Vom angeblichen Mitte/Links-Nationalrat

Das haben wir dieser Tage bis zum Ueberdruss gehört. Das Parlament bestehe aus zwei Blöcken: den Mitte/Links-Parteien und der SVP. Die zurückligende Session lehrt uns eines bessern: Unverändert wird die Szenerie durch wechselnde Allianzen beherrscht, bei denen die Fraktionen der CVP/EVP, FDP, BDP und GLP den Ausschlag geben.

verfassungsgerichtsbarkeitbonussteuer
Zwei Mal knapp, aber unterschiedlich: Mitte/Links bringt die Verfassungsgerichtsbarkeit durch, während Rechts und Teile der Mitte die Bonussteuer versenkt.

Politnetz wartet mit der neuen Legislatur mit einer tollen Innovation auf. Die “Abstimmungsergebnisse im Nationalrat” werden schnell aufgearbeitet handlich nachschlagbar gemacht. Die Neuerung erlaubt es, seine ParlamentarierInnen zu verfolgen, wie auch die Allianzbildung in den Sachgeschäften einzuschätzen.

Angenommen wurden

. die Bekämpfung des Menschenhandels (mit 160:5)
. das Integrationsrahmengesetz (mit 150:42)
. die Strafbarkeit von Rasern (mit 132:37)
. das Verbot von Streumunition (mit 120:58)
. die Adpotion ab 30 (mit 116:45)
. die Vereinbarkeit von Volksinitiative und Grundrechten (mit 103:55)
. die Erhöhung der Direktzahlungen an die Landwirtschaft (mit 99:79) und
. die Verfassungsgerichtsbarkeit (mit 94:83).

Bei der Bekämpfung des Menschenhandels kann man nicht von einer Konfliktlinie im Parlament sprechen; das regierte der Konsens. Anders sieht es bei den übrigen angenommen Vorlagen aus. Sie wurde meist gegen die Stimmen der opponierenden SVP angenommen. So blieb die grösste Fraktion bei der Strafbarkeit von Rasern alleine, nicht aber bei der Verfassungsgerichtsbarkeit, wo die SVP mit ihrer Ablehnung weit in FDP und CVP- Kreise ausstrahlte, während beim Grundsatzentscheid zu Volksinitiativen und Volksrechten namentlich die FDP-PolitikerInnen zu Minderheit hielt. Gerade umgekehrt verliefen die Fronten bei der Erhöhung der Direktzahlungen an die Landwirtschaft. Da setzten sich SVP und BDP, unterstützt von Teilen der CE, FDP und GLP durch, während SP und GPS unterlagen.

Abgelehnt wurde zudem

. die Sanierung von Zebrastreifen (mit 98:133)
. die Bonussteuer (mit 85:98)
. die Vereinheitlichung des Mehrwertsteuersatzen (mit 58:120)
. die verfassungsmässige Verankerung des Bankkundengeheinnisses (mit 13:172)

Die Allianzbildung ist hier eindeutig komplexer. Die Sanierung der Zentrastreifen scheitert am Nein der traditionellen bürgerlichen Fraktionen. Bei der Bonus-Steuer war die CVP auf der Ja-Seite, dafür verhalten GLP und BDP der Gegnerschaft zum Durchbruch. Bei der Vereinheitlichung der Mehrwertsteuer stimmten FDP und GLP dafür, alle anderen Fraktionen jedoch dagegen, und bei der Verankerung des Bankkundengeheimnisses in der Bundesverfassung sah sich die zustimmende BDP von allen übrigen Fraktionen isoliert.

Daraus kann man vier, deutlich differenziertere Schlüsse als die einleitend zitierte Schematisierung ziehen:

Erstens, keine Fraktion setzte sich immer durch, keine verlor konstant.
Zweitens, erfolgsversprechend sind von links getragene Allianzen, wenn sie Mehrheiten CVP und FDP auf ihrer Seite wissen, während Bündnisse, die von rechts bestimmt werden, auf die gleichen Fraktionsmehrheiten setzten müssen.
Drittens, Vorlagen, welche die traditionellen bürgerlichen Fraktionen nicht unterstützen, scheitern genauso, wie solche bei denen sich GLP und BDP einer kritischen Allianz aus SVP und FDP anschliessen.
Viertens, Profilierung einzelner Fraktionen gegen einen breiten Parlamentsmainstream haben selbsredend keine Chance, egal von wem sie ausgehen.

Belegt wird damit, dass (im Nationalrat) die Entscheidungen der Mitte massgeblich sind, diese aber atomisiert ist, und zwar zwischen den 4 Fraktionen, die dazu gehören können, die sachpolitischen Konfliktlinie teilweise auch quer durch die Fraktionen verläuft. Das macht die Berechenbarkeit schwieriger, gleichzeitig die wechselnden Mehrheit häufig.
Die SVP positioniert sich oppositionell, wenn sie eine Mehrheit von mitte/links erwartet. Sie sucht aber auch Bündnisse zu den bürgerlichen Partnern, hat dabei auch Erfolg, eher beim Bremsen als beim Gas geben.

An sich nicht neu, was man via Politnetz erfährt – aber transparent und sauber belegt!

Claude Longchamp

10 Trends in Schweizer Wahlkämpfen des letzten Vierteljahrhunderts

Sie sind jung, und sie wollen ein Interview von mir. Für eine Gruppe GymnasistInnen aus Wettingen soll ich die Wahlkämpfe der letzten 25 Jahre ausleuchten. Hier meine 10 Thesen.

SCHWEIZ SVP PARTEI
Prägten zahlreiche Veränderungen in Schweizer Wahlkämpfen: die SVP des Kantons Zürich, hier im Jahre 1987 (Quelle: 20 min)

Eines vorneweg: Ich erhalte viele Anfragen für Interviews im Rahmen von Matura-Arbeiten. Wenn ich den Eindruck habe, das liegt eigentlich schon gut aufgearbeitet vor, sage ich ab. Das mache ich auch, wenn ich mich für nicht kompetent halte.

Diese Woche habe ich eine mail aus dem Wettinger Gymnasium gekriegt, mit der Bitte, mich zu Veränderungen in Wahlkämpfen zu äussern. Konkret geht es um den Wandel der politischen Kommunikation im letzten Vierteljahrhundert. Ich habe ausnahmsweise zugesagt, weil es durchaus eines “meiner” Themen ist, es dazu aber nichts Kompaktes dazu zu lesen gibt.

Erstens: Seit 1983 ist die Parteienlandschaft in Bewegung: Neue Parteien sind entstanden, vor allem grüne, aber auch Antipoden hierzu. Von Bedeutung sind auch die Veränderungen in den Parteistärken. Die SVP setzte nach 190091 zum Höhenflug an und die deutlich grösste Partei geworden, die SP hielt bis vor rund 5 Jahren mit, und auch die GPS legte mehrheitlich zu. Seit 2007 gilt dies auch für die neu entstandene GLP, und 2011 haben sie und die BDP die besten Aussichten, sich in der Parteienlandschaft auszubreiten. Rückläufig sind die Anteile im bürgerlichen Zentrum. Parallel dazu ist die Wahlbeteiligung wieder gestiegen.

Zweitens: Der grösste Einschnitt in der politischen Kommunikation der Schweiz ist die EWR-Entscheidung von 1992. Damals entwickelten sich Medien zur Avantgarde und polarisierten Parteien die Konsenskultur. Auf Wahlkämpfe färbte sich das ab, inden namentlich links und rechts die Binnenorientierung, fokussiert auf die Stammwählerschaft, zugunsten von Angriffswahlkämpfen aufgegeben wurde, mit der WechselwählerInnen und bisherige Nichtwählende anvisiert wurden. Damit hat die Dynamik von Wahlkämpfen zugenommen.

Drittens: Verändert wurde auch die vorwiegend kleinräumig ausgerichtete Kampagnenkommunikation der Parteien, indem Auftritt, Form und Inhalt zentralisiert und aufgrund von Erkenntnissen des politischen Marketings ausgerichtet wurde. Parallel dazu entwickelte sich das Themensetzen der Parteien mit Kampagnen als gesamtschweizerische oder sprachregionale, jedenfalls überkantonale Aufgabe, deren Ziele es nicht mehr ist, die politische Debatte zu fördern, sondern den Mix an relevanten Informationen und Stimmungen zu seinem eigenen Vorteil zu optimieren.

Viertens: Geöffent haben sich die Parteien ausgehend vom bürgerlichen Zentrum für Kampagnen der immer zahlreicher werdenden KandidatInnen, die im bessern Fall auf die Parteikampagnen abgestimmt sind, im schlechteren weitgehend unabhängig davon funktionieren. Vorbild hierfür waren die Ständeratswahlkämpfe, die jedoch auf die Nationalratswahlen abfärbten.

Fünftens: Die Medien haben ihre Wahlkampfberichterstattung ausgebaut. Dabei haben sie ihre Rollen als Partei- oder Forumszeitung zusehends verlassen. Sie sind heute kaum mehr nur Transporteure, sondern Akteure in Kampagnen, die sich mit Eigenleistungen profilieren wollen, aber auch mit Kontroversen und Skandalen die Wahlen beeinflussen wollen. Zugenommen haben die Bedeutung der mediale Inszenierungen und der kommerzialisierten Politbewerbung, mit der die Grenzen zwischen Berichterstattung und Propaganda zunehmend auch verwischt wird. Nicht zuletzt die neuen Medien haben diese Veränderungen in jüngster Zeit noch beschleunigt.

Sechstens: Mit der Visualisierung des Journalismus geht eine Trend zur Personalisierung der Wahlen einher. Entstanden sind neue Rollen für ParteipräsidentInnen, aber auch charismatische Leaderfiguren, die dem Wahlkampf das tägliche Tempo geben. Die BundesrätInnen als die häufig bekanntesten ParteivertreterInnen werden in die zunehmend umfassende und dauerhaft betriebene, kampagnenartige Politiberichterstattung einbezogen, sodass die Unterscheidung von Wahlen ins Parlament und Regierung verwischt werden.

Siebtens: Entstand ist auch eine Expertenkultur in Kampagnen, welche deren Gesetzmässigkeiten und Auswirkungen medial analysieren, allenfalls auch Parteien und KandidatInnen kritisieren oder unterstützen. Häufiger geworden ist auch der Einsatz wissenschaftlicher Beobachtungs- und Analyseinstrumente zu Wahkämpfen in der Schweiz, mit der auch kritische Fragen zur Kommenzialisierung von Wahlkämpfe häufiger gestellt werden. Beschränkit mischen sich neuerdings auch WahlbeobachterInnen und ausländische Institutionen in Schweizer Wahlkämpfe ein.

Achtens: Uebers ganze gesehen ist hat die Involvierung der Bürgerschaft in Wahlkämpfe national klar zugenommen. Entsprechend ist die gesamtschweizerischen Wahlbeteiligung steigend, und differenziert sich diese immer deutlicher von der klar tieferliegenden Beteiligung an kantonalen Wahlen.

Neuntens: Die meisten der hier geschilderten Trends sind in der deutschsprachigen Schweiz deutlicher beobachtbar, in der französisch- und italienischen Sprachregionen wenig ausgeprägt. Zudem gehen die medialen Entwicklungen in der Regel von den urbanen Zentren aus, diffundieren von da aus aber auch aufs Land. Neu werden Schweizer Wahlkämpfe auch durch globale Ereignisse und Trends bestimmt.

Zehntens: Zahlreiche Trends könnten 2007 ihren Höhepunkt erreicht haben. Im aktuellen Wahlkampf besteht der Eindruck, dass sich einige der Entwicklungen nicht nochmals akzentuiert haben. Das gilt namentlich für die Polarisierung der Parteienlandschaft, die auf hohem Niveau möglicherweise an ihr Ende gekommen ist. Es könnte aber auch auf die Mobilisierung der Bürgeschaft durch Wahlen zutreffen.

Ich werde über die Erfahrungen im Interview mit den GymnasistInnen berichten. Selbstverständlich auch über die Konfrontation dieser Thesen mit dem Wahlkampf 2011.

Claude Longchamp

Personen, die in Migrationsfragen ankommen resp. polarisieren

Letzten Sonntag verkündete der Sonntagsblick: “Schweizer schieben Blocher ab!” Zum neuen Shooting-Star der hiesigen Ausländerpolitik wurde Karin Keller-Sutter stilisiert. Ein Kommentar.

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Ich habe mir die Daten der dahinterliegenden Befragung von Demoscope genauer angesehen und komme zu folgendem Schluss: Gemessen wurde mit der Datenerhebung zweierlei – zuerst die Bekanntheit der Personen, dann der Polarisierungsgrad der ExponentInnen in Migrationsfragen.

Von den 16 geprüften Personen haben 12 kein wirklich sachpolitisches Profil, wenn es um Ausländerfragen geht. Was die Umfrage als Themenprofil ergibt, wird grösstenteils durch die Bekanntheit bestimmt. Personen wie Philipp Müller, Bastien Girod, Daniel Vischer, Hans-Ueli Grunder und Daniel Jositsch sind in der Bevölkerung der ganzen Schweiz schlicht zu wenig bekannt, um in der breiten Masse ein Themenprofil zu haben. Das gilt für PolitikerInnen wie Ueli Leuenberger, Adrian Amstutz, Ursula Wyss, Urs Schwaller, Fulvio Pelli und Chriphe Darbelley nicht im gleichen Masse. Denn sie sind durch ihre Rollen und Auftritte in der Schweizer Politik eindeutige bekannter. Ein wirkliches Sachprofil haben aber auch sie nicht, jedenfalls nicht in Migrationsfragen.

Anders beurteile ich die letzten vier der überprüften PolitikerInnen: Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die St. Galler Regierungsrätin Karin Keller-Sutter, als Bundesrat Chrsitoph Blocher und SVP-Präsident Toni Brunner. Bei ihnen gilt: Sie sind sehr bekannt. Man weiss, wofür sie stehen. Breite Teile der Bevölkerung akzeptieren ihre Positionen oder reagieren stark gespalten darauf. Letzteres gilt vor allem für die beiden Top-Exponenten der SVP, nicht aber für die beiden PolitikerInnen, die in der Migrationspolitik etwas zu sagen haben.

Die obenstehende Grafik belegt das. Sie gibt die Positionierung des politischen Personals auf zwei Dimensionen wieder: hinischtlich der Bekanntheit und der Glaubwürdigkeit in Ausländerfragen. Alle PolitikerInnen, die nahe bei eingezeichneten Strich positioniert sind, haben für die Wahlberechtigten kein wirklich migrationspolitisches Profil. Denn ihre diesbezüglichen Werte werden weitgehend durch ihre Werte für die (Un)Bekanntheit bestimmt.

Blocher und Brunner sind klar unter dem Strich, was nicht anderes heisst, als dass ihre Akzeptanz in diesem Themenbereich geringer ist als ihre Bekanntheit es vermuten liessen. Das ist bei Keller-Sutter einerseits, Sommaruga andersseits genau umgekehrt. Sie sind akzeptierter als man das aufgrund ihrer Bekanntheit erwarten könnte. Die Top-Relation zwischen beiden Indikatoren hat die St. Galler Regierungsrätin.

Haben damit auch die SP und die FDP die Themenführung in der Migrationsfrage übernommen? Ich zweifle stark. Denn unseer Bild von Parteien in Sachfragen wird vor allem durch ihre Politik bestimmt, weniger durch die Position von ExponnentInnen. Oder anders gesagt. Was Bundesrätin Sommargua sagt oder Regierungsrätin Keller meint, spricht zuerst für (oder gegen) sie. Der Imagetransfer auf die Parteien bleibt beschränkt.

Und so gilt: Wenn es um Migrationsfragen geht, mobilisiert die SVP die Meinungen der klagenden ThemenwählerInnen immer noch am besten. Nur fehlt es ihnen gegenwärtig als unbestritten Kommunikatoren. Das sollte sich auch die Blick-Redaktion merken, die Personenimages befragen liess, auf der Frontseite Parteienbashing betrieb.

Claude Longchamp

Zwischen Momentaufnahmen und Prognosen

Die kantonalen Wahlen dieser Legislatur liegen hinter uns. Die Wählerbefragungen zu den Nationalratswahlen sind in der ganzen Breite lanciert. Und die Wahlbörsen zum Ausgang der Parlamentswahlen haben eingesetzt. Es ist Zeit, die Instrument untereinander zu vergleichen, hinsichtlich ihrer Aussagen, ihre Möglichkeiten und Grenzen. Ich mache es klar: Man hat keine treffsicheren Prognosen, aber auch nicht nur punktuelle Momentaufnahmen.

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Die Bilanzen zu den kantonalen Wahlen haben einen grossen Vorteil: Sie bewerten reale Wahlen. Dem steht indess ein gewichtiger Nachteil gegenüber: Sie sind am Wahltag zwischen einem halben und dreieinhalb Jahre alt. Vor allem berücksichtigen sie alles, was im nationalen Wahlkampf passiert und kantonal kein Pendant hatte nicht.
WählerInnen-Befragungen wiederum sind nur simulierte Wahlen. Momentane Stimmungen fliessen in sie ein, die es wenig vorher nicht gab und die sich wenig später nicht bestätigen müssen. Umfrageserien des gleichen Instituts mindern diese Schwäche; Vergleiche zwischen Umfragen verringern auch Zufälligkeiten, bedingt durch die Stichproben. Ihr Problem bleibt, dass es, in der Schweiz wenigstens, kurz vor Wahlen nicht erlaubt ist, sie zu veröffentlichen.
Wahlbörsen schliesslich sind das spielerische Element vor Wahlen. Sie befriedigen das Wettfieber der Interessierten, zeigen dabei erstaunliche Ergebnisse. Ihr Vorteil: Sie dürfen bis zum Wahltag gemacht werden. Es gibt keine Gewähr, dass die ermittelten Kurse der Parteien zusammen 100 Prozent ergeben.

In der Wahlforschung hat sich ein Grundsatz durchgesetzt: Alle Instrumente haben viele Vorteile und einige Nachteile, weshalb keines perfekt ist. Die Unzulänglichkeiten lassen sich verringern, wenn man auf die gemeinsamen Aussagen der Instrumente setzt, und die Besonderheiten relativiert.
Eine Evaluierung dieser Art für die Wahlen 2007 zeigte: Die quantitativen Abweichung aller Instrument blieb recht gering. Der Vergleich der Benchmarks für kantonalen Analysen, WählerInnen-Befragung und Wahlbörsen verwies die Umfragen auf den ersten Platz, während die beiden anderen tools wegen qualitativ falschen Aussagen zum Wahlausgang nur nachfolgten.

Ich habe die Nachevaulierung, soweit möglich, auf die sechs Analyse-Instrumente 2011 angewandt. Und ich komme zu folgenden Schlüssen.

Erstens, BDP und GLP legen gegenüber 2007 überall zu. Bei der BDP ist das selbstredend der Fall, denn sie existierten bei der letzten Nationalratswahl noch gar nicht. Bei der GLP sind die prognostizierten Veränderungen, das gemessene Wachstum und die Wahlbilanzen so eindeutig, dass die Aussagen mit sehr sehr hoher Wahrscheinlichkeit gemacht werden kann,.

Zweitens, praktisch stabil ist die GPS; allenfalls kann sie etwas zulegen.

Drittens, eher zu den VerliererInnen zählen die CVP und die FDP. Wenn es hoch kommt, können sie sich halten. Das belegen kantonale Wahlen und Wahlbörsen, während Umfragen je nach Zeitpunkt ein kleines Plus für die eine oder andere der bürgerlichen Parteien sieht.

Viertens, widersprüchlich sind die Aussagen zu den Polparteien SVP und SP. Kantonal gab es einen Rutsch Richtung SVP. Der verflachte jedoch während der Legislatur. Nach der Abstimmung über die Ausschaffungsinitiative schwappte er nochmals hoch. Mit dem Unfall in Fukushima wurde auch das neutralisiert, sodass heute selbst die Parteileitung hochtrabende Erwartungen zurück buchstabiert. In den WählerInnen-Befragungen und in den Wahlbörsen bleibt das nicht ohne Auswirkungen. Die SP wiederum verlor in der ersten Legislaturhälfte viel, konnte den Rückgang aber verlangsamen. Der Programmparteitag 2010 stoppte die Aufholarbeit. Seither dominiert die Feststellung, die SP werde beschränkt verlieren; nur OptimistInnen in Wahlbörsen rechnen mit dem Gegenteil.

Fünftens, mit einer Bi-Polarisierung rechnet man kaum mehr. Festgehalten wird, dass das Zentrum gestärkt aus den Wahlen hervorgehen könnte, gleichzeitig aber parteipolitisch auch fragmentierter den je wäre. Denn es dürften GLP und BDP wachsen, damit die kleinen zulegen, während die CVP sich im besten Fall dazwischen behaupten kann. Nicht wirklich etablieren konnte sich die Mitte/Rechts-Position, wie sie von der FDP mit der Fusion mit den Liberalen gesucht wurde. Jedenfalls ist daraus nicht automatisch eine Erfolgsformel geworden. Wenn bei den Polparteien die Unsicherheiten am grössten sind, hat das einen Grund: Ihr Ergebnis hängt von der Mobilisierung ab. Diese ist, bei knapp 50 Prozent Beteiligung, erheblich von polarisierenden Figuren und Themen abhängig, von intensiver medialer Aufmerksamkeit hierfür und von der Hoffnung, die Wahl entsprechender Parteien könne die Politik in der Schweiz neu ausrichten. Das alles ist im Moment unsicher.

Was also weiss man 60 Tage vor der Wahl? – Mehr als die von den PolitikerInnen gerne zitierte “reine Momentaufnahme”, aber auch weniger als eine “gesicherte Prognose”, wie es von einigen JournalistInnen regelmässig inszeniert wird.

Claude Longchamp

Aktuelle Wahlbörsen im Vergleich

Wettbegeisterte können auf Parteistärken setzen und gewinnen oder verlieren. Mit ihrem Kalkül helfen sie, Erwartungen zum Wahlausgang sichtbar zu machen. Doch die Methode hat auch Nachteile: Es gibt keine Gewähr, dass die Einschätzungen nicht ins Kraut schiessen und alle Parteien nicht geschönt beurteilt werden.

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Zwei Wählbörsen zu den Nationalratswahlen 2011 gibt es (vorerst): neu diejenige des Schweizer Fernsehens und seit längerem diejenige von Wahlfieber.

Erwartete Wahlsiegerinnen sind die BDP und die GLP. Gemäss Börsianern können sie mit je 4 Prozentpunkten Zuwachs rechnen.

Mögliche Gewinner- oder Verliererinnen sind die beiden grossen rotgrünen Parteien. Gemäss SF-Börse würden SP und GPS zulegen, nicht aber gemäss Wettkonkurrent “Wahlfieber”.

Verluste würde es vor allem für die FDP, aber auch für die CVP und allenfalls auch SVP absetzen.

Das Hauptproblem der aktuellen Wahlbörsen ist, dass die addierten Kurswerte nicht auf 100 Prozent aufgehen. Erheblich ist das Problem bei der SF-Wahlbörse, wo die ausgewiesenen Parteistärken zusammen rund 106 Prozent ergeben. Bei Wahlfieber liegt man bei zirka 103 Prozent.

Das haben findige Börsianer zwischenzeitlich selber entdeckt, und sie rätseln fieberhaft, wie man der Schwäche beikommen solle.

Denn sie wissen: Ohne dieser Korrektur werden alle Prozentangaben relativiert, da sie automatisch in Bezug auf die Wählendenanteile bei den letzten Wahlen gesetzt werden. Doch gerade das täuscht, wenn das BfS auf 100 prozentuiert, die Wahlbörsen aber nicht.

Die beiden Wahlbörsen zeigen eine weitere Schwäche. Das Umfeld der Wette bestimmt die Teilnahme: Auf der populären Website von SF wetten 669 Personen, beim Aussenseiter Wahlfieber sind gerade mal 38. Das bestimmt die Einflussmöglichkeiten eines Traders, der taktisch vorgehen will. Seine Möglichkeiten sind bei der SF Wahlbörse deutlich geringer.

Keine Aussagen machen die Börsianer im übrigen zur Wahlbeteiligung. Dafür lanciert die SF-Wahlbörse heute abend einen neuen Markt für die Sitzzahlen der Parteien im Ständerat. Gegenüber Wahlbefragungen gibt das einen echten Mehrwert.

Claude Longchamp

Aktuellste Wahlbefragungen im Vergleich

Nun haben die drei Marktleader in Sachen Wahlumfragen, Isopublic, Demoscope und gfs.bern, ihre Wahlbefragungen auf den Tisch. Sie arbeiten für die Tamedia (Sonntagszeitung), Ringier (Sonntagsblick/Blick) und die SRG SSR (alle Unternehmenseinheiten).

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Befragt haben alle mit der CATI-Methode (computerunterstützte Telefoninterviews). gfs.bern macht die Interviews in der ganzen Schweiz, Demoscope und Isopublic verzichten darauf, die italienischsprachigen Wahlberechtigten zu befragen. Gebildet wurden alle Stichproben nach dem at-random-Verfahren.

Interviewt wurde eine unterschiedliche Zahl von BürgerInnen: Bei gfs.bern sind es 2005, bei Demoscope genau die Hälfte davon (1002); Isopublic stützte sich auf eine mittlere Zahl von 1255.

Unterschiedlich sind die Zeitpunkte der Befragung. Die Befragung von Demoscope ist die jüngste, die von gfs.bern die zweitjüngste, während die von Isopublic am ältesten ist. Es ist denkbar, dass die Unterschiede in den Parteistärken daraus resultieren; genau beurteilen kann man das indessen nicht, denn die Basen der Befragung sind dafür vor allem hinsichtlich des Befragungsgebietes zu unterschiedlich. Ich warne deshalb vor Zeitvergleichen über Erhebungen verschiedener Institute hinweg.

Vergleicht man die Ergebnisse strukturell, ergeben sich zuerst Gemeinsamkeiten.

. Die drei beigezogenen Messungen sprechen für Wahlgewinne der GLP, der BDP, möglicherweise auch der GPS.
. Sie gehen für die CVP, FDP und SVP von Verlusten oder von einem Halten aus.
. Und die SVP hat in allen drei Befragungen ein Minus. Das gilt auch für die übrigen Parteien.

Indes: Nur bei der GPS, der BDP und der SP sind die Befragungswerte annähernd identisch. Grösser sind die Differenzen bereits bei der CVP, die bei gfs.bern leicht zulegt, in den beiden anderen Befragungen einiges verliert. Das gilt namentlich auch für die FDP. Sie hat bei Demoscope ein kleines Plus, während sie in den Erhebungen der anderen Institute ein Minus hat.

Selbst bei der SVP variieren die Minuswerte: Mit 4.1 Prozent sind sie bei Demoscope krass, während sie bei Isopublic mit 0.2 Prozent kaum nennenswert sind.

Eine Eigenheit hat die Demoscope-Umfrage: Sie macht als einzige zur Beteiligung keine Angabe, derweil gfs.bern und Isopublic mit Werten von 45 resp. 47 Prozent von einem leichten Minus gegenüber 2007 ausgehen.

Der Vergleich 2007 zwischen den Vorwahlbefragungen und dem Wahlergebnis legte nahe, von drei Qualitätskriterien auszugehen: der Stichprobenbildung (ganze Schweiz besser als nur in Teilen), der Befragtenzahl (je mehr desto besser( und des Befragungszeitpunkts (je näher bei Zeitpunkt, aber nicht nur an 1-3 Tagen durchgeführt).

Claude Longchamp

Mein Beitrag zur Analyse der Wahlen 2011.

Wer wählt wen warum mit welcher Wirkung. Das ist das wwwww der Wahlforschung. Was ich dazu in den nächsten 6 Monaten sagen werde.

Immer mehr Menschen fragen mich, wie die Wahlen ausgehen, was der Wahlkampf bringt und welches die Folgen für den neuen Bundesrat sind.
Mit punktgenauen Prognosen antworte ich da nie. Nicht, weil ich das nicht wollte. Indes, weil Prognosen so weit im Voraus nicht eindeutig möglich sind.
Genau deshalb werde ich mich stufenweise dem kommenden Geschehen beschäftigen. Das Wahlbarometer für die SRG ist die eine Seite hierzu. Die andere sind Vorträge, Kurse und Vorlesungen, welche sich den Wahlen 2011 annehmen.


Mein neuestes Video, zu meinen Veranstaltungen an Universitäten, für Kunden und das interessierte Publikum

Hier eine Uebersich:

12. September, Bern: Münstergass-Buchhandlung: Streitgespräch mit Michael Hermann zu seinen neuen Buch
“Konkordanz in der Krise”

16./17. September, Winterthur: Kurs am HWZh zu:
“Bürger und Demoskopie – Analyse von Wahl- und Abstimmungskämpfen”

22. September, Zürich: Bilanz Business-Talk zu:
“Was erwartet die Wirtschaft von den Wahlen?”

ab 23. September jeweils am Freitag, Bern: Forschungsseminar an der Universität Bern:
“Analyse von Ständeratswahlen in der Schweiz”

27. September, Zürich: Abendverstaltung der International Advertising Association zu
Wahlkampf – Wahlkrampf?

3. Oktober, Bern: Stadtwanderung mit Oesterreichischen JournalistInnen zu
“Wahlkampf 2011”

6. Oktober, Zug: Kantonsschule Zug: Vortrag zu:
“Die Schweiz vor den Parlamentswahlen 2011”.

12. November, Bern: Veranstaltung der Verbindung Kyburger:
“Analyse der National- und Ständeratswahlen 2011”

15. November, Bern: Abendveranstaltung der Neuen Helvetischen Gesellschaft:
“Was folgt aus den Parlamentswahlen für die Bundesratswahlen 2011?”

25. November, Luzern: Veranstaltung des Unternehmerclubs Luzern:
“Analyse der Parlamentswahlen – Aussicht auf die Bundesratswahlen 2011”

ab Februar 2012: Vorlesung an der Universität Zürich:
Wahlforschung in der Praxis: Analyse der Wahlen 2011

Vielleicht sind Sie, meine sehr verehrte LeserInnen, das eine oder andere Mal dabei!

Claude Longchamp

Wenn man auf der Strasse angesprochen wird …

200000 Menschen schauten sich dieses Jahr im Schnitt die bisher vier Wahlbarometer-Sendung an. Ein Kommentar zu den persönlichen Reaktionen.

Wahlbarometer vom 12.08.2011

Ich merke es gut: Auf der Strasse werde ich zunehmend angesprochen. Das ist nach einem Abstimmungssonntag normal, verschwindet nach einigen Tagen aber wieder. Jetzt ist die Entwicklung anders: Seit ich aus den Sommerferien zurück bin, ist die Aufmerksamkeit für Wahlen, Wahlsendungen und Wahlanalysen eindeutig gestiegen.

Was die Reaktionen auf meine Person betrifft, hat es zweifelsfrei mit der Medienpräsenz, vor allem im Fernsehen, zu tun. “Tagesschau” und “10vor10” berichten über das Wahlbarometer kurz, die Spezialsendung mit dem gleichen Titel ausführlich.

Im Schnitt dauern die Wahlbarometer-Sendungen 12 Minuten. Eingeführt wurde die Sendung 2007, nachdem der Publikumsrat bei den Wahlen 2003 moniert hatte, man mache zu wenig Vertieftes aus dem Wahlbarometer. Die Länge der heutigen Sendungen ist gegenüber 2007 nochmals ausgebaut worden. Damit steigt auch die Möglichkeit, mehr Inhalte zu transportieren. Anders noch als 2007 kommen die Parteien in der Wahlbarometer-Sendung nicht zu Wort; die Reaktionen fielen damals zu stereotyp aus.

Konzipiert wird die neue Sendung, wenn unsere Bericht zur Befragung intern vorliegt. Die Auswahl der Themen, die Bestimmung der Grafiken und das Verfassen der Texte besorgt die SF-Redaktion. Ich bekomme den Text kurzfristig zu sehen, damit ich über den Ablauf informiert bin, aber möglichst spontan reagiere.Die Sendung selber wird aufgezeichnet, meist aber in einem Stück gedreht, allenfalls zweimal gemacht, wenn es Unebenheiten drin hatte. Die können von mir sein, vom Moderator stammen, aber auch von der Sprecherin im Hintergrund. Bei dieser Sendung patzen gleich alle drei beteiligten einmal, sodass sie ein Zusammenschnitt aus drei Anläufen ist.

Verfolgt wird das Ganze am Freitag Abend von rund 200’000 ZuschauerInnen. Der Marktanteil liegt meist knapp unter der 20 Prozent Limit. Das ist für eine Sendung zu Politik in diesem Umfeld gut, heisst es in den Gängen des Leutschenbachs. Immer wieder erstaunt bin ich über das Durchschnittsalter der ZuschauerInnen. Es liegt bei 58 Jahren, älter als ich bin. Die Jüngeren sind auf diesem Weg nicht zu erreichen. Nicht zuletzt deshalb wird der Clip auch auf Internet platziert. Da wird rege Gebrauch gemacht, natürlich nie in der gleichen Dimensionen wie man mit einer Sendung am Bildschirm erreicht.

MIt dem Zweikanalsystem für die Diffusion scheint mir auch eine Differenzerung der Kommunikation verbunden zu sein. Die Kommentare in der Internetforen sind nicht selten kritisch, sehr kritisch. Aktiv sind die SRG-Kritiker, die Umfrage-Gegner, und ein paar Bürger, denen die Ergebnisse nicht passen. Ganz anders sind die Reaktionen, die ich auf der Strasse erhalte. Meist werden sie durch ein zustimmendes Lächeln begleitet. Nur im äussersten Notfall begegnen mir das Gehässigkeiten.

Typisch für diese Art von Rückmeldung ist die Frau, die mich heute ansprach. Sie hatte am letzten Freitag ferngesehen. Ich solle weniger schnell reden, meinte sie. Ich nickte ihr zu, meinte aber, ich kann nicht wirklich langsamer. Die Prognosen würden sich auch immer wieder ändern, bemerkte sie. Da schüttelte ich den Kopf. Keine der Aussagen ist für sich eine Prognose, erst die Gesamtbilanz gibt am Schluss ein. Auf jeden Fall sei es interessant, nicht nur die Parteien zu hören, auch über sie etwas zu erfahren, schloss sie das Gespräch.
Gut so, antwortete ich ihr. Immerhin stehen Wahlen an.

Claude Longchamp

Erosion der politischen Beteiligung an lokaler und kantonaler Politik.

Warum die Wahlbeteiligung in kleinen Gemeinden – bei kommunalen Wahlen – sinkt und in Städten – nationalen Wahlen – steigt.

Als Student schrieb ich in den frühen 80er Jahren gerne über Lokalpolitik. Einer meiner Mentoren meinte damals: Da machen die Bürger noch mit. Denn sei verstehen, worum es geht, und sie kennen die Kandidaten, die sich zur Wahl stellen.

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Das gilt so einfach nicht mehr, wenn man sich die Ergebnisse der jüngsten Studie von Andreas Ladner ansieht, der die Daten zur kommunalen, kantonalen und nationalen Wahlbeteiligung von 1988 bis 2009 analysiert hat.

Zu den Fakten
In Gemeinden über 5000 EinwohnerInnen ist zwischenzeitlich die Wahlbeteiligung bei eidgenössischen Wahlen höher als bei kommunalen. Nur in Gemeinden unter 2000 ansässigen Personen geht man noch eher den Gemeinde- als den Nationalrat bestimmen.
Generell gilt, dass die Beteiligung als kommunalen Wahl gesunken ist. Zwar ist sie in kleineren Gemeinden immer noch grösser als in Städten. Der Rückgang innert einer Generation ist aber gerade dort mit mehr als 10 Prozentpunkten beträchtlich.

Steigende Mobilität und damit verbunden sinkene Ortsverbundenheit sieht Politologe Ladner als einer der Gründe für die Verlagerung an. Die Parteien beklagen Rekrutierungsprobleme, sodass Kampfwahlen zu Seltenheit werden. Das schwächt die Mobilisierungskraft von Wahlen. In den Städten ist das anders, wo die Konflikthaftigkeit der organisierten Politik angesichts steigender Probleme und leerer Kassen grösser geworden ist, was die durchschnittliche Wahlbeteiligung über die Zeit stabilisiert hat, – indes nicht überall das Sitzleder der Gewählten.

Bei nationalen Wahlen kommt das alles noch deutlicher zum Ausdruck. In den Städten geht heute wieder mehr als die Hälfte wählen, auf dem Land sind es weniger als 50 Prozent.

Zur Interpretation
Der Wandel hier angezeigte Wandel der politischen Mobilisierung überrascht nicht wirklich. Denn seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts dachten PolitikwissenschafterInnen im Gefolge von Ronald Inglehards Konzept der kognitiven Mobilisierung in vielen Ländern über die anstehenden Veränderungen nach.

Für die Schweiz kann man sagen: Die Unmittelbarkeit wirkte sich früher in geschlossenen Gemeinschaften vorteilhaft aus; in der Regel hat die grösste Partei der Region dafür profitiert. Zwischenzeitlich haben sich die hierfür wirksamen gesellschaftlichen Bindungen gelockert. Dafür kaum mehr etwas ohne medial vermittelte, politischen Mobilisierung, wobei Milieus durch Netzwerke, persönliche Bekanntschaft durch Medienbekanntheit der Kandidaten und lokal dominante Parteien durch Plattformen für politische Marketing ersetzt worden sind. Wer das nicht erkannt hat, klagt heute über einen generelle Bedeutungsverlust von Politik, während jene, die frühzeitig darauf reagiert haben wissen, dass vielmehr eine Transformation der politischen Partizipation stattfindet.

Zu den Konsequenzen
Das alles wirkt sich zwischenzeitlich auch auf Wahlen in der Schweiz aus: Die nationalen Wahlgänge profitieren strukturell von den Verlagerungen, die Städte auch. Die wahren Verlierer der Umlagerung sind aber nicht die Gemeinden und die kommunale Politik. Vielmehr sind es die Kantone. Denn in vielen von ihnen haben sich die lokalen Mobilisierungsfaktoren abgeschwächt, während die nationalen noch nicht greifen.

Das belegt auch die IDHEAP-Studie: Gab es 1988 noch kaum Unterschiede zwischen der nationalen und kantonalen Beteiligungshöhe, gilt dies heute nur noch für Gemeinden unter 1000 Ansässigen. In allen anderen ist die Beteiligung an kantonalen Wahlgängen zwischenzeitlich noch tiefer als an kommunalen, auf jeden Fall um Einiges geringer als an nationalen.

Oder knapp zusammengefasst in den Worten des Autors: “…, was die These einer Verlagerung des politischen Interessen und einer Nationalisierung der Politik unterstützt.”

Meinem verstorbenen Mentor in Sachen Politberichterstattung rufe ich nach: Auch ich schreibe kaum mehr über kommunale Politik, fast nur noch über nationale. Mittelbarkeit der Politik hat diese nicht einfacher, aber kontroverser gemacht. Das ist die Herausforderung der heutigen Demokratie, die sie lebendig erhält.

Claude Longchamp

Föderalismus in der Wahlrechtspraxis ist überholt.

Kantonale Gesetze und Praxen bei der Definition dessen, was ein gültiger Stimm- oder Wahlzettel ist, können die Ergebnisse von Wahlen und Abstimmungen beeinflussen.

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Seit Jahren erzähle ich es allen, die es hören wollen. Die Angaben zur Stimm- und Wahlbeteiligung in der Schweiz sind falsch. Hauptgrund: Das Auszählen ist kantonal geordnet, und die Regelungen lassen unterschiedliche Praxen zu.

Vor Jahren kam ich darauf. Ein Beispiel zum Stimmbeteiligung zeigte mir, wie trickreich die Sache sein kann. Bei nur einer Abstimmung ist alles ganz einfach. Die Zahl der gültigen Zettel entspricht der Zahl der gültig Stimmenden. Bei mehreren Abstimmungen kommt es aber darauf an, wie man vorgeht. Werden die Bulletins nicht getrennt, ist es wieder gleich wie bei einer Abstimmung. Die Probleme beginnen aber, wenn die Zettel getrennt werden. Denn von da an geben die gültigen Zettel keine genaue Auskunft mehr über die gültig Stimmenden. Hauptgrund: Man kann in einem Fall gültig, im anderen Fall ungültig votiert haben. Die Folge ist, dass die Zahl der (einmal) gültig Stimmenden grösser ist als die Zahl der gültigen Stimmen je Vorlage. Oder anders gesagt, die Stimmbeteiligung ist höher als höchste Vorlagenbeteiligung.

Spätestens seit den diesjährigen kantonalen Wahlen in Zürich kursieren via e-mails Hinweise, dass es weitere Probleme gibt. Denn die Zahl der ungültigen Wahlzettel nimmt zu. Dies nicht nur neuerdings oder einmalig, sondern seit den Wahlen von 1995, den ersten, bei denen man brieflich Stimmen konnte. Vermuteter Hauptgrund hier: Die Praxis des brieflichen Stimmens sei zu kompliziert. Denn zulässig sind nur die korrekt ausgefüllten Wahlzetteln, denen der persönlich unterschriebene Wahlrechtsauswahl beigelegt wurde. Das ist ein rechtlich nötiger Schutz, womöglich aber zu anspruchsvoll für die Masse der Wählenden. Die neuesten Schätzungen, die nicht mehr von 1, sondern 5 Prozent effektiver Ungültigkeit sprechen, sind ein deutlicher Hinweise darauf.

Die heutige Sonntagszeitung von heute nimmt das Thema, wie ich meine, zu Recht auf. Denn die Indizien sind Fachkreise schon länger bekannt und von Belang. Ein grösseres Forschungsprojekt hierzu ist angezeigt.

Für unangezeigt halte ich dagegen, die WählerInnen zu beschuldigen, wie es das Blatt heute macht. Vielmehr ist das Wahlrecht hinsichtlich der Gültigkeit zu wenig einheitlich und zu wenig klar formuliert ist. Hauptgrund hier: die föderalistischen Regelungen, welche den Kantonen zu grosse Interpretationsmöglichkeiten einräumen. Die Vereinheitlichung nicht nur der Wahlrechtsgrundsätze, auch die Wahlrechtspraxen vor Ort ist viel effektiver, als der Staatskunde neue Aufgaben aufzubürden.

Denn die BürgerInnen sind zuständig für politische Entscheidungen. Die Behörden wiederum müssen unzweideutig feststellen, was mitgeteilt wurde, was gültig ist und damit auch was zählt.

Das ist die unabdingbare Arbeitsteilung für das Funktionieren der Demokratie.

Claude Longchamp