besteht darin, dass die Begründungen und Kritiken der verschiedenen Demokratievorstellungen nicht nur gerafft und materialreich zugleich vergestellt werden. Vielmehr werden sie in einem abschliessenden Teil aus einer systematischen, theorievergleichender Perspektive rekapituliert. Dafür hat Schmidt 10 Fragen für die Bewertung Demokratietheorien formuliert, die eine bisher nicht gekannte Uebersicht über den Gegenstand erlauben.

Die geprüfte Leistungsfähigkeit von Theorien
In einem 11 Vergleichspunkt kommt der Autor auf seine eigentliche Absicht des Buches, das schon mehrere Auflagen erlebt hat, zu sprechen: die Leistungsfähigkeit heutiger Demokratietheorien zu beurteilen. Zu seinen Favoriten zählen Demokratieforscher Schmidt Alexis de Tocqueville, Max Weber und Joseph Schumpeter, die die Funamente der Demokratietheorien legten. Ausgebaut wurde sie durch die Pluralismustheorie, die kritische Theorie und die komplexe Demokratietheorie. Die Ausweitung der Beschreibungen und Analysen durch den Staatenvergleich zählt er ebenfalls zu den wesentlichen Gründen für den Erkenntnisfortschritt. Schliesslich – und das kommt auch im Band selber breit zum Ausdruck – hält der Empiriker Schmidt die Vermessung von Demokratien für eine der wesentlichen Verbesserungen in der Gegenwart.

Rousseau, der während der Aufklärung das Prinzip der Volkssouveränität begründete, kommt in diesem Band auffällig schlecht weg, denn er blieb bei einem rudimentären Demokratieverständnis stehen; bemerkenswert gute Noten bekommt dafür der erste Theoretiker und Empiriker der Demokratie überhaupt, der griechische Philosoph Aristoteles.

Meine Würdigung
Ich kann das Buch Interessierten der Demokratieforschung nur empfehlen. Beendet wurde es fast schon symbolisch an der Schwelle des 20. zum 21. Jahrhunderts. Doch damit nicht genug; drei Vorteile des Buches von Schmidt seien hier herausgestrichen: Zuerst ist ein gut lesbarer Einstieg in eine nicht immer einfache Materie. Dann ist es eine Fundgrube für zentrale Ueberlegungen und relevante Daten zum Thema zugleich. Schliesslich eröffnet es einen nüchternen Blick auf die unverändert spannendste Herrschaftsform überhaupt.

Dass man am Schluss der Lektüre fast so weit ist, nach eine neuen, ideale Demokratietheorie greifen zu wollen, ist bei einem Einführungsbuch in einen politikwissenschaftlichen Gegenstand selten genug.

Claude Longchamp

Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Opladen 2000

Freiheiten und Demokratie weltweit vermessen

(zoon politicon) Demokratietypisierungen sind heutige in demokratischen Staaten in. Der wesentliche Gegensatz in den politischen Systemen, im 20. Jahrhundert entstanden, betrifft jener zwischen demokratischen und nicht-demokratischen Regimes. Mit dieser Polarität beschäftigt sich eine der weltweit am häufigsten zitierten Ländereinteilungen, jene, die das Freedom House in Washington, D.C. (USA) herstellt.

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Weltweit aktuellste Länderklassierung aufgrund der existierenden politischen und bürgerlichen Freiheiten, erstellt durch das Freedom House

Die amerikanische Forschungseinrichtung erstellt jährlich einen Bericht über den Grad der demokratischen Freiheiten, gemessen am Stand der verbrieften bürgerlichen und politische Rechte. Die politische Freiheit wird aufgrund des Wahlprozesses, des Pluralismuses und der Partizipation in der Politik bestimmt, während Rede-, Glaubens- und Versammlungsfreiheit auf der einen, Rechtstaatlichkeit und Garantie individueller Rechte auf der anderen Seite die bürgerlichen Rechte ergeben.

Das Freedom House unterstützte in der Vergangenheit verschiedene Grossprojekte wie den Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg, die Bürgerrrechtsbewegungen der 60er Jahren, Solidarnosc in Polen und Demokratie-Bestrebungen in der Ukraine und in Serbien.

Freedom House sieht sich damit im Trend. Nach ihren Berichten nimmt der Anteil liberale Demorkatien weltweit zu. 1973 galten 43 Staaten als “frei”, 2003 waren es 89″. 48 galten ausdrücklich als “unfrei”, während 55 als “halbfrei” klassiert wurden. Zwischen 1993 und 2003 nahm deren Zahl allerdings nicht zu Gunsten der frei, sondern auch der unfreien ab.

Das Freedom House sieht sich mit seinen Aktivitäten im Gefolge der Erklärung der Menschenrechte. Indes, es steht damit nicht allein. Der Index der ökonomischen Freiheiten, ebenfalls jährlich durch die Heritage Foundation erstellt und durch das Wall Street Journal publiziert, benasprucht ebenfalls, die Realisierung von Freiheit bestimmen zu können. Das gilt, ebenfalls spezifiziert, auch für den den Weltweiten Index der Pressefreiheit, durch die Reporter ohne Grenzen herausgegeben (der auch die Blogosphäre berücksichtigt).

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Uebersicht über die weltweite Verteiligung von Demokratien und Diktaturen aufgrund des Economist Intelligence Unit’s Index of Democracy

Spezifischer auf die Demokratie zugeschnitten ist schliesslich der Economist Intelligence Unit’s Index of Democracy. Er teilt die Staaten in volle, weitgehend und hybride Demokratien resp. autoritäre Regimes oder Diktaturen ein. Dabei stellt der Index auf verschiedenste Indikatoren ab wie die bürgerlichen Freiheiten, die Wahlen, Medienfreiheit, politische Partizipation, öffentliche Meinung, funktionierende Regierung , Korruption und politische Stabilität. Daraus entsteht nicht nur eine qualitative, sondern auch eine quantitative Beurteilung der 169 untersuchten Länder.

Die Schweiz rangiert im Demokratie-Index weltweit an 10. Stelle. Die Abstriche entstehen wegen gewissen Problemen mit der politischen Partizipation. In den drei oben genannten Ranglisten, die qualitative Aussagen machen, ist die Schweiz jeweils in der obersten oder freisten Kategorie.

Claude Longchamp

Uebersicht über alle Indices

Vertiefender Literaturhinweis:
Alexander Gallus, Eckehard Jesse (Hg.): Staatsformen von der Antike bis zur Gegenwart. Wien 2007 (2., erweiterte Auflage)

Aktueller Hinweis:
Gedenktag der Märzrevolution von 1848 in Berlin zum Thema “Freiheit und Demokratie”

Demokratie-Muster

(zoon politicon) Lang schien alles klar: Demokratie beruht auf Wettbewerb, braucht mindestens zwei Parteien, die sich in die Rollen der Regierung resp. der Opposition teilen. Bestimmt wird die Aufgabenverteilung über Wahlen, bei der die Mehrheit entscheidet. So lautete die knappste Demokratiedefinition im Westminster Verständnis.

Doch bekam man damit Probleme, wenn man beispielsweise die schweizerische Demokratie bestimmen wollte. Volksrechte kennt die Definition gar nicht, und von der Möglichkeit, statt auf Konkurrenz auf Konkordanz zu setzen, spricht sie auch nicht.

Die Klassifikation von Arend Lijphart

Den letzten Mangel hat der niederländische Politikwissenschafter Arend Lijphart, der im Eldorado der amerikanischen Universitäten lehrt(e), mit seinem epochalen Werk “Patterns of Democracy”, 1999 erschienen, aufgehoben. Denn ihm ist es gelungen, eine neue Demokratietypologie zu entwickeln und durchzusetzen, welche kulturelle Selbstverständnisse der amerikanisch-britisch geprägten Definitionen überwinden. Dafür hat(te) er 36 Demokratie untersucht, und sie

. entweder als mehrheits-orientiert
. oder als konsens-orientiert

bezeichnet. Dabei entstand nicht nur eine neue Klassifikation, wie es sie in der Demokratieforschung viele andere auch gibt. Lijphart’s Verdienst ist es, seine Demokratie-Unterscheidung auch an 10 klar definitierten, brauchbaren Kriterien dingfest gemacht zu haben:

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(Quelle: Adam 2003)

Die Kriterien lassen sich nach Lijphard auf zwei Dimensionen reduzieren: Das Verhältnis von Exekutive und Parteien resp. zwischen Unitarismus und Föderalismus. Daraus entsteht dann auch seine berühmte Landkarte der Demokratien, die bis heute befruchtend wirkt.

Das britische und das schweizerische Muster
Nimmt man nun diese zum Nennwert, dann ist das britische Demokratie-Modell kein Normal- eher ein Spezialfall. Der kann zwar unverändert Vorbildfunktionen haben, Allgemeingültigkeit kann er aber nicht mehr beanspruchen.

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Quelle: Lijphart 1999.

Die Schweiz wiederum erscheint auf der Demokratie-Landkarte als Gegenstück. Sie ist, anders als das britische Modell, weder zentralstaatlich noch parlamentarisch ausgerichtet. Sie ist ausgesprochen föderalistisch, fast so stark wie die USA, Kanada, Austrialien und Deutschland, die alle viel grösser sind; und sie ist – unter den untersuchten Staaten – die typischste Konsensusdemokratie, nur noch mit Island und Finnland vergleichbar.

Meine Bilanz
Lijphart’s bleibendes Verdienst ist es, ein neues Verständnis von Demokratieformen entwickelt zu haben. Die Bedeutung der Mehrheitsentscheidung als Definitionskriterium wird dabei relativiert, und durch Prozesse der Verhandlung in und mit Gliedstaaten erweitert. Das macht die politikwissenschaftliche Optik schon mal realistischer. Entsprechend sind Lijphart’s Bemühungen für ein zeitgemässes Demokratieverständis gerade von vergleichenden Politikwissenschaftern aus der Schweiz, wie beispielsweise Jürg Steiner, gebührend gewürdigt worden.

Nicht glücklich bin ich allerdings mit der Terminologie im Deutschen. “Konsensus-Demokratie” sind die wenigstens, die zum britischen Gegenpol gehören; Verhandlungs- und Proporzdemokratien, die auf den deutschen Politikwissenschafter Gerhard Lehmbruch zurückgehen, dagegen schon. Die Typologie sollte also zwischen dem Konkurrenz- und dem Konkordanzmuster unterscheiden.

Damit ist eines der beiden Probleme, die man als SchweizerIn, in der Schweiz oder mit der Schweiz in Demokratieklassierung regelmässig bekommen hat, überzeugend gelöst. Das andere harrt noch der Dinge: Wie man die schweizerische, direkten Demokratie in die allgemeinen Definition einbauen kann, ohne dass man gleich von Sonderfall sprechen muss! Die PolitikwissenschafterInnen unserer Landes haben das eine ungelöste Herausforderung vor sich …

Claude Longchamp

Arend Lijphard: Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries, Yale 1999.

weitere, gebräuchliche Klassifikationen von Demokratien in der Uebersicht von Hermann Adam

Konkordanz in der Schweiz auf dem Prüfstand

(zoon politicon) Seit die SVP Schweiz sich nicht mehr in der Regierung sieht, ihren Wählerauftrag aus der Opposition zum Bundesrat heraus sichtbarmachen will, an den Bundesratsparteiengesprächen nicht mehr teilnimmt, und in der “Arena” gleich starke Delegationen von Regierung und Opposition fordert, ist die Konkordanz wieder in aller Leute Mund. Seither wird auch viel behauptet, wie man sich in der Konkordanz nicht zu verhalten habe, wer den Rubikon überschritten habe, und welche Institutionen der Konkordanz überflüssig geworden seien.

Die Untersuchung
Gerade recht, um die tagesaktuelle, von parteipolitischen Interessen bestimmte Diskussion zu spiegeln, kommt da die politikwissenschaftliche Dissertation von Christian Bolliger, die 2007 unter dem Titel “Konkordanz und Konfliktlinien in der Schweiz, 1945 bis 2003”, erschienen ist. Bolliger interessiert sich dabei nicht für alles und jedes, was mit der Konkordanz zu tun hat, sondern für eine spezifische, in der Schweiz aber wichtige Fragestellung: “Wie stark entsprach die politische Praxis der schweizerischen Regierungsparteien im Wandel der Zeit dem Modell der Konkordanz, und trug diese Praxis zur Verminderung der gesellschaftlichen Praxis bei?”

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Analyseschema für die parteipolitische Praxis der Konkordanz von Christian Bolliger (anclickbar)

Nach 467 kohärent und flüssig geschriebenen Seiten, die sich den Grundlagen der Fragestellung und dem empirisch anspruchsvollen Test der relevanten Hypothesen zu den Akteursbeziehungen widmen, kommt der Berner Politikwissenschaft zu folgendem bündigen Schluss: “immer weniger”. eigentlich hätte er noch beifügen müssen: ziemlich unberechtigterweise!

Der Analyseansatz
Bolliger denkt nicht streng institutionell. Konkordanz ist für ihn eine Praxis. Begründet sieht er sie, in Anlehnung an die international etablierte Konkordanztheorie, zuerst in der Segmentierung der Schweiz. Diese hat vier starke Konfliktlinien hervorgebracht, die es so kombiniert in andern Gesellschaften nicht gibt: die konfessionelle Konfliktlinie zwischen Katholiken und Reformierten, den Gegensatz von Stadt/Land, die Unterschiede zwischen den Sprachregionen und die Klassenstruktur im Besitzstand. Doch auch die direkte Demokratie, speziell das Referendum, sieht er im Gefolge der schweizerischen Konkordanztheorie, als Rechtfertigung, denn sie hat nach den Erfahrungen in der Zwischenkriegszeit den Zwang zur Zusammenarbeit der politischen Eliten erhöht.

Daraus leitet der Autor sein analytisches Modell der Akteursbeziehungen ab. Zwischen den grösseren Parteien braucht es Kooperation, hier als Parteienkonkordanz beschrieben, denn zwischen den BürgerInnen einer segmentierten Gesellschaft herrscht Polarisierung. Die Parteien wiederum haben die Aufgabe, Bindungen herzustellen zwischen den StimmbürgerInnen und den Eliten, die konfliktmindernd wirken. Sie müssen dabei, eingebunden in die Parteienkonkordanz, ihre innere Geschlossenheit bewahren können.

Wie das genau ausgeprägt ist, interessierte den ehemaligen Doktoranden. Wenn Parteienkooperation und innere Geschlossenheit funktionieren, spricht er von Stabilität der Konkordanz. Gibt es nur Parteikooperation, halten die Parteien die inneren Widersprüche aber nicht aus, redet er von brüchiger Konkordanz. Gekittet ist die Konkordanz, wenn wenn die innere Geschlossenheit tief und die Parteikooperation gering ist. Und schliesslich ist die Parteienkonkordanz gescheitert, wenn es keine Parteienkooperation mehr gibt, dafür die Geschlossenheit der parteilichen Eliten hoch ist. Das jedoch ist nur die horizontale Konkordanz. Die vertikale entsteht aus den alles entscheidenden Bindungen der Parteieliten und den StimmbürgerInnen:

. Wirksam ist die Konkordanz dann, wenn Parteienkooperation und gesellschaftliche Bindungen hoch sind, denn das führt zu einer Verminderung der Polarisierung.
. Unwirksam ist sie, wenn die Parteienkooperation funktioniert, es aber an gesellschaftlichen Bindungen mangelt.
. Ein offener Parteienwettbewerb herrscht vor, wenn die Polarisierung in der Bürgerschaft gering, in den parteilichen Eliten aber stark sind.
. Schliesslich ist von manifesten Konflikten die Rede, wenn sowohl die gesellschaftliche wie auch die parteipolitische Polarisierung ausgeprägt ist.

Die Ergebnisse
Was nun ist, bei der Analyse von Volksabstimmungen, Parteikampagnen und politischer Praxis Sache?

Den gewählten Zeitraum unterteilt der Autor zunäcsht in drei Phasen: die unmittelbare Nachkriegszeit, die er mit Blüte der Konkordanz zusammenfasst, die 70er und 80er Jahre, welche die etablierte Konkordanz herausgefordert haben, und die Jahrtausendwende, in der die schweizerische Konkordanz entwertet worden sei. Vertieft beschäftigen muss man sich also nur mit der letzten Phase.

Den generellen Befund gilt es allerdings hinsichtlich der vier eingeführten Konfliktlinien zu differenzieren:

. Bezogen auf den Religionsfrieden in der Schweiz sieht Bolliger die Konkordanz weiterhin wirken. Die Parteien sind weiterhin in den Konfessionsgruppen verankert, und sie suchen in konfessionellen Fragen das Einvernehmen untereinander.
. Wechselhaft ist die Konkordanz in Sprachfragen geworden. Das hat weniger mit dem Verhalten der Parteien untereinander zu tun, als mit den Aufleben der Sprachgegensätze unter den Stimmberechtigten vor allem angesichts der aussenpolitischen Oeffnung.
. Verringert hat sich die Konkordanz bei den Klassenfragen. Hier ist man zu einem offenen Parteienwettbewerb übergegangen, bei dem man sich auf Eliteebene konkurrenziert, ohne dass in der stimmenden Bevölkerung ein vergleichbarer Konflikt festzustellen sei.
. Wenn das alles die Krisenbefunde der Konkordanz relativiert, so sieht Bolliger diese bei den Stadt/Land-Gegensätzen generell aufgebrochen: Sowohl die Elitekooperation sei um die Jahrtausend-Wende verschwunden, als auch die Bevölkerung in den Zentren und ihren Peripherien würden in unterschiedliche Richtungen tendieren. Das ist denn auch die eigentliche Herausforderung unserer Zeit.

Das alles führt den Autor zu vier Folgerungen für die gegenwärtige Situation:

. Erstens, die innere Geschlossenheit der Parteien bleibt, trotz selbständigen Kantonalparteien und ausdifferenzierten Verbänden, relativ hoch und konstant.
. Zweitens, die Bindungen der Parteien in der stimmberechtigten Bevölkerung sind aber schwach, sie ist aber teilweise im Wandel begriffen.
. Drittens, die gesellschaftlichen Konfliktlinien ihrerseits bestehen oder brechen auf, vor allem in räumlicher Hinsicht bei der Sprache und bei der Siedlungsart.
. Viertens, die Konkordanz ist angesichts dieser Verhältnisse in ihrer Praxis erheblich erschüttert.


Die Würdigung

Vieles von dem, was Christian Bolliger in seiner Doktorarbeit berichtet, dürfte Zustimmung finden. Sein Ansatz ist weitgehend deskriptiv, und seine Beschreibung treffen wohl zu. Allerdings neigt der Autor zu erheblichen Schematisierungen, die im Zeitverlauf, auf Ebene der einzelnen Parteien und bezogen auf die untersuchten Volksabstimmungen differenzierter hätten ausfallen können.

Die eigentliche Leistung der Disseration ist aber, eine Ordnung in die Begriffe der Konkordanzpraxis gebracht zu haben. Diese ist, so darf man folgern, nicht zwangsläufig eine theoretische Grösse, die aus der Gesellschaft, ihren zurückliegenden Konflikten, deren Verabreitungen in institutionellen Regelung entsteht. Vielmehr ist eine gewisse Bandbreiten an verschiedenen Praxen möglich, wie die Akteurskonstellationen zeigen: Wirksame Konkordanz in Konfessionsfrage steht eine offenen Wettbewerb bei Wirtschaftsinteressen gegenüber, brüchige Konkordanz in der Sprachenfrage koexistiert tiefen Konfliktlinien bei den Stadt/Land-Gegensatzen. Die einfache Schematisierung zwischen geeinter und gespaltener Gesellschaft, die Konkordanzdemokratie erfordert oder Wettbewerbsdemokratie zulässt, ist damit aufgehoben.

Die politische Praxis, die sich seit dem 12. Dezember 2007 stellt, erhellt die Studie von Christian Bolliger damit noch nicht. Der wissenschaftliche Praxis zur Konkordanzpraxis , die seit den Arbeiten von Neidhard und Lijphard zementiert erschien, erweitert die Arbeit um eine willkommene Innovation.

Claude Longchamp

Das generelle Forschungsprojekt
Christian Bolliger: Konkordanz und Konfliktlinien in der Schweiz 1945 bis 2003, Diss. Bern 2007
Die Buchreihe

Demokratisierung als politischer Lernprozess

(zoon politicon) Ich war letzte Woche als Beobachter bei der Initiative für direkte Demokratie im Südtirol. Die dortige Bürgerbewegung strebt an, 2009 über eine Volksabstimmunngen die Möglichkeiten der lokalen direkten Demokratie im Lande Südtirol nachhaltig zu verbessern. Sie hat festgestellt, dass verschiedene Vorstösse zur Demokratisierung in Norditalien, so in Aosta, aber auch in der Südschweiz, so im Tessin, in jüngster Zeit auf begrenzte Unterstützung stiessen: Ein typischer Fall also, bei dem man Expertenwissen zur Demokratisierung von Politik nachfragt, um das eigene, selbstgesteckte Ziel besser erreichen zu können!

Eingang zum Rathaus von Bozen:. Trotz symbolisierter Transparenz besteht ein Bedürfnis nach mehr Partizipation im Land, die sich in der südtiroler Initiative für mehr Demokratie ausdrückt.

Meine Einblicke
Ich habe in den zwei Tagen viele spannende Einblicke in das politische Leben des Südtirols erhalten.

. Zum Beispiel in die eigene Lagebeschreibung: Wirtschaftlich gesehen geht es demnach dem Südtirol so gut wie noch nie. Von einer Mangelgesellschaft ist man innert zweier Generationen zu einer Ueberflussgesellschaft übergegangen. Doch sind die Menschen weder individuell noch kollektiv besonders glücklich geworden. Die italienschsprachige Minderheit fühlt ihre regressive Entwicklung, und die deutschsprachige Mehrheit möchte mehr Autonomie von Italien. Verbreitet ist in einer solche Situation das “Jammern”.

. Zum Beispiel auch in die Situationsanalyse: Politik ist in Italien nicht (mehr) “in”. Es dominiert der Rückzug vom Oeffentlichen ins Private. Die gegenwärtige Regierungskrise hat die Hoffnung mitte/links auf eine Besserung zerstört. Es regieren verbreitet der Konsumimus und der Hedonismus. Politik findet maximal noch bei Wahlen statt. Dann bestimmt man eine Mehrheit, und der übergibt man dann die Verantwortung, alle anstehenden Probleme zu lösen.

Meine Analyse
Doch was sagt man als Politikwissenschafter dazu, wenn es gilt, über die Möglichkeiten der direkten Demokratie nachzudenken?

Zuerst fragt man sich als Politikwissenschafter, was für eine politische Kultur da beschrieben wurde. Die beiden Prioniere auf diesem Forschungsgebiet, die beiden Amerikaner Alond und Verba, haben eine Unterscheidung mit drei Typen vorgeschlagen:

. die parochiale, auf den kleinen, eigenen Raum bezogene Politkultur, die sich nach aussen abgrenzt,
. die Politkultur der Untertanen, die sich auf den Staat bezieht, von diesem aber in erster Linie materielle Leistungen und Sicherheit erwartet ohne selber Eigenständiges dazu zu leisten, und
. die Partiziaptions-Kultur, für die die BürgerInnen selber die politschen Subjekte sind, die sich über Wahlen hinaus einbringen wollen, die aber auch gehört werden müssen.

Angewandt auf obige Lagebeschreibung und Situationsanalyse ist recht klar: Die politische Kultur des Südtirols ist wie in vielen nationalstaatlichen Demokratien eine Mischung. Die eher passive Ausrichtung der Partizipation, die sich weitgehend auf das Wählen beschränkt, ist eine beschränkt partizipatorische Untertanenkultur. Vor allem die komplexe Lage zwischen den Sprachgruppen in Italien führt zu weiteren Mischungen. Namentlich unter den deutschsprachigen Südtirolern gibt es auch parochiale Züge in der beschränkt partizipatorische Untertanenkultur.

Die so typische Delegation der nationalen Politik an Parteien, die sich in Rom um die Regierungsmehrheit streiten, ist Ausdruck der Untertanen-Kultur. Die zentrale Einstellung ist eher passiv, und an den Leistungen der eigenen Parteien bei der Verteilung staatlich produzierter Güter interessiert. Dabei erwartete man sie entweder vom Nationalstaat Italien, oder aber lokaler ausgerichtet vom Land Südtirol.

Von einer eigentlichen BürgerInnen-Kultur, die Voraussetzung für Demokratisierungen aller Art sind, ist man damit im Südtirol noch einiges entfernt. Das ist weiteres nicht überraschend, für ein dauerhaft auf verstärkte Partizipation ausgerichtetes politisches System aber ein Problem. Denn es muss auf Instabilität beruhen, wenn Struktur und Kultur in zentralen Erfordernissen nicht übereinstimmen. Die wichtigste Folgerung daraus ist, dass politische Kultur im Sinne der Partizipationskultur entwickelt werden muss.

Meine Folgerungen
Was empfiehlt die politikwissenschaftliche Kulturforschung in diesem Zusammenhang? Zentral ist hier Ueberlegung, die aus dem engen Zusammenhang von Systemlegitimation und politischer Effektivität folgt. Seymour Marty Lipset ist hier der massgebliche Forscher gewesen, der auf die entsprechenden Zusammenhänge aufmerksam gemacht hat. Seine Hauptaussage: Wenn ein bestehendes oder auch ein neues System der Politik legitim sein soll, dann muss es den BürgerInnen das Gefühl vermitteln, dass das bestehende oder das neue ihnen mehr Möglichkeiten gibt.

Daraus folgte für mich das Nachstehende:

Erstens, was auch immer geschieht, BürgerInnen-Bewegung für direkte Demokratie, wie jene, die ich im Südtirol besuchte, brauchen einen langen Atem. Das Ziel, das sie erreichen wollen, wird sich nicht sofort und umfassend einstellen.
Zweitens, dennoch braucht es schnelle Erfolgserlebnisse. Es braucht Identifikationsmöglichkeiten. Es empfiehlt sich, eine positive Oeffentlichkeit zu schaffen, die aufzeigt, wie oft und und wie breit BürgerInnen-Initiative Themen aus der eigenen Betroffenheit aufnehmen und versuchen, auf der Basis von Selbsthilfe auch ohne politische Entscheidungen zu regeln. Diese guten Vorbilder kann mit professioneller Medienarbeit bekannter machen, sie auch zu Vorbilder werden lassen.
Drittens, dazu bedarf es einer Reihe Verbündeter: die Selbstaktiven in einer Gesellschaft müssen gesammelt und vernetzt werden, die Massenmedien müssen für die andere Sichtweise der Dinge und für die Alternativen in den Lösungsansätzen, die nicht auf Delegation von Politik basieren, gewonnen werden. Und zu den Parteien, möglichst im übergreifenden Sinne, sollen Kontakte soweit aufgebaut werden, dass sie sich als Verbündete oder wenigstens als Interessierte des Demokratisierungsprozesses verstehen.

Sicher, das ist nur eine kleine Auswahl aus den denkbaren Schlussfolgerungen. Aber es sind meine, die ich als praxisorientierter Politikwissenschafter vor Ort und auf der Rückreise gezogen habe. Ich verstehe sie nicht als “must”, aber als Ernst gemeinte Anregungen in einem anstehenden politischen Lernprozess.

Claude Longchamp