Wobin treibt das Politsystem Schweiz?

Nächste Woche halte ich im thurgauischen Berlingen ein Referat an der Seniorenakademie zum Thema “Sachpolitik und der Kampf um WählerInnen-Anteile“. Hier schon mal die generelle These, auf der ich das Referat aufbauen werde.

Zwischen 1960 und 1990 wurde die Sachpolitik in der Schweiz durch das Konkordanzsystem gut geregelt und breit abgestützt, wobei der CVP die Schlüsselrolle zukam. Im Bundesrat konnte sie normalerweise mit der FDP koalieren, ausnahmesweise mit der SP; in den beiden Parlamentskammern ergaben sich einfache Mehrheiten namentlich mit der FDP, die fallweise durch Einbezug der SVP oder SP verstärkt werden mussten.

Das hat sich zwischenzeitlich gründlich geändert: 2003 verlor die CVP ihre zentrale Stellung im Bundesrat durch den Wechsels eines ihrer Sitze zuzr SVP. Im Bundesrat hätten seit 2003 nur FDP und SP zusammen die nummerische Macht, um Entscheidungen gegen den Willen anderer durchsetzen zu können; inhaltlich macht das aber nur in ausgewählten Themen Sinn; faktisch braucht es deshalb Bündnisse von drei Parteien, um in der Schweiz von regieren zu können. Diese varrieren sehr wohl, von Mitte/Links bis Mitte/Rechts. Das gilt auch für die Arbeit im Nationalrat, abgeschwächt selbst für die im Ständerat.

Meine These ist: Sachpolitik wird dadurch nicht verunmöglicht, aber verändert. Lösungen werden weder von CVP nicht FDP vorgespurt, sondern von den Polen her im Wettbewerb entwickelt, wobei es gilt, flexible Mehrheit zu finden, die im Parlament tragen, allenfalls in einer Volksabstimmung. Hierbei sind wir noch bei Weitem nicht am Ziel.

Immer mehr zeichnet sich eine Dreiteilung von Allianzen im Parlament und in Volksabstimmungen ab: eine linksliberale Tendenz, eine rechtsbürgerliche und eine Mitte-Position. Eine klare Dominanz der Mitte gibt es dann, wenn diese koordiniert auftritt; fällt sie auseinander, weil die Parteien der Mitte (CVP, BDP, GLP) bewusst keinen Block formiert haben und die FDP Vorbehalte hat, sich auf eine Zentrumsposition festlegen zu müssen. Das eröffnet der Sachpolitik bisher unbekannte Möglichkeiten, wobei die Polparteien den Ton angeben, die beiden neuen Parteien jedoch die Möglichkeit haben, bisher undenkbare Mehrheiten zu schaffen.

Indes, für die Politikformulierung sind nicht nur die Parteien zuständig, denn das Konkordanzsystem besteht nebst Regierung und Parlament auch aus den vermittelnden Kräften, insbesondere den Verbänden, und es wird durch die Medien gespiegelt, bisweilen auch verändert. Hinzu kommt ein Wiedererwachen der Bürgergesellschaft, beschränkt bei Wahlen, vor allem aber bei Volksabstimmung, die noch wenig gefestigt, aber in der Lage ist, vom Parlament abweichende Entscheidungen insbesondere bei umstrittenen Behördenvorlagen und oppositionellen Volksinitiativen zu fällen.

Damit wächst die Zahl der neuralgischen Themen, in denen Kompromissfindung erschwert ist. Angeführt wird die Liste durch ungelöste Migrations- und Umweltfragen, immer mehr finden sich aber auch weitere Bereiche wie Gesundheitspolitik, ja selbst auch Wirtschaftsfragen.

Politikwissenschaftliche Analysen der Polit-Systems Schweiz legen nahe, dass wir mit Föderalismus und direkter Demokratie unverändert wichtige Rahmenbedingen für ein Konkordanzsystem haben. Die Schweiz muss zwischen Sprachregionen, Stadt/Land-Gegenden, Links/Rechts-Gegensätzen und Wertekonflikten namentlich zwischen einer offenen und geschlossenen Schweiz immer wieder von Neuem integriert werden. Kantone und Volksabstimmungen sind dabei Anlässe, um diese Konflikte aufleben zu lassen, weshalb es darüber hinaus unveränderte Brückenbauer braucht.

Genau dies ist heute kompliziert geworden, weil der Unterbau der Konkordanz bröckelt:

. zuerst durch die Medialisierung der Politik, mit der eine Polarisierung der Sachthemen und eine Personalisierung der LösungsvertreterInnen Einzug gehalten hat;
. dann die Erneuerung des Parteiensystems, mit dem neue Konflikte wie das Verhältnis zur EU, aber auch die Verhinderung gesellschaftlichen Probleme angegangen werden;
. schliesslich ein Verbandssystem, dass die Willensbildung im Staat nicht mehr gleich stark bestimmen kann wie zu Zeiten des Korporatimus, weil es auf immer mehr pluralisierte Interessen Rücksichtnehmen muss.

Zur Debatte steht heute auch eine Reform des Bundesrates, dem wichtigsten Garanten für Sachpolitik in der Schweiz. Die institutionellen Kräfte scheinen nicht in der Lage zu sein, ein handlungsfähiges Regierungssystem zu schaffen, denn der grosse Wurf mit der Neuen Bundesverfassung ist gescheitert, und das Parlament hat jüngst die Staatsleitungsreform ganz beerdigt. So erstaunt es nicht, das radikale Reformvorschläge die öffentliche Arena erobern, namentlich die Volkswahl des Bundesrates. Diese könnte die Regierungsarbeit besser legitimieren, sie würde die hier aufgezeigte Tendenz jedoch nicht schwächen, sondern eher stärken.

Das dürfte die Sachpolitik angesichts des wachsenden Kampfes um Anteile in der Oeffentlichkeit und Prozentwerte der Parteien nicht erleichtern. Wichtiger erscheint mir deshalb, das “Modell Schweiz” mit seinen offensichtlichen Stärken unter den veränderten Bedingungen neu zu erfinden.

Claude Longchamp

Von den Mutbürgerschaft

Ich sag’s gleich vorneweg: Der Begriff „MutbürgerInnen“ stammt nicht von mir. Erfunden hat ihn Barbara Supp 2010 in der 42. Ausgabe des deutschen Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“. Reagiert hat sie damit auf Dirk Kurbjuweit, der eine Woche zuvor, an gleichen den Wutbürger aus der Taufe gehoben hatte. Beide Wortschöpfungen entstanden aus journalistischen Analyse der Demonstrationen gegen “Stuttgart21”; der Wutbürger aus Antipathie, die Mutbürger aus Sympathie.

Mich hat seit längerem beschäftigt, weshalb der eine Begriff in Deutschland und darüber hinaus Karriere machte, ja, selbst zum Wort des Jahres gekürt wurde, derweil der andere gerade in Deutschland, aber auch hier ausserhalb, in weitgehende Vergessenheit geriet.

Max Kaase, ein führender deutscher Politikwissenschafter, definierte politische Kultur als ein schwer fassbares Gemisch aus Einstellungen der BürgerInnen zum politischen System, seinen Leistungen, den Partizipationsangeboten und den Bildern, die man von sich von sich selber als BürgerIn macht. Genau um Letzteres geht es mir, denn ich vermute, dass aktive BürgerInnen in der obrigkeitsstaatlichen Politkultur Deutschlands negativ konnotiert sind, derweil die Schweiz mit ihrer direktdemokratischen Kultur des Politisierens geradezu von Aktiven ihre Legitimation bezieht und deshalb eher auf der Seite der MutbürgerInnen steht.

Zu ihnen soll man über eine Sachentscheidung hinaus Sorgen haben, und sie nicht leichtfertig verunglimpfen.

Natürlich kann kritisieren, dass die ausgebauten Beteiligungsmöglichkeiten in der Schweiz Rechte sind, deren simple Nutzung sprachlich nicht überhöht werden sollte. Realistisch betrachtet braucht es aber für den Widerspruch bei Abstimmungen eindeutig mehr Mut als für die Zustimmung zu vorherrschenden Meinungen. Genau das hat sich noch verschärft, seit das Schüren von Emotionen, insbesondere von Aengsten, zum gängigen Bestandteil von Wahl- und Abstimmungskampagnen geworden ist. Denn Furcht ist eine natürliche Reaktion auf Gefahr, die einem das richtige Handeln anzeigt, ohne dass man lange nachdenken muss.

Genau diese angeborene Logik des Alltagsverhaltens bei politischen Entscheidungen zu durchbrechen, brauch Mut. Es braucht ihn, um seine Meinung eigenständig zu entwickeln, zu behaupten und danach zu stimmen, wenn die Tenöre der Oeffentlichkeit rundherum das Gegenteil erzählen und mit negativen Konsequenzen drohen, sollte man bei der Stimmabgabe von ihnen abweichen. Denn das engt die Entscheidungsfreiheit ein. Diese ist nicht nur eine simple Forderung an die Demokratie, es ist auch der Ausdruck der gewünschten Orientierung der Politik, wenn die Institutionen dazu nicht mehr in der Lage sind.

Nun ist mir in vielen Analysen, die ich zu Volksabstimmungen gemacht habe, mit schöner Regelmässigkeit aufgefallen, dass es im Normalfall einfacher ist, gegen ein Volksbegehren Kampagne zu führen als dafür. Es ist einfacher, mit Abstimmungskämpfen gegen Volksinitiativen die Gegnerschaft zu verstärken als die Befürwortung aufzubauen. Und es ist einfacher, Unschlüssige von einem Nein als von einem Ja zu überzeugen.

Soziologisch gesprochen wirken entsprechende Kampagnen vor allem in unteren Bildungsschichten, die es meist mit der Angst zu tun bekommen, wenn sich die öffentliche Meinung entsprechend entwickelt, und bei RentnerInnen, die keine Experimente wollen und deshalb eine unsichere Zukunft ablehnen. Das Spannende an der Entscheidung zur Abzocker-Initiative ist, dass genau diese Phänomene nicht auftraten. Untere Bildungsschichten bewegten sich, je länger es ging, desto eher Richtung Zustimmung, derweil in den oberen genau das Gegenteil geschah. Und auch pensionierte BürgerInnen verschrieben sich mit dem Andauern der Kampagnen der Ja-Seite, während jüngere vermehrt ins Nein wechselten. Das Konträre zum Ueblichen ist denn auch das Kennzeichen der Entscheidung ausmacht, welche die Schweiz am Sonntag gefällt hat. Das war nicht einfach Routine, sondern bewusste Abweichung davon: bei Linken nicht überraschend, denn man kennt das bei fast allen sozialen und ökologischen Anliegen; bei Rechten schon, denn es gint nicht um Migrationsfragen, sondern um eine Angelegenheit der Schweizer Wirtschaft.

Nun habe ich mich an diesem Sonntag spontan an den Mutbürger, die Mutbürgerin aus dem „Spiegel“ erinnert, um mit einem Wortspiel auf eine Journalistenfrage zu antworten, denn die zitierte den zwischenzeitlich weit gereisten Wutbürger, während sich der Mutbürger verkümmert in einer Ecke verzogen hatte.

Meines Erachtens verkennt man über die Entscheidung zur Abzocker-Initiative hinaus die aktuelle Situation, wenn man die Pöbelherrschaft, gemeinhin die schreckliche Form der Herrschaft der Vielen heraufbeschwört, um die unliebsame Volksentscheidung zu diskreditieren. Das Spezielle an der jüngsten Volksabstimmung ist – ähnlich wie bei der Verwahrung von Sexual- und Gewaltstraftätern, der Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern, dem Bauverbot für Minarette und der Ausschaffung krimineller AusländerInnen, aber auch der Forderung nach Lebensmittel aus gentechfreier Landwirtschaft resp. dem Stopp des Zweitwohnungsbaus –, dass eine Mehrheit der Aktiven so gestimmt hat, wie sie es für sich selber für richtig hält, und nicht wie die Behörden an ihrer Stelle entschieden hätten. Hauptgrund in meiner Analyse ist die erhebliche Diskrepanz zwischen erlebtem Alltag einerseits, politischen Vorentscheidungen in Regierung und Parlament anderseits. Als Folge davon kann man schweigen und der Abstimmung fern bleiben, was letztlich mutlos ist. Man kann sich anpassen und hoffen, alles werde irgendwann wieder besser, was auch nicht viel Mut braucht – oder man kann sein Mut sammeln und Behörden, wichtigen Verbänden und der Mehrheit der Parteien widersprechen.

Das alleine ist kein Garant für gute Entscheidungen in der direkten Demokratie – das will ich hier ausdrücklich sagen. Die Demokratie lebt davon, das BürgerInnen ihre Stimme abgeben, um das System mit Leben zu erfüllen. Das ist der Fall, wenn sie bewusst zustimmen, aber auch, wenn sie bewusst ablehnen. Das gehäufte Auftreten solch negativer Volksentscheidungen wie in den letzten 10 Jahren via 9 Volksinitiativen, verbunden mit der massiven Ausprägung der Zustimmung am letzten Sonntag, sollte aber Anlass sein, über das Wiedererwachen der Bürgergesellschaft ausserhalb von Institutionen, behördlicher Willensbildung, interessenbezogenen Stellungnahmen und parteiischen Urteilen vertieft nachzudenken, und mit ersten Schritten aufeinander zuzugehen.

Denn vielleicht ist genau das der tiefere Grund, der zu unangenehmen BürgerInnen-Entscheidung führt: dass man hie und da Probleme zu lange negiert; dass man, wenn das nicht mehr funktioniert, nur sehr zögerlich und harzig Lösungen entwickelt, und dass man BürgerInnen, die sich getrauen, einen anderen Standpunkt zu haben, schnell mal diskreditiert. Zur Mutbürgerschaft aller DemorkatInnen gehört, nach einer Entscheidung zu sagen, ich habe mich getäuscht, und ich bemühe mich mitzuhelfen, das Problem zu beseitigen resp. ich hatte Recht, brauche aber euren Widerspruch, um klar zu sehen.

Claude Longchamp

SP und GLP politisieren bei Volksabstimmungen neuerdings am nächsten bei den Stimmenden

15 eidgenössische Volksabstimmungen gab es seit den Parlamentswahlen 2011. SP und GLP fanden für ihre hierzu bestimmten Positionen am meisten Gehör. Mehrheitlich verloren hat dagegen die SVP. Hauptgrund für die Verlagerung der Abstimmungsentscheidungen Richtung Mitte/Links sind die beiden angenommenen Volksinitiativen 2012 und 2013.

Ich weiss, man kan in dieser Sache verschiedene Ansichten haben. Parteien können von sich und ihren Programmen so überzeugt sein, dass sie keinen Milimeter davon abweichen, selbst wenn sie so in Volksabstimmungen regelmässig verlieren. Sie können umgekehrt das Ziel verfolgen, immer zu den Siegern gehören zu wollen, mit dem Risiko, kein erkennbares Profil im politischen Spektrum zu haben. Mein Eindruck ist, dass es bei der Parolenfassung zu Schweizer Volksabstimmungen unter den politischen Parteien beides gibt, aber nur beschränkt. Keine politische Partei ist rein opportunistisch, keine rein fundamentalistisch. Entsprechend gibt es keine, die immer gewinnt oder immer verliert.

Das war auch gestern so: Ein makelloses Abstimmungsblatt trug niemand nach Hause. Zweimal in der Mehrheit waren SP und GPS mit ihrem Ja zur Abzocker-Initiative und zum Raumplanungsgesetz. Beim diesem waren auch GLP, CVP und BDP auf der “guten Seite”, während SVP und FDP das Nein zum Familienartikel vorgezeichnet hatten.


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Dass linke Parteien zwischenzeitlich näher bei Volksentscheidungen politisieren als die Mitte, hat mit zwei Veränderungen zu tun: Einmal gewinnt das Zentrum bei Behördenvorlagen nicht mehr automatisch, was ihre Bilanz schwächt, während die Linke von den angenommenen Initiativen zu gegen den Zweitwohnungsbau und “Gegen die Abzockerei” profitieren konnte.

Die aktualisierte Bilanz lautet: SP und GLP bekamen in den letzten 15 Abstimmungen 11 Mal Support für ihre Parolen, bei der GPS war es 10 Mal der Fall. Es folgt die CVP und BDP mit je 9 Mehrheits-Uebereinistimmungen, während dies bei der FDP 8, bei der SVP 6 Mal der Fall war.

Die Analyse muss allerdings zweigeteilt erfolgen, separiert nach Behördenvorlagen und Volksinitiativen.


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In Referendumssituationen ist die CVP die treueste Regierungspartei. Sie positionierte sich in Abstimmungskämpfen stets gleich mit Bundesrat und Parlament. Beschränkte Zahl an Abweichungen gibt es Mitte/Links und bei der BDP, erheblich ist dies aber im rechtsbürgerlichen Lager: Die SVP scherte 6 Mal aus, die FDP 4 Mal. Die Rechte hatte damit unterschiedlichen Erfolg: Gemeinsam trug man zum Nein einer Behördenvorlagen bei der Buchpreisbindung und beim Familienartikel (indes nur wegen des Ständemehrs) bei; bei der Jugendmusigkeitvorlag und der Raumplanung scheiterte das Duo aber. Ungleicher Meinung war man bei der Managed Care Vorlage, wo sich die SVP mit der opponierenden Mehrheit platzierte, derweil die FDP die Behördenposition erfolglos verteidigte. Das Parlament selber unterlag in drei der sieben Volksabstimmungen – eine bemerkenswert magere Bilanz. Häufiger mit der stimmenden Mehrheit positionierten sich die SP, GLP und BDP, die je fünf Mal obsiegten, während alle anderen Parteien in vier Fällen mit der Mehrheit der Stimmenden obsiegten.


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In der laufenden Legislatur wurde über je 4 Volksinitiativem mit rechtem und linkem Unterstützungsprofil abgestimmt. Alle vier “rechten” Volksbegehren scheiterten, zwei der vier “linken” kamen durch, was ein eigentliches Novum ist. Das platziert SP und GPS an der Spitze der Parteien, gleichauf mit der GLP, die bei zwei linken Vorhaben die Nein-Parole herausgab und deshalb ebenfalls sechs Mal in der Mehrheit war. Hier ist die Bilanz der SVP auffällig negativ. Den bei zwei “linken” Abstimmungen war sie in der Minderheit, und auch bei allen “rechten” Vorlagen, denn sie befürwortete diese einhellig. Dazwischen positionieren sich hier die CVP, FDP und BDP, bei denen Siege und Niederlagen gemischt sind.

Das alles lässt den Schluss zu: Die durchschnittliche Volksentscheidung entspricht heute einer Mitte/Links-Position in der parteipolitischen Landschaft. Der neue mainstream ist linksliberal, konkurrenziert wird er durch eine rechtsbürgerliche Oppositon. Von der “neuen Mitte”, die auch ich vor zwei Jahren erwartet hatte, ist angesichts der geringen Koordination von CVP, GLP und BDP nicht mehr viel übrig, was sich auch in der relativen Schwäche der Behörden in gegenwärtigen Volksabstimmungen ausdrückt.

Claude Longchamp

Die 20. Volksinitiative, die angenommen wurde – ein Kommentar zu den möglichen Gründen

Es brauchte gut 100 Jahre, bis die ersten 10 Volksinitiativen Verfassungsrealität wurden. Die nächsten 10 Zustimmungen kamen in weniger als 20 Jahren zusammen. Das ist eine bemerkenswerte, fast schon exponentielle Beschleunigung der Erfolge von Volksinitiativen. Eine Spurensuche der Ursachen.

Das Initiativerecht des Volkes wurde in der Schweiz 1891 eingeführt, um die Bundesverfassung nicht nur von oben bestimmen, sondern von unten ändern zu können. Seither sind sehr viele Volksinitiativen gescheitert, aber auch 20 mit Volks- und Ständemehr angenommen geworden. Eine Spurensuche der Erfolgsursachen.

Zwei institutionelle Reformen standen bisher auf dem Podium der populärsten Volksinitiativen, und ein Geschenk, dass sich die SchweizerInnen selber machten. Konkret: Der arbeitsfreie Bundesfeiertag am 1. August kam 1993 mit mehr als 84 Prozent Zustimmung durch. Aehnlich erfolgreich waren die Erweiterung des Referendumsrechts auf Staatsverträge (71 Prozent 1921) und die Einführung des Proporzwahlrechts für den Nationalrat (67 Prozent 1918).

Neu hat die Abzocker-Initiative von Ständerat Thomas Minder den dritten Rang inne, denn 67,9 Prozent stimmten seinem Vorstoss für die Stärkung der Aktionärsdemokratie heute zu. Die Frage sei erlaubt: Leben wir in einer Krisensituation, wie am Ende des 1. Weltkrieges?

Zum Glück erleben wir heute keinen Abend eines verheerenden Weltkriegs. Aber wir sind mitten in einer turbulenten Umbruchszeit von geschlossenen Nationalstaaten und global ausgerichteten Gesellschaften, die Verdruss erzeugt, was dabei alles passiert, und Unsicherheit weckt, wie es mit der Schweiz weiter gehen.

Das Ja zur Verwahrungsinitiative für Sexual- und Gewaltverbrecher (2004), zur Unverjährbarkeitsinitiative für pornografische Straftaten (2006) sprechen für ungelöste Probleme in den genannten Umständen. Sie haben das Klima entstehen lassen, in denen die BürgerInnen ein Zeichen setzen wollen, wie beim Ja zur gentechfreien Landwirtschaft (2006), zum Bauverbot für Minarette (2009), zur Ausschaffung krimineller AusländerInnen (2010) und zur Limitierung des Zweitwohnungsbaus (2010).

Drei Gemeinsamkeiten haben diese Erfolgsbeispiele für Volksinitiative in der Gegenwart: Genauso wie die Abzocker-Initiative griffen sie eine weit verbreitetes Bevölkerungsproblem auf, dem sie mit dem Volksrecht Einhalt gebieten wollen. Egal, wer die Trägerschaft ist, sie alle fanden partei- und lagerüberfreifend Zustimmung, weil die Behörden das Problem verkannten oder ungenügend regelten. Und, sie alle sprachen die BürgerInnen direkt an, nicht vermittelt über Verbände oder Parteien, die im Parlament gut vertreten oder verankert sind. Heute machen mit den Möglichkeiten der Volksinitiative BürgerInnen für BürgerInnen Politik.

Die Behörden tun gut daran, ihre Ohren neu auszurichten, wenn sie Volksinitiativen beurteilen. Denn sie haben das vormals treffliche Augenmass verloren, was Minder- und was Mehrheitsanliegen sind. Auch in der Mittelwahl gegen erfolgversprechende Initiative gibt es kein Rezept mehr: Weder indirekte, noch direkte Gegenvorschläge sind eine sichere Waffe, um Mehrheiten zu spalten. Und auch die Kampagnenkommunikation mit BundesrätInnen an der Spitze, Verbänden und Parteien im Rücken tragen nicht mehr im gewohnten Masse, wie die Gegner der Abzocker-Initiative rund um economiesuisse heute exemplarisch erfahren musste.

Die Initiatenten haben eine gute Weile experimentiert; heute treten sie mit bunten Rezepten auf, wenn sie ihre Anliegen vortragen: Die einen setzen ganz aufs ungelöste Thema, die anderen vermitteln mit starken Fahnenträgern. Sie leichtfertig zu negieren oder politisch zu diskreditieren, hat sich als fatal erwiesen. Denn wenn die Sache gravieren genug ist, prallt die personalisierte Kritik ganz einfach ab. Mehr noch, die neuen PolitikerInnen aus dem Volk avancieren zu den massgeblichen Kampagnekommunikatoren.

Bisher kamen bei Volk und Ständen vor allem Volksinitiativen durch, die Ueberfremdungsgefühle ansprechen konnten. Hinzufügen musste man jüngst auch ökologische Anliegen. Und seit heute können sogar wirtschaftspolitische Forderungen mit mehrheitlichem Sukkurs aus dem Volk rechnen. Das ist nicht nur eine Erweiterung der Problempalette. Es hat mit ökonomischen Fragen eine Schwelle erreicht, von der man bisher glaubte, sie sei in der Schweiz sakrosankt.

Der heutige Sonntag lehrt, dass es in den bewegten Zeiten der Gegenwart keine Tabus mehr gibt. Die Konkordanzdemokratie, fein austariert zwischen Behörden, Verbänden und Parteien, ist mächtig in Bewegung geraten. Sie wird getrieben von BürgerInnen, welche verdrängte Themen aufgreifen, ihre Lösungen mit Volksinitiativen geschickt umsetzen und von einer Mehrheit anderer BürgerInnen dafür belohnt werden, dass sie Orientierungen anbieten, wie sich die Schweiz von Problemen befreien kann, um sich selber neu zu orientieren, wenn die Politik versagt.

Claude Longchamp

Schicksalswahlen werden nicht in 90 TV-Minuten entschieden

Die Prognosen zu den amerikanischen Präsidentschaftswahlen waren treffsicher, und zwar kurz- und mittelfristig. Meine erste Auslegeordnung Gründen, welche die Wiederwahl Obamas ermöglichten.


Obama mit Familie, unmittelbar vor seiner bewegenden Rede zur Wiederwahl als US-Präsident

Noch wissen wir das genaue Endergebnis der US-Präsidentschaftswahlen nicht. Denn es fehlt das Resultat aus Florida. Dennoch: Barack Obama ist mit Sicherheit wiedergewählt worden. Das vorläufige Resultat für die Verteilung der Elektoren lautet: 303:206 für den Amtsinhaber (bei 29 offenen Karten); bei den Stimmen führt den Präsident mit 50 zu 49 Prozent.

Der Ausgang bei den WählerInnen mag knapp erscheinen. Er entspricht aber genau dem prognostizierten Wert. Die verschiedenen Aggregatoren von Umfragen legten ein 50,6 zu 49,4 nahe. Die Mittelwerte aus den Umfrageserien haben sich, wie Kolumnist Ezra Klein von der WashintonPost vor der Wahl schrieb, als zuverlässig erwiesen. Denn die grosse Zahl an Erhebungen führt zu einem mainstream in den Umfragen, der sich nicht irrt. Das ist nach 2004 und 2008 zum dritten Mal die Lehre der weiterentwickelten Anwendung von Demoskopie vor US-Wahlen.

Das alles darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass gerade die Focussierung auf nationale Befragungen auch Grenzen in der Anwendung hat: Denn die US-Präsidentschaftswahl wird nicht mit dem Stimmen der WählerInnen entschieden, sondern mit dejenigen der ElektorInnen. Und die werden je Bundesstaat bestimmt. Deshalb kommt man in den USA nicht um die Umrechnung von Wähler- und Elektorenstimmen herum. Da zeigten die genialen Analysen der herausragenden Wahlstatistiker Nate Silver, dass auch ein “tie” in der nationalen Wählerstärke zu einem Sieg des demokratischen Bewerbers führen. Selbst wenn er leicht weniger Stimmen gemacht hätte als der Republikaner, er hätte die Präsidentschaftswahl gewinnen können.

Sicher, die Wahlchancen Obamas haben sich in den ersten 10 Tagen nach der “DenverDebate”, den negativen Umfragewerten und den verheerenden Analysen verringert. Doch fiel der Präsident allen Dramatisierung zum Trotz bei den Elektorenstimmen nie hinter seinen Bewerber zurück. Denn verschiedene der zuverlässigsten Umrechnungstools legten anhaltend einen Vorsprung Obamas nahe, und einen voraussichtlichen Wert der immer über den nötigen 270 Stimmen lag.

Der Blick auf die Wackelstaaten bei US-Wahlen ist durchaus richtig. Allerdings ist er nur dann wirklich von Belang, wenn die Situation effektiv offen ist. Wenn das nicht oder nur scheinbar der Fall ist, kann die Fixierung auch täuschen. Denn man kann die Zahl der offenen Ausgänge in den Bundesstaaten soweit erhöhen, bis alles unsicher wird. Genau diesem Effekt sind Sender wie FOX, Analytiker wie Karl Rove und mit ihnen die Republikaner erlegen, gingen sie doch bis am Wahltag von einer unbestimmten Situation aus.

Nun zeigen die exit polls, dass Obamas GegnerInnen etwas richtig gesehen, in der Bedeutung aber zweckgeleitet weit überschätzt haben. Präsident Obama verlor gegenüber 2008 bei fast allen Bevölkerungsgruppen an Stimmen; aus dem Held von damals, der massiv Neuwählende und Wechselwählende in Scharen zu mobilisieren wusste, ist der Macher von heute geworden, dem der Erfolg nicht in den Schoss gelegt wird, der aber für diesen kämpft. Das polarisiert die Gesellschaft weniger in einzelne Gesellschaftsgruppen, sondern entlang eines Gefühls: Wer an die Zukunft der USA glaubt, welche Obama vorgezeichnet hatte, der wählte ihn vermehrt. Wer enttäuscht wurde, wandte sich ab. Die Bilanz ist dabei ausgeglichener als man zu meinen glaubte. Denn die letzten vuer Jahre brachten nicht nur das Budget ausser Rand und Band; mit ihnen gab es auch lang ersehnte soziale Reformen der amerikanischen Gesellschaft.

Alan Lichtman, Historiker und einer der erfahrenen Wahlanalytiker der USA, sollte 2012 zum siebten Mal in Folge Recht bekommen, wie man US-Präsidentschaftswahlen analysiert. Gemäss seiner Einschätzung der Schicksalswahl, mehr als ein Jahr vor dem Rummel der Kampagnen geschrieben und nur einmal nachgebessert, hatten die Demokraten und der Präsident aus ihren Reihen nur drei Schwächen: Zuerst, sie verloren die Wahlen mitten in der Legislatur; sodann hatte der Präsident mit seinem überwältigendem Wahlsieg 2008 zu hohe Erwartungen geweckt; schliesslich erwies sich die Erholung der Wirtschaft als schwierigen, als man sich das vorgestellt hatte.

Das alles durfte aber nicht über die Stärken der Präsidentschaft Obamas hinwegtäuschen. Zu diesen zählte Lichtman die Gesundheitsreform, aber auch den militärischen Sieg über al-Kaida. Obama setzte sich auf für Ende von Kriegen ein, die sein Vorgänger angezettelt hatte. Wichtiger noch in der heutigen Mediendemokratie: Der Präsident überstand die ersten vier Jahre ohne nennenswerten Skandal. Die Unruhe, welche die TeaParty aufbrachte, erreichte mehr die republikanischen Medien, als dass es ein breiter sozialer Protest gewesen wäre. Das alles hat es nicht erlaubt, dass eine neue Partei entstanden oder Obama innerhalb der Demokraten ernsthaft umstritten geworden wäre. Und nicht zuletzt: Die Personalentscheidung der Republilkaner war nicht zu beneiden; schliesslich favorisierte man Mitt Romney als besten der wenig Geeigneten, ohne damit einen neuen Helden gefunden zu haben, der die Wende hätte bewerkstelligen können.

Wahlen sind, lehrt uns gerade die amerikanische Wahlforschung, das Ergebnis aus verschiedenen Zeiterfahrungen: Zu guter Letzt konzentrierte man sich aus verschiedenen Gründen viel zu fest auf die kurzfristigen Effekte rund um die TV-Debatte. Die Leistungen der Obama-Administration erschienen sich in 90 schwachen Minuten des Präsidenten ganz aufgelöst zu haben. Doch das war bei den WählerInnen nicht nicht der Fall, denn der Wandel der amerikanischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert sprach für das neue Projekt des Amtsinhabers und die Erfahrungen mit Präsident Bush gegen einen raschen Wechsel der eingeleiteten Politik.

Claude Longchamp

Final Polls and Projections: Was Messungen, Berechnungen und Modelle für den Ausgang der US-Wahlen erwarten

Noch ist in den USA nicht Wahltag, und Umfragen sind bis zum Schluss möglich. Dennoch, die meisten Prognosetools haben ihre letzten Erhebungen und Projektionen gemacht. Hier eine Uebersicht!

Die Zahl der Hochrechnungen zum Elecotral College hat sich auf 14 erweitert. Berücksichtigt habe ich dabei nur noch die, die eine Tage vor der Wahl eine Aussage zum Sieger machen. Konkret: 12 Instrumente geben Präsident Barack Obama als Sieger, 2 Herausforderer Mitt Romney.

Tabelle: Uebersicht über die letzten, aufgrund von Umfragen hochgerechneten Elektorenstimmen für Obama und Romney

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Eindeutige Verhältnisse erwarten die Politikwissenschafter Josh Putnam, Drew Linzer, die Statistiker Nate Silver und Sam Wang, der Analytiker Scott Eliott sowie die Plattformen RealClearPolitics und AmericanProspect. Sie alle geben Obama mindestens 303 Elektorenstimmen, Romney maximal 235. Einen knapperen Ausgang erwarten namentlich Ezra Klein, Kolumnist der WashingtonPost, Politologe Larry Sabato, und die Wahlforscher JayDeSart/Thomas Halbrook. Bei ihnen reichte es dem Demokraten für 281 bis 294 Stimmen, dem Republikaner für 244 bis 257.

Nicht ganz festlegen lassen sich ElectoralVote und TalkingPointMemo, da sie die umstrittensten Bundesstaaten nicht klassieren. Bei ElectoralVote sind die North Carolina und Colorado, bei TPM ebenfalls North Carolina, erweitert um Virgina und Florida. Trotzdem sehen sie Obama über 270 Stimmen und damit als Sieger. Das ist beispielsweise bei der WashingtonPost anders, die auch einen Tag vor der Wahl nicht sagt, wer gewinnt.

Den eigentichen Gegenpool unter den Prognostikern bilden Karl Rove und die Plattform UnskewedPolls. Nach ihnen heisst der Wahlsieger Mitt Romney, denn er weiss gemäss diesen Hochrechnungen mindestens 285 Elektoren hinter sich. Die obengenannte Wackelstaaten sieht er alle zugunsten des Republikaners stimmen, hinzu kommen Ohio, Iowa und New Hampshire; bei UnskewedPolls kommen weitere hinzu.

Der hauptsächliche Grund für die verschiedenartigen Einschätzungen betrifft die verwendeten Umfragen. Die beiden letztgenannten Prognostiker bauen stark auf RasmussenReport und Gallup, die Wahlergebnisse recht entfernt vom mainstream der verschiedenen PollingFirmen nahelegen.

Die meisten Analytiker arbeiten deshalb nicht einzelnen Umfrageserien, sondern mit Mittelwerten über viele oder alle Umfragen. Prozentuiert auf die beiden Kontrahenten, sind die Werte nahe beisammen:

. RealClearPolitics: 50,4:49,6 (für Obama)
. Pollster: 50,5:49,5
. TalkingPointMemo: 50,5:49,5
. ElectionProjection: 50,6:49,4
. FiveThirtyEight: 51,0:49,0
. ElectionConsortiumProjection: 51,2:48,8

Kontrolliert werden solche Umfragemittelwerte zudem durch nicht-demoskopische Tools. Zu denen zählen Wahlbörsen, Modellrechnungen und Expertenurteile. Auch die legen zwischenzeitlich den gleichen Wahlausgang nahe:

. Wahlbörsen (IEM) 51,0:49,0
. Oekonomische Modelle 50,3:49,7 (mit einer grössere Varianz im Einzelbeispiel allerdings)
. (anonyme) Expertenschätzungen: 50,5:49,5.
. IndexModelle (zu Themen und Personen): 52,7:47,3

PollyVote, einen unabhängige Plattform auf Internet, wo das alles zusammengefasst wird, hat einen Tage vor der Wahlverkündet: “Polly’s final forecast: Obama 51.0% v. Romney 49.0%

Claude Longchamp

Von Wähler- zu Elektorenstimmen: Was sie die 13 Umrechnungs-Tools sagen

Zwischenzeitlich gibt es 13 Uebersichten zu den erwarteten Verteilungen der Elektorenstimmen bei den US-Präsidentschaftswahlen. In 42 Bundesstaaten (incl. Washington DC) sind sich alle Analytiker einig; in 10 gehen die Einschätzungen auseinander. Eine Auslegeordnung zu den Tools und ihren Ergebnissen!

Tabelle:
Uebersicht über hochgerechnete Mehrheit in den Swing-States nach Tools


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Ein Grund für die unterschiedlichen Bewertungen liegt in den angewandten Berechnungsverfahren. Ein zweiter könnte von den politischen Orientierungen einiger Analytiker abhängen; ein dritter hat eher mit medialen Interesse zu tun. Medien lassen gerne mehr offen, um Spannung zu erzeugen; und von einigen Prognostikern weiss man, dass sie für die eine oder andere Seite arbeiten. Immerhin, auch Politikwissenschafter haben sich unter die Rechner der Nation begeben, und leisten ihren Beitrag zur Umrechnung von Wähler- in Elektorenstimmen.

Karl Rove, der frühere Berater des republikanischen Präsidenten George W. Bush, ist das eine Extrem. Er lässt das Ergebnis in 9 der 10 diskutierten Bundesstaaten offen – mit dem Effekt, dass weder Obama noch Romney den Wahlsieg auf sicher. Aehnlich verfährt die Washington Post (WaPo), die sich in 7 der kontrovers beurteilten Staaten nicht festlegt, und ebenfalls von einem noch unentschiedenen Ausgang spricht. Aus dieser Warte hat der Republikaner 206 Stimmen auf sicher, während der Demokrat auf 221 resp. 243 kommt. Für die Wahl sind 270 nötig.

Das andere Extrem findet sich bei Drew Linzer und Josh Putnam, zwei ausgewiesenen Professoren für Politikwissenschaft. Obwohl verschieden arbeitend, haben sie alle Bundesstaaten eingeordnet. Und zwar genau gleich. Beide kommen auf 332 Stimmen für Obama und 206 für Romney. Der bisherige Präsident würde wiedergewählt.

Die 9 anderen Uebersichten befinden sich zwischen diesen beiden Polen – mit einer grossen Gemeinsamkeit: Keine einzige sieht aufgrund der Elektorenstimmen Mitt Romney als Wahlsieger, alle favorisieren Barack Obama!

Konkret handelt es sich um die Analyen:

. des Statistikers Sam Wang vom “ElectionConsortium” der Uni Princeton (ECP)
. des Statistikers Nate Silver, der für die New York Times unter “538” bloggt
. der Internet-Plattform “Real Clear Politics” (RCP)
. des Analytikers Scott Eliott, Leiter des eher konservativen “ElectionProjection” (EP)
. der Spezialwebsite “270towin
. der Politkwissenschafter Jay DeSart und Thomas Holbrook
. der Internet-Plattform “Talking Points Memo” (TPM)
. der Spezialwebsite “ElectoralVote” (EV)
und
. eZeitung “HuffingtonPost” (HuffPost)

Gemäss diesen Analysen sind Michigan, Nevada, Wisconsin, Iowa und Ohio nicht wirklich umstritten. Sie werden alle dem Präsidentenlager zugeordnet. Kontrovers diskutiert werden noch 5 Bundesstaaten:

. North Carolina,
. Florida und
. Virgina

verortet man mehr oder weniger beim Republikaner,

. Colorado und
. New Hampshire

eher beim Demokraten.

Das führt zu 277 bis 319 Elektorenstimmen für Obama und zu 191 bis 257 für Romney. Oder anders gesagt, alle geben Obama mehr oder minder deutlich den Wahlsieg. Die knappesten Ergebnisse entstehen unter anderem auch deshalb, weil einige der Tools Stimmen in Bundesstaaten mit ganz knappen Aussichten nicht vergeben.

Die Bilanz ist damit viel klarer als bei nationalen Umfragen. Selbst wenn dieses nur leichte Vorteile für Obama zeigen, vergrössert sich sein Vorsprung auf der entscheidenden Elektorenebene nicht unwesentlich.
Theoretisch kann man die Wahl auch mit einer Minderheit von Stimmen aus der Bevölkerung gewinnen, wie das die erste Wahl von Bush im Jahre 2000 zeigte. Seither haben die Amerikaner hinzu gelernt. Sie schauen genauer, auf das, was in den Bundesstaaten geschieht und addieren deren Elektorenstimmen.

Claude Longchamp

“ElectoralVote”: Präsident Obama führte die Wahl bei den Elektorenstimmen stets an

Zu den in der Schweiz vernachlässigten Tools zu den US-Wahlen zählt ElectoralVote. Zu Unrecht, meine ich. Denn die relevante Information, die Verteilung der Stimmen im Electoral College, findet sich hier vorteilhaft zusammengestellt.

Anders als die meisten Uebersichten, verfolgt man bei www.electoral-vote.com nicht die bundesweiten Umfragen, sondern die in den Gliedstaaten. Der Grund ist einfach: Aller Aufmerksamkeit für das Ergebnis der Erhebungen in den Vereinigten Staaten zum Trotz entscheiden die US-Bundesstaaten einzeln, vom wem sie gesamthaft regiert werden. Die Volksmehrheit nützt da nichts, wenn man keine Mehrheit der Elektoren hinter sich weiss.


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Seit 2004 leistet ElectoralVote einen bemerkenswerten Beitrag zur Uebersicht amerikanischer Wahlen, und ist dafür mehrfach ausgezeichnet worden: Die Umfragen in jedem Staat werden laufend dokumentiert; darauf aufbauend wird das Verhältnis an Stimmen im Electoral College täglich neu hochgerechnet. Geleistet wird dies auf zwei Arten: Zuerst aufgrund der Staaten, in denen die Entscheidung sicher ist. Ergebnis: Barack Obama führt mit 237 Stimmen, gegenüber 191 Stimmen für Mitt Romney. Um Präsident zu werden, braucht es jedoch 270 Elektorenstimmen. Damit ist man bei der zweiten Addition von ElecotralVote, die jeden Bundesstaat dem einen oder anderen Kandidaten zuordnet, auch wenn die Umfragen knapp ausfallen. Ergebnis jetzt: 281 zu 206 für den bisherigen Präsidenten, der damit wiedergewählt würde.


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Das Resultat am Wahltag wird mit Sicherheit noch etwas anders ausfallen: Denn Virgina, Florida und Colorado weisen ein “tie” auf; beide Kandidaten sind in den Umfragen gleichauf. Doch selbst wenn der Republikaner Romney all diese drei Staaten für sich entscheiden und die 51 Stimmen machen sollte, verfehlt er den Wahlsieg.

Der Zeitstrahl von ElectoralVote belegt zudem, dass Obama nicht erst seit dem Wirbelsturm “Sandy” führt. Diesen Eindruck vermitteln nur die bundesweiten Umfragen. Die hier vorgestellte Methode gab zu jedem Zeitpunkt einen Vorsprung für Obama. Ausser ein paar Tage im Juni reichte es auch stets für die 270 nötigen Stimmen.




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Folgt man ElectoralVote, sind nur Florida, Colorado und Virgina noch ganz offen. Knapp ist der Vorsprung von Romney namentlich in North Carolina, der von Obama in New Hampshire, Nevada und Ohio, allenfalls auch in Iowa und Wisconsin.

Selbstverständlich hängt auch diese Uebersicht von den Umfragen und deren Bewertung ab. ElectoralVote neigt keinem Kandidaten zu, ist aber vorsichtig. Doch drückt sie sich nicht um eine Aussage, wie das andere machen, die so viele Bundesstaaten als offen taxieren, bis niemand mehr eine Mehrheit hat.

Zwei weitere Uebersichten gehen einen vergleichbaren Weg mit ElectoralVote: Die eher Obama-skeptische Plattform “RealClearPolitics” gibt ihm mit wahrscheinlichen 290:248 gute Wahlchancen (64% Wahrscheinlichkeit), und die New York Times, zu Obama neigend, schreibt ihm gar 307 der 538 Elektoren zu – und nennt eine Wahrscheinlichkeit von über 85%, dass der neue mit dem alten Präsidenten identisch ist.

Claude Longchamp

USWahl12: Fifty-fifty, mit leichtem Plus für …

“Tie” nennen die Amerikaner eine unentschiedene Wahl. Das legt ein Rundgang durch die diversen Prognosen eine Woche vor der Präsidenten-Wahl für die anstehende Entscheidung nahe. Einzelne Instrumente geben ein Plus für … Obama oder Romney!


Unklar, welche Nase vorne ist: Elektorenstimmen knapp für Obama, Volksmehrheit knapp für Romney, so die Bilanz eine Woche vor der Wahl

3 Wochen vor den US-Präsidentschaftswahlen 2012 machte die Fachzeitschrift „PS“ (Political Science&Politics) tabula rasa. Präsentiert wurden 13 Wahlprognosen, alle 299 bis 57 Tage vor der Wahl erstellt. Ihre Gemeinsamkeit: einfache Erklärungen der Wahl mit Faktoren wie Wirtschaftslage oder Popularität des Präsidenten. Ihr Unterschied: 6 geben Obama als Sieger, 5 Romney; bei zweien ist der Abstand für eine eindeutige Aussage zu gering. Das bekanntere Instrument mit den Halbe-Halbe-Ergebnisse ist „The Time for Change“-Modell, entwickelt von Alan Abramovitz. Demnach wird Demokrat Obama mit 50,6 Prozent gewinnen, weil es keine genügende Wendestimmung zugunsten des Republikaners Romney gäbe.

Nicht zuletzt die unerwarteten Ergebnisse der Parteitage und TV-Debatten haben gezeigt, die Zukunft nicht alleine in Kenntnis der vergangenen Mechanismen vorhersagen zu wollen, ist riskant. Denn das ist die Schwäche aller noch so elaborierten Modellrechnungen. Die Uebersicht PollyVote versucht das zu umgehen: Nebst den genannten 13 Modellrechnungen (und einigen weiteren) integriert der Superaggregator auch aktuelle Umfragen, Wahlbörsen und anonymisierte Expertenschätzungen. Ergebnis eine Woche vor der Wahl: Obama gewinnt ganz knapp mit 50,9 zu 49,1. Für den Präsidenten sah es auch schon besser aus: 52,4 zu 47,6 war sein Wert nach den Parteitagen und vor den TV-Auftritten. Das Mittel der von PollyVote berücksichtigen Umfragen resp. der ökononischen Modellrechnungen geben je ein perfektes Patt; die miteinbezogenen Experten und die Wahlbörsen tendieren mit 51:49 minimal zugunsten des Demokraten. Prognosen aufgrund von Personeneigenschaften schliesslich favorisieren Obama mit 52,5 zu 47,5.

Doch auch diese Rechnungen haben einen Nachteil: Sie sagen nur das nationale Wahlergebnis der beiden Bewerber voraus. Entschieden wird aber in den Bundesstaaten, denn diese bestimmen Staat für Staat das Wahlgremium, das Ende Januar 2013 den neuen Präsidenten wählen wird.

Zwei Tools, die Bestandteil von PollyVote, die es medial zu grösster Beliebtheit geschafft haben, sind da besser unterwegs: FiveThrityEight, das Prognoseinstrument der New York Times, und RealClearPolitics, die Internet-Uebersicht. “538” setzt auf Obama, und zwar bei den Elektorenstimmen (297:241) wie auch bei der Volkswahl (50:49). RCP gibt Romney bei den Stimmen der Wählenden einen Vorsprung (48:47), während Obamas Widerwahl aufgrund der Elektoren (290:248) möglich erscheint. Das spricht am meisten für den Amtsinhaber, denn keines der Tools zur Zusammensetzung des Electoral College sieht Romney als neuen Präsidenten.

Bei den bedeutungsvollen Bundesstaaten konzentriert sich die Aufmerksamkeit in der Schlussphase ganz auf Ohio. Denn hier wurde noch nie ein Republikaner Präsident ohne die Stimmen dieses Gliedstaates gewonnen zu haben. Am Freitag verkündete CNN einen Vier-Punkte Vorsprung für Obama. Die Forscher von American Research Group und Purple Strategies zeigten am gleichen Tage einen Zwei-Punkte Vorsprung für den Präsidenten auf, während die Universität von Cincinnati in ihrem Ohio-Poll vom Samstag von einem “unentschieden” sprach. Und bis ich diesen Artikel verfasst hatte, vermeldete der FOX-Forscher Scott Rasmussen via Twitter, Romney führe nun im wichtigsten Schlachtfeld-Staat mit zwei Punkten Vorsprung … wenigstens bis Sturms “Sandy” Sand in die Wahlkampfmaschienen wirbelt!

Claude Longchamp

Volksabstimmung über das Tierseuchengesetz – was man zum Ausgang jetzt schon wissen kann

Wird das Tierseuchengesetz angenommen oder abgelehnt? Hier meine Antworten im Zusammenhang.

Zur eidgenössischen Volksabstimmung vom 25. November 2012 gibt es keine Vorbefragungen. Das entschied die Chefredaktoren-Konferenz der SRG Medien, nachdem das Referendum gegen die Doppelbesteuerungsabkommen nicht zustande kam. Namentlich aus der französisch- und italienischsprachigen Schweiz erhalte ich seit letzter Woche vermehrt Anfragen, mit welchem Ausgang man beim Tierseuchengesetz rechnen könne. Mit dem Nein der SVP an der gestrigen Delegiertenversammlung ist das nicht weniger geworden.

Nun kann ich keine eindeutige Antwort geben. Ich kann aber aufzeigen, wovon man aufgrund des Dispositionsansatzes ausgehen kann. Gerne mache ich das hier in drei Schritten.

Erstens, bei der Volksabstimmung über das Tierseuchengesetz handelt es sich um eine Behördenvorlage gegen die das Referendum von einer weitgehend ausserparlamentarischen Gruppe zustande gekommen ist. Im Ständerat war die Sache unbestritten, der Nationalrat entschied sich mit einer Gegenstimme (der von CVP-Nationalrat J. Büchler, Bauernvertreter aus dem St. Gallischen).
Nun sagt der Dispositionsansatz, der Ausgang einer Abstimmung stehe umso eher langfristig fest, je prädisponierter Stimmabsichten aufgrund von Alltagserfahrungen sind. Ist dies der Fall, verstärken Abstimmungskämpfe vorhandenen Dispositionen; ohne das wirken sie im eigentlichen Sinne meinungsbildend.
Ohne Umfragen zur Hand zu haben, frage ich nach der voraussichtlichen Vertrautheit der BürgerInnen mit der Materie und der Komplexität der Vorlage. Ersteres halte ich für gering. Zwar haben einige Lebensmittelskandale der jüngeren Zeit die Sensibilität der SchweizerInnen für Fragen der Tierseuchen erhöht; doch ohne Aktivierung durch die Aktualität gehört das Thema für die Mehrheit nicht zum vorherrschenden Sorgenhaushalt. Die Komplexität der Vorlage ihrerseits ist mittel. Selbstredend ist die Vorlage sicher nicht. Indes, wenn man zu Informationsaufnahme bereit ist, ist der Aufwand beschränkt, und der Sachverhalt, um den es geht, durchaus erklärbar.
Aus dem Gesagten kann man folgern: Es sind erste Stimmabsichten vorhanden; die Ja-Seite hat wohl mehr Unterstützung als die Nein-Seite. Doch sind die vorläufigen Dispositionen nicht gefestigt. Entscheidend ist, zu welchem der beiden denkbaren Szenarien der Meinungsbildung es kommt: Im ersten verteilen sich Unschlüssige auf beide Seiten, was die Aussichten auf ein Ja erhöht resp. vorläufige BefürworterInnen kippen ins Nein, was eine Ablehnung möglich macht.

Zweitens, zwischen dem Diskurs im Parlament einerseits und unter Betroffenen anderseits gibt es offensichtlich einen Unterschied. Für die Bundesrat und Parlament ist klar, Tierseuchen nehmen zu; statt zu reagieren, wollen vorbeugen. Unter den Betroffen stösst das bisweilen auf Skepsis. Sie sehen darin in erster Linie Zwangsimpfungen auf sich zukommen, mit Nachteilen für die Tierhalter.
Ohne jegliche Evidenz für diese abweichende Sichtweise wäre es nicht denkbar gewesen, dass eine bunt gemischte Gruppe ohne Unterstützung einer Partei oder eines Verbandes die Unterschriften fristgerecht beigebracht hätte. Die zweite entscheidende Frage lautet demnach, welche Sichtweise auf Problem und Lösung in Sachen Tierseuchen vorherrscht.
Mit Umfragen ist die Antwort einfacher, aber auch nicht sicher. Denn das Ganze kennt kein stabiles Verhältnis, sondern ist mitunter eine Folge von Kampagnen.
Ueber das eigene Milieu hinaus halte ich den Wirkungskreis der Referendumsführer für recht beschränkt, sodass die Reaktionsweisen der Parteien und Verbände hier mehr interessieren. Massgeblich ist dabei, ob die Behördenallianz im Abstimmungskampf zerfällt oder nicht.
Da ist das Nein der SVP ohne Zweifel ein relevantes Signal. Entscheidender ist allerdings, ob es für sich steht, oder ob es Nachahmung finden. Denn die Chancen für einen Meinungsumschwung steigen, wenn wichtige Verbände und die Zahl der opponierenden Regierungsparteien zunimmt. Damit steigt die Aufmerksamkeit vor allem für die Entscheidungsfindung in den verschiedenen Bauernorganisationen, den konservativen und ökologisch ausgerichteten Parteien. Dem Nein-Lager angeschlossen hat sich bisher nur Bio-Suisse und die EDU, nicht aber die CVP oder die GP – auch nicht der Schweizerische Bauernverband.
Mit einer Umfragenserie könnte man gesicherterer verfolgen; vor allem auch abschätzen, ob ein bekanntes Konfliktmuster entsteht, wobei vor allem die denkbare Frontstellung zwischen Land und Stadt sowie eine mögliche Ablehnung in der deutschsprachigen Schweiz interessiert.

Drittens, es bleibt bei zwei Szenarien, wobei das eine eine Annahme nahelegt, das andere eine Ablehnung zulässt. Ohne breitere Problematisierung des Tierseuchengeseztes ist das erste Szenario wahrscheinlicher als das zweite. Den Anfang hierzu hat sie mit der bundesrätlichen Medienkonferenz vor Wochenfrist gemacht.
Ohne eine Beschleunigung der Kontroverse im Abstimmungskampf ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass es im Vorfeld des 25. Novembers zu einer exemplarisch hohen Beteiligung kommt. Dabei überwiegen aus Erfahrung jene BürgerInnen, die bei eidg. Sachen regelmässig stimmen gehen, sich einigermassen informieren und aus Erfahrung den Behördeninformationen trauen. Das spricht für Zustimmung, ausser die Sache ist kontroverser als man meint.
Beschränkt kann man das dem Internet entnehmen, wo relevante Aktivitäten der Gegnerschaft erkennen, an Plakaten, Inseraten und Medienkontroversen fehlt es aber. Immerhin, die entscheidende Zeit kommt erst noch.

Claude Longchamp