Neue Mandatsverteilung der Kantone im Nationalrat: Vorteile für SVP und CVP, Nachteile für GPS und FDP

Hätte die Sitzverteilung im Nationalrat, die 2015 zur Anwendung kommt, schon 2011 gegolten, hätten die SVP und CVP je eine Vertretung mehr in der grossen Kammer gehabt, und es wären FDP und GPS entsprechend geschwächt worden.

Der Bundesrat hat die Sitzzahl der Kantone im Nationalrat der Bevölkerungszahl der Gliedstaaten angepasst. Da die einzelnen Kantone ungleich stark wachsen, kann das zu Verschiebungen der Gewichte unter Kantonen führen, mit Folgen für die Parteien.

Eine Simulation der Sitzverteilung für 2011 nach den Regeln für 2015 lässt erahnen, was in zwei Jahren geschieht:

. In Zürich hätte die SVP einen Sitz gewonnen, im Aargau und im Wallis wäre je ein Mandat an die CVP gegangen.
. In Bern hätte dafür die GPS einen Sitz verloren, das gleiche wäre der CVP in Solothurn passiert und der FDP in Neuenburg.

Bilanziert man die Auswirkungen de neuen Mandatsverteilung unter den Kantonen wären zwei eher konservative Parteien etwas gestärkt worden, und es wären zwei eher progressive Parteien ein wenig schwächer in der grossen Kammer vertreten gewesen.

Personell hätte es 2011 bei den Grünen die Bernerin Regula Rytz getroffen, die heutige Parteipräsidentin, bei der CVP den Solothurner Stefan Müller-Altermatt, und bei der FDP wäre der Neuenburger Alain Ribeau nicht nach Bern gereist.

Natürlich haftet der Aussage auch etwas Spekulatives an: Denn die Simulation unterstellt, dass alle gleich gewählt hätten. Das muss nicht sein, denn in kleineren Kantonen hängt die Wahl einer Partei auch von der Wahrscheinlichkeit ab, dass sie einen Sitz macht. Und das ist davon abhängig, wie viele Sitze verteilt werden können. So ist denkbar, dass kleine Parteien in Neuenburg und Solothurn geschwächt worden wären, zum Vorteil grösserer.

Immerhin, die vorgenommene Simulation ist die beste Möglichkeit, um zu sehen, was passiert wäre. Und das hilft zu verstehen, was dereinst passieren könnte. Sie ist auf jeden Fall besser als der Verweis auf die Restmandate 2011. Denn deren Bestimmung hängt ebenfalls von der Sitzzahl eines Kantons ab, sodass deren Aenderungen auch zu einer Verschiebung der Restmandatverteilung führen kann.

Deshalb gilt: Die neue Mandatsverteilung des Nationalratssitze auf die Kantone stellt die Schweizer Politik nicht auf den Kopf; sie modifiziert aber die Gewichte von moderneren zu konservativeren Parteien.

Claude Longchamp

Lassen sich Schweizer Wahlen prognostizieren?

Mit Blick auf die Schweizer Wahlen 2015 wage ich ein für die Schweiz neuartiges Experiment in der Wahlforchung.

Umfragen zu den Wahlabsichten vor Schweizer Nationalratswahlen sind heute weitgehend eingeführt und sie werden medial und politisch vielfach verwendet. Insgesamt haben sie sich bewährt, und einen im internationalen Vergleich brauchbaren Stand erreicht. Es bleiben aber zwei Probleme: Befragungen kurz vor einer Entscheidung vermitteln einen leicht “zittrigen” Eindruck, denn die Schwankungen der Messergebnisse im Zufallsbereich bleiben bei allen methodischen Verbesserungen bestehen. anderseits sind Umfragen weit vor einer Wahl eher Momentaufnahmen denn Vorhersagen, denn es fehlt ihnen die Berücksichtigung der Meinungsbildung, die erst noch kommt.

Die internationale Wahlforschung der letzten 15 Jahre ist genau deshalb neue Wege gegangen. Sie prüft alternative Instrumente wie Wahlbörsen oder ExpertInnenbefragungen, und sie hat Modellrechnungen entwickelt, um beispielsweise mit ökonomischen Indikatoren oder medialen Themenanalysen Wahlprognosen erstellen zu können. Andere VertreterInnen der neuen Wahlforschung verfolgen den Pfad, Umfrageergebnisse zu qualifizieren, indem sie mit anderen Messgrössen kontrolliert, spricht justiert werden.

Genau diesen neuen Möglichkeiten der Wahlprognose nimmt sich mein neu gestaltetes Forschungsseminar an der Universität Bern an. Ziel ist es, ein Instrumentarium zu entwickeln, das mit oder ohne Umfragen zu Wahlabsichten 2015 eingesetzt werden könnte, um den Ausgang von National- und Ständeratswahlen vorherzusehen. Auf diesem Weg gibt es in der Schweiz bisher nur wenig; erwähnt seien Extrapolationen kantonaler Wahlen – mit der Einschränkung, dass die Trends aber nicht gleich verlaufen. Zu Ständeratswahlen gibt es noch weniger – mit Ausnahme erster Forschungsarbeiten, die ich 2011 an der Uni Bern angeregt habe.

Diese Lücke will das Seminar füllen. Es richtet sich an Studierende auf der Masterstufe. Vorausgesetzt werden gute Kenntnisse der Schweizer Wahlen und ein grundlegendes Wissen zu den Theorien und Methoden der Wahlforschung. Die Lehrveranstaltung selber besteht aus mehreren Teile: einer Einführung mit den Erarbeitung der Zielsetzung: eine Bearbeitung der relevanten Literatur aus den USA und aus Deutschland; der Bildung von Projektgruppen, die je ein Instrument entwickeln müssen und der Diskussion erster Ergebnisse aus der neuen Forschung. Als externen Referanten habe ich zudem Andreas Graefe von der Uni München eingeladen, der ein vergleichbares Projekte zu den Bundestagswahlen 2013 realisiert.

An die studentischen Projekte stelle ich eine Anforderung: Die Intuition, die hier sehr wohl eingesetzt werden kann, soll durch ein systematisches und methodisch kontrolliertes Vorgehen ersetzt werden. Die Arbeiten aus dem Seminar müssen bis Ende Januar 2014 abgeben werden, mit konkreten Vorschlägen, wie neue Instrument der Wahlprognoseforschung jenseits der eingeführten aussehen und wie sie mit Blick auf die Wahlen 2015 realisiert werden könnten. Interessierte der Uni Bern erfahren übere Ilias mehr dazu.

Ich hoffe, hier nicht nur Neuland zu beschreiten, sondern auch festeren Boden unter den Füssen zu bekommen!

Claude Longchamp

Tankstellenshops: Ungebundene und konservative WählerInnen geben den Ausschlag

Arbeitsgesetzrevisionen gehören zu den regelmässigen Abstimmungsgegenständen in der Schweiz. Der Mechanismus der Meinungsbildung ist oft vergleichbar: Das Parlament beschliesst, die Gewerkschaften ergreifen das Referendum, und das Volk entscheidet – je nach dem!

Die grosse Arbeitsgesetzrevision von 1996 polarisierte und mobilisierte stark. Die Mehrheit hinter sich hatten schliesslich die Opponenten. Bei der zweiten Revision, zwei Jahre später, arbeitet man auf einen Kompromiss hin; das Aufsehen war deutlich geringer, und die Vorlage ging glatt durch. Die dritte Revision, aus dem Jahre 2005 zu den Ladenöffnungszeiten in Zentren des öffentlichen Verkehrs, mobilisierte wieder mehr, was die Gegnerschaft wieder anschwellen liess. Die Vorlage wurde mit 50,6 Prozent Ja- Stimmen knapp angenommen.

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Weder FDP- noch SP-Wählende waren bei diesen Volksabstimmungen gute Trendgruppen. Die Parteien waren immer dafür resp. immer dagegen. Die WählerInnen der FDP waren viel zu unkritisch eingestellt, jene der SP viel zu negativ. Recht schwierig ist es auch, die CVP und SVP systematisch zu verorten, denn sie die Parolen waren im zustimmenden Sinne, doch die Wählenden wurden über die Zeit eher konservativer als der Bevölkerungsschnitt. Die einzige, die stets mit dem Bevölkerungsschnitt stimmten waren die Parteiungebundenen.

Mit anderen Worten: Der Ausgang von Volksabstimmungen zu Arbeitsgesetzrevisionen hängt stark von der Politisierung einer Vorlage ab. Je stärker diese ist, desto eher kann mobilisiert werden, Die Opposition rekrutiert sich dann nicht nur aus dem gewerkschaftlich-linken Lager; vielmehr erfasst sie auch Teile der ungebundenen und konservativen WählerInnen.

Wo stehen wir bei der neuerlichen Arbeitsgesetzrevision? Diesmal geht es um die Freigabe des Warenangebots in der Nacht. Ob die Arbeitsbedingungen beeinflusst werden, spaltet die Geister im Abstimmungskampf. Die Kampagnen haben eben eingesetzt. Die Befürworter verweisen auf absurde Situation beim Einkauf in der Nacht. Die GegnerInnen sehen die 24-Stunden-Arbeitsgesellschaft aufkommen.

Die erste von zwei SRG-Befragung hierzu, die heute veröffentlicht wurde, legt ein Patt in der bisherigen Meinungsbildung nahe: 46 Prozent folgen der Ja- ,47 Prozent der Nein-Seite. Damit hat keines der beiden Lager eine absolute Mehrheit hinter sich. Der parteipolitischen Konflikt ist vergleichbar, zudem was wir oben gesagt haben: FDP- und SP-Wählende bilden die Pole dafür und dagegen. Die SVP ist eher dafür, aber gespaltener als die FDP. Und die CVP? Unsere Erhebung spricht auch hier von einem Patt: 47:47. Eher im Nein sind die Parteiungebundenen. Sie und die CVP sind nahe dem Schnitt.

2005, bei der letzten Abstimmung, kippte die Meinungsbildung, je länger es ging, Richtung Nein. 57 Prozent Zustimmung hatten die BefürworterInnen zu Beginn, 54 Prozent bei der zweiten Befragung, und am Abstimmungstag waren es die besagten 51 Prozent. Demgegenüber nahm das Nein von 33 über 41 bis auf 49 Prozent zu.

Oder anders gesagt: Die Opposition startet heute besser als damals. Hauptgrund ist: Das ungebundene Lager neigt ihr heute wieder vermehrt zu. Gelingt es ihr, das zu halten und auch die konservativen Bürgerlichen anzusprechen, hat sie gute Aussichten auf eine Mehrheit am Abstimmungstag. Ohne das dürfte es kaum reichen.

Der Abstimmungskampf dürften sich auf zwei Zielgruppen konzentrieren: Die konservative CVP-Wählerschaft einerseits, die parteiungebundenen BürgerInnen anderseits. Denn sie geben bei einem knappen Entscheid den Ausschlag.

Claude Longchamp

The closed window of opportunity

Die heute erscheinende VOX-Analyse zu den Volksabstimmungen vom 9. Juni 2013 legt nahe, dass bei der Entscheidung über die „Volkswahl des Bundesrates“ die Grundhaltung gegenüber der Regierung den Abstimmungsentscheid systematisch beeinflusst hat. In einem Artikel für die Festschrift von Fritz Plasser, Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck, bin ich diesem mutmasslichen Wirkungszusammenhang vertieft nachgegangen.

Die VOX-Analysen eidgenössischer Volksabstimmungen haben eindeutige Stärken: Sie zeigen auf, wer wie gestimmt hat, und sie machen deutlich, welche Einstellungen für den Stimmentscheid von Belang waren. Zu den diesbezüglichen Erklärungsgrössen gehört unter anderem das Behördenvertrauen. Was naheliegend schien, bestätigt die jüngste VOX-Analyse: das Regierungsvertrauen beeinflusste die Entscheidung zur Volkswahl des Bundesrats. Wer dem Bundesrat vertraute, war vermehrt gegen die Direktwahl. Wer Misstrauen in die Landesregierung bekundigte, sprach sich eher für die Initiative aus. Der statistische Zusammenhang kann nicht nur bivariat nachgewiesen werden; er besteht auch multivariat.  Das heisst, das Regierungsvertrauen ist auch dann noch mitentscheidend für den Stimmentscheid, wenn weitere Erklärungsgrössen im Modell berücksichtigt wurden.

Bei den VOX-Analysen handelt es sich um Fallstudien. Woran es ihnen häufig mangelt ist einerseits eine vergleichende Perspektive und andererseits die Einbettung in langfristige Trends. Letzterem habe ich mich – parallel zur Ausarbeitung der VOX-Studie durch ein Team von Politologen der Uni Genf – im besagten Artikel angenommen. Die Hauptergebnisse sind:

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Erstens: Das Regierungsvertrauen ist bei weitem nicht konstant. Seit 1989 haben wir zwei grosse Zyklen der Erosion und des Wiederaufbaus des Regierungsvertrauens erlebt. Die erste Erosion begann mit dem Ende des Kalten Krieges und der Entscheidung über den EWR. Nach zwischenzeitlicher Erholung gegen Ende des 20. Jahrhunderts beobachtete man einen neuerlichen Rückgang des Regierungsvertrauens, der durch die Volksabstimmung zum UNO-Beitritt 2002 ausgelöst wurde. Nachdem man 2004 den absoluten Tiefpunkt beobachten konnte, normalisierte sich die Lage bis ins Jahr 2008 jedoch erneut.

Zweitens: Die zentrale Ursache für die jeweilige Erosion des Vertrauens war die Öffnung der Schweiz gegenüber Europa resp. der Welt, welche zweimal markant vom Bundesrat (mit)betrieben wurde. Die Folgen für das Parteiensystem sind bekannt: Der erste Zyklus polarisierte vor allem zwischen der  SVP und der SP; der zweite brachte eine konservative Wende mit sich, die insbesondere der SVP nützte.

Drittens: Die Veränderungen im Parteiensystem haben die Zauberformel für die Wahl des Bundesrates ausser Kraft gesetzt. 2003 verflog mit der Abwahl von Ruth Metzler (CVP) zugunsten von Christoph Blocher (SVP) der Zauber und spätestens 2007/8 war das Ende der Formel dann definitiv besiegelt. Die SVP ging vorübergehend in die Opposition, einen ihrer beiden Sitze hat sie 2009 zurückerhalten. Was mit dem anderen Teil geschieht, bleibt indes offen.

Viertens: Die Rochade von 2003 hat das Vertrauen der SVP-Anhänger in die Regierung nicht wirklich erstarken lassen, allerdings dasjenige der anderen Parteianhängerschaften wesentlich geschmälert. Anders als in parlamentarischen Systemen üblich hat die Regierungsumbildung in der Schweiz nicht das Vertrauen in die Behörden gestärkt, sondern eher das Misstrauen ansteigen lassen.

Fünftens: Wenn sich die Lage seit 2008 dennoch veränderte, so hatte das weniger mit den politischen Ereignissen zu tun, als mit der wirtschaftlichen Lage. Spätestens seit 2010 zeigen die Wirtschaftsindikatoren nach oben und die vorteilhafte Lage der Schweiz wurde namentlich im Vergleich zum Ausland augenfällig. Das hat das Behördenvertrauen wieder ansteigen lassen.

 

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Die SVP-Volksinitiative für eine Volkswahl des Bundesrates entstand als Folge der Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat. Entsprechend aufgezogen war die Kampagne: Den Machenschaften in der Vereinigten Bundesversammlung kurz vor Bundesratswahlen sollte durch den Systemwechsel ein Riegel vorgeschoben werden. Hätte sich das politökonomische Umfeld in den letzten Jahren nicht derart verändert, wäre die Argumentation im Abstimmungskampf wohl besser zum Tragen gekommen. Die guten Wirtschaftszahlen der vergangenen Jahre haben das Klima gegenüber Bundesbern in der Schweiz allerdings grundlegend verändert, sodass weder die Problemdiagnose der SVP, noch die mitgelieferten Verbesserungsvorschläge folgerichtig erschienen.

Man kann sich darüber hinaus auch die grundsätzliche Frage stellen, ob das window of opportunity für politische Kampagnen,  die auf institutionellem Versagen des schweizerischen Politsystems aufbauen, nicht schon wieder geschlossen ist. Geöffnet wurde es offensichtlich in den 90er Jahren, parallel zur Kritik an der Migrationspolitik. Die Wirkungen auf die Schweizer Politik waren erheblich. Seit 2008 befinden wir uns aber in einer anderen Lage: Die Schweiz wird durch die Veränderungen im Ausland herausgefordert. Erwartet wird, dass man dabei im Innern der Schweiz verstärkt über Parteigrenzen hinaus zusammenarbeitet. Das Ende der Polarisierung bei den Nationalratswahlen 2011 kann als klares Zeichen dafür gewertet werden, dass sich die Schweizerinnen und Schweizer gegenwärtig eher wieder mehr Systemstabilität wünschen. Institutionenkritik, wie sie mit der Volksinitiative zur Volkswahl des Bundesrats vorgetragen wurde, ist dabei nicht mehr besonders zugkräftig. Das Wettern über das Ausland dagegen schon.

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Genau das wurde der SVP-Initiative zum Verhängnis. Schon die erste SRG-Vorbefragung legte nahe, dass gerade noch ein Viertel der Stimmwilligen für die verlangte Änderung ansprechbar war. Am Abstimmungstag war aus diesem Potenzial fast punktgenau das Ja-Lager zur Volkswahl des Bundesrats geworden.

Claude Longchamp

Geschichte und Zukunft der Konkordanz in einem gespaltenen Land wie der Schweiz

“Gespaltene Schweiz – geeinte Schweiz”: Das ist das grosse Thema des Standardwerkes zu Konflikten und ihrer Verarbeitung durch direkte Demokratie und Konkordanz.

Der Einstieg ins Buch ist keck: HistorikerInnen der Schweiz hätten sich mit dem Kulturkampf des 19. Jahrhunderts, dem Sprachengraben am Ende des 1. Weltkrieges und dem Klassenkampf in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingehend beschäftigt. Mehrheitlich sprächen sie von einer Mässigung der Konfikte in der Schweiz. “Doch die Volksseele tickt anders”, schreiben Wolf Linder, Regula Zürcher und Christian Bolliger in ihrem Buch, das die 511 Volksabstimmungen zwischen 1874 und 2006 untersucht. Ihr Befund: “Trotz den Integrationsleistungen der Regierungskonkordanz sind seit 1959 keineswegs alle klassischen Spaltungen überbrückt worden. Einzelne von ihnen nehmen bei der Stimmbürgerschaft in den letzten Jahrzehnten an Intensität sogar zu.”
In diesem lange erwarteten Buch zur Schweizer Politik geht es um dreierlei: die gesellschaftlichen Spaltungen, die Volksabstimmungen und die Konkordanz. Das Hauptaugenmerk der breit angelegten, politologisch ausgerichteten Untersuchung gilt klar der Regierungskonkordanz, 1943 mit der Aufnahme der SP in den vormals bürgerlichen Bundesrat vorbereitet, 1959 mit der Entstehung der Zauberformel erfolgreich institutionalisiert und 2003 mit der Abwahl von Ruth Metzler aus dem Bundesrat geritzt.
Hauptsächliches Anschauungsmaterial bilden die Abstimmungskämpfe, rekonstruiert anhand von Zeitungen und Plakaten, welche die Geschichte der politischen Schweiz vor dem geistigen Auge auferstehen lassen. Doch die AutorInnenen sind keine ChronistInnen, die es dabei bewenden lassen würden. Sie sind geübte AnalytikerInnen, deren Augenmerk den Positionen der FDP, CVP, SVP und SP gitl, die zum Zeitpunkt der Untersuchung (2006-2008) gemeinsam die Bundesregierung bildeten.
Erstes Ergebnis der Nachforschungen ist, dass in den Standpunkten eben dieser Parteien zu Volksabstimmungen am häufigsten der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital thematisiert wird, gefolgt vom Stadt/Land-Gegensatz. Die Sprachenfragen einerseits, konfessionelle Konflikte anderseits kommen da eher selten vor.
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Das zweite Ergebnis überrascht schon eher: Uebereinstimmungen zwischen vier Parteien bei Volksabstimmungen waren zwischen 1936 und 1970 am häufigsten. In 4 von 5 Entscheidungen nahmen sie die gleiche Position ein. Damit gab es eine einheitliche Sitchtweise auf poliischen Dinge schon klar vor der Zauberformel, und die verhinderte nicht, dass die Regierungsparteien fallweise Opposition üben. Wichtigster Grund hierfür ist und bleibt die Oppsition der SP, namentlich nach dem Ersten Weltkrieg verbreitet, dann lange Zeit weniger intensiv, seit Ende der 60er Jahre jedoch wieder zunehmend. Zweites Erklärungselement ist das Ausscheren der SVP – namentlich seit Ende des Kalten Krieges ein vorrangiges Thema.
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Drittes Resultat der Untersuchung: Auf die Dauer erhält das Parlament rund 60 Prozent Zustimmung zu seinen Beschlüssen zugunsten von Gesetzen und meist gegen Volksinitiativen. Der Wert hat über die Zeit weder markant zu- noch abgenommen; er schwankt aber, namentlich in Abhängigkeit des Parteienkonflikts. Dabei wird die mittlere oppositionelle Mobilisierungskraft der SVP von den AutorInnen höher eingestuft als die der SP. Denn wenn die SVP opponiert, sinkt die Zustimmung markanter.
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Eine Art Bilanz der Regierungskonkordanz

Wertvoller noch als die stark quantifizierenden Schlüsse sind die qualitativen Analysen zum Stand der Konfliktregelung in der Schweiz. Denn sie lassen eine Art Bilanz zur Konkordanz zu.
Am vorteilhaftesten fällt das Urteil der ForscherInnen beim Sprachenkonflikt aus. Denn der Sprachenproporz bildete von Beginn weg ein festes Fundament des Bundesstaates, auch des Bundesrats. Zudem, die grossen Parteien sind heute alle sprachübergreifend und bekennen sich zur Mehrsprachigkeit als Prinzip der Schweiz, wie auch als solches der innerparteilichen Organisation. Es bleibt die gelegentiche Verägerung der Sprachregionen durch Parteiparolen, etwa weil die Linke in der Romandie den Föderalismus hochhält oder die Rechte in der Deutschschweiz den Ausbau des Sozialstaates bremst.
Ueberwiegend vorteilhaft ist die Bilanz auch bei der Minderung der zweiten kulturellen Konfliktlinie, der konfessionellen Konkordanz. Anders als beim Sprachenkonflikt musste sie erst erkämpft werden. Machtteilung und Verhandlungen taten ihr Gutes, wenn auch nicht auf einmal. Entsprechend ist der Kulturkampf schleichend verschwunden. Als weitgehend wirkungslos taxieren die Autoren dagegen die Konkordanz bei neuen religiösen Konflikten, etwa zwischen Christentum und Islam.
Deutlich durchzogener ist der Schluss beim Konflikt zwischen Arbeit und Kapitel, der als dauerhafte Auseinandersetzung mit Wandlungen entlang dem Auf und Ab der Industrialisierung interpretiert wird. Die Gegensätze konnten verringert werden, sind aber nicht verschwunden, namentlich nicht mit der restriktiven Finanzpolitik. Die grösste Herausforderung sehen die ForscherInnen in der Globalisierung, beispielweise weil die nationale Autonomie in der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen schwinde, der Nationalstaat aber für die Sozialpolitik verantwortlich bleibe.
Am kritischsten beurteilt wird die Wirkung der Konkordanz hinsichtlich des Stadt/Land-Konflikts. Der lässt sich nicht mehr, wie lange Zeit üblich, auf Agrarprotektionismus reduzieren. Vielmehr gehe es heute um eine neue vielschichtige Konfliktlinie in der urbanisierten Gesellschaft, gekennzeichnet durch Agglomerationen, die aussenpolitisch offener, sozialpolitisch aber konservativ eingestellt seien. Zudem entwickelten sich die Parteien immer mehr von Gruppierung, welche die soziale Verteilung organisierten, zu solchen der Interessen und Lebensstile entlang der Siedlungsart.

Sperrige Empirie, namentlich bei der Veränderung der Stadt/Land-Konflikts
Der Weg zu diesen erhellenden Schlüssen ist systematisch und faktenreich, aber nicht wirklich übersichtlich. Denn die vier grossen Konfliktlinien werden an je einem Themenbereich untersucht: die Sprachenfrage an der Verkehrspolitik, die Konfessionsfrage an der Familienpolitik, der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit anhand der Arbeitsbeziehung und der Stadt/Land-Gegensatz aufgrund der landwirtschaftlichen Selbstversorgung, wobei es immer um Vermittlung und Mobilisierung der Konflikte durch Parteien geht. Hängen bleibt einemn dabei, dass bei Arbeit/Kapital-Konflikten, aber auch bei den Beziehungen zwischen Kirche und Staat Gegensätze zwischen Parteien häufiger sei als unter den StimmbürgerInnen, während dies bei den beiden anderen Konfliktarten gerade umgekehrt sei.
Klar wurde dies selbst den ForscherInnen erst unterwegs. Genau das macht die einleitend vorgestellte Schematisierung von Konflikten, stark amn Klassiker der Parteienforschung von Seymor M. Lispet und Stein Rokkan angelehnt, fragwürdig. Geeigneter wäre da das Schema gewesen, das der St. Gallen Politikwissenschafter Daniele Caramani parallel zu den Berner Kollegen entwickelt hat. Dieses unterscheidet ausdrücklich weitere Konfliktarten, die für postindustrielle Gesellschaften typisch sind: den Gegensatz zwischen Materialismus resp. Postmatrialismus einerseits, und den (Neo)Nationalismus als Gegenstück um Internationalismus resp. zur Globalisierung und Europäisierung anderseits. Das Ergebnis davon: In den Kernstädten wohnen postmaterialistisch geprägte Schichten, international vernetzt, während sich das Umlang als grossen Gegenpol dazu aufbaut. Das kommt zwar im Buch von Linder und anderen in den Exkursen zur Energie- und Aussenpolitik vor; es fehlt aber die systematische Einordnung der Ergebnisse in eine Konflikttypologie, die man sich nicht abgeschlossen vorstellen sollte.

Griffige Thesen zu Konkordanz und direkter Demokratie
Der Wert der Publikation aus dem Institut für Politikwissenschaft an der Universität Bern liegt darin, sich systematisch mit dem Verhältnis gesellschaftlicher Spaltungen, direkter Demokratie und Konkordanz beschäftigt zu haben. Dazu formulieren die AutorInnen am Ende des Bandes griffige Thesen.
Dazu gehört, dass die fallweise Opposition den Regierungsparteien einfacher falle als die Einigkeit, dass die Entscheidung zwischen Vermittlung und Mobilisierung gesellschaftlicher Konflikte eine dauerhafte Gratwanderung bleibe und dass die Stimmbürgerschaft beeinflussbar, aber letzlich aber nicht berechenbar sei. Die Ueberlebenschancen politischer Konkordanz stufen sie entsprechend als ungewiss ein, ohne auf die Alternative einzugehen.
Sicherer sind sich die Politikwissenschafter, wenn es um direkte Demokratie geht. Volksabstimmungen aktualiserten gesellschaftlichen Spaltungen eher, als dass sie sie eindämmen würden; ihr Vorteil aber sei, dass sie Entscheidungen in einem gespaltenen Land eine hohe Legitimation verleihe. Genau diesem Dilemma seien die Parteien ausgesetzt, die grosse Verantwortung für den (Zu)Stand der direkten Demokratie tragen würden.
Stichhaltig in der Würdigung, originell aufgrund des verwendeten Materials, inkonsequent in der Gliederung, das kennzeichnet das Standartwerk zur Schweizer Politik.

Claude Longchamp

Die Schweiz hat sehr wohl Leitblogger

“Die Schweiz hat vieles, nur keine Leitblogger!”Die Provokation von @blickamabend sitzt; so gut, dass selbst die Bloggerszene nach Gründen sucht. Ich schlage eine Gegenoffensive vor.

Mein Motto: “Die Schweiz hat sehr wohl LeitbloggerInnen!” Zehn Minuten Nachdenken (in den Ferien) haben mich zum nachstehenden Vorschlag mit 10 LeitbloggerInnen aus der Schweiz geführt.

Andreas Kyriacou, innovativer Wissensmanager (mit grüner Ader), www.kyriacou.ch
Elham Manea, Politologin, Spezialistin für die neuen Herrschaftssysteme im Nahen Osten (bloggt in arabisch, twittert auf deutsch und englisch), www.elhammanea.ch
Nick Lüthi, viel beachteter Blogger zur Schweizer Medienszene, www.medienwoche.ch
Manfred Messmer, ex-Journalist, leidenschaftlicher Politblogger von rechts,www.arlesheimreloaded.ch
Marcel Bernet, Buchautor, Blogger zu neuen sozialen Medien, www.bernetblog.ch
Mark Balsiger, Kommunikationsberater, gern zitierter Experte für Abstimmungen und Wahlen in Massenmedien, www.wahlkampfblog.ch
Martin Grandjean, führender Experte für Visualisierungen von Forschungsergebnissen, einer der meistgelesenen Blogger der Romandie, www.martingrandjean.ch
Peter Hogenkamp, Top-Blogger zu neuen Sozialen Medien www.hogenkamp.ch
Philippe Wampfler, Experte für Neue Medien und Jugendpädagogik www.philippe-wampler.ch
Tom Brühwiler, Trendscouter und -setter im Cyberspace, www.bloggingtom.ch

Würde mich freuen, wenn Liste mit weiteren LeitbloggerInnen fortgesetzt würde.

Claude Longchamp

PS: Links funktionieren noch nicht, nur gerade iPad zur Hand.

Kostenfolgen entscheiden über Einheitskasse

65 Prozent würden heute bestimmt oder eher für eine Einheitskasse stimmen. 28 Prozent wären bestimmt oder eher dagegen. Beteiligen würden sich nur 31 Prozent der Stimmberechtigten. Das ist eines der Hauptergebnisse des Gesundheitsmonitors 2013, erstellt vom Forschungsinstitut gfs.bern für die Interpharma.

1205 repräsentativ ausgewählte Personen werden jeweils im April für den Gesundheitsmonitor jährlich zu ihren gesundheitspolitischen Einstellungen befragt. Diesmal ging es erstmals auch um die Stimmabsichten zur Volksinitiative “Für eine öffentliche Krankenkasse”, die voraussichtlich 2014 Volk und Ständen vorgelegt werden wird.

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55 Prozent der Befragten gaben an, von dieser Volksinitiative schon etwas gehört, gesehen oder gelesen zu haben, bevor sie interviewt wurden – ein überdurchschnittlicher Wert.
Bestimmt teilnehmen wollen an der Volksentscheidung aber erst 31 Prozent; weitere 33 Prozent würden sich eher beteiligen, wenn jetzt schon entschieden würde. Insbesondere die sicher Teilnahmewilligen sind damit eher unter dem Mittel.
Unter den 31 Prozent mit gesicherter Teilnahmebereitschaft sind die Befürworter und Befürworterinnen in der Überzahl. 65 Prozent hätten diesen Frühsommer bestimmt oder eher für die Vorlage votiert. Dagegen wären 28 Prozent gewesen. Fest entschieden sind aber erst 34 Prozent auf der Ja- und 14 Prozent auf der Nein-Seite. Von einer vorbestimmten Entscheidung kann man demnach nicht sprechen.

Zwei Faktoren können die Mehrheitsbildung weiterhin beeinflussen: zuerst die Mobilisierung, denn die Befürworterinnen und Befürworter einer Initiative sind im Schnitt früher beteiligungsbereit als die Gegner und Gegnerinnen; sodann die 31 Prozent, die bloss eher dafür sind, denn ein Teil von ihnen kippt erfahrungsgemäss, wenn die Nein-Kampagne einsetzt. Denn heute beurteilen sie vorwiegend das mit der Initiative verbundene Problem, am Abstimmungstag eher die mit dem Begehren vorgeschlagene Lösung.

Polarisierungen der teilnahmebereiten Bürgerschaft blieben bisher weitgehend aus. So gibt es zwar Unterschiede in den Stimmabsichten der linken und rechten Wählerschaften; doch ist in allen von ihnen eine Mehrheit eher auf der Ja-Seite. Zu erwarten ist hier in erster Linie, dass sich die Frontstellung, wie sie im Parlament sichtbar wurde, auf die Meinungsbildung der Stimmberechtigten auswirken wird: Konkret, bei den bürgerlichen Wählerschichten ist mit einem Rückgang der Ja-Anteil zu rechnen, derweil auf linker Seite Unschlüssige zu Befürworter und BefürworteriInnen werden dürften. Personen in Haushalten mit tiefem Monatseinkommen befürworten zurzeit die Initiative stärker, bei den hohen Einkommen ist die Nein-Minderheit grösser.

Argumentativ kennen beide Seiten mehrheitsfähige Botschaften. Jene aus dem Ja-Lager sind aber zahlreicher als jene von der Nein-Seite.
Die Initianten und Initiantinnen können insbesondere auf eine verbreitete Unzufriedenheit mit dem Wettbewerb unter den Kassen abstellen, der unnötige (Werbe-)Kosten verursache. Für sie spricht auch die Konzentration bestimmter Kassen auf Junge und Gesunde. Zudem kann die Ja-Seite die wahrgenommene Intransparenz der Informationen seitens der Krankenversicherer für sich nutzen. Mehrheitsfähige Botschaften hat sie zudem, wenn sie die Vorlage als Schutz der Patientinnen und Patienten vor Wirtschaftsinteressen, aber auch als Beitrag zur Prämiensenkung propagiert.
Die Initiativ-Gegnerschaft ihrerseits können auf Konstanz setzen, gilt doch die Grundversicherung als bewährtes System. Zudem fürchtet eine Mehrheit, bei einer Einheitskasse werde der Service abgebaut. Zudem gilt der Wettbewerb für eine Mehrheit als Qualitätsgarantie.

Anders als im Parlament, wo die prinzipielle Einwände gegen mehr Staat in der Krankenversicherung die Entscheidungen bestimmten, ist die bisherige Meinungsbildung der Stimmberechtigten durch erhoffte Prämiensenkungen bei einer Reform des Krankenversicherungswesen bestimmt worden.

Claude Longchamp

BDP: die unterschätzte Partei

5 Jahre BDP! Anlass, eine Bilanz zu ziehen, was ist – und was nicht.

Der Anlass
Fast alle ExpertInnen unterschätzten 2011 die BDP 2011, resümierte Adrian Vatter, Professor für Schweiz Politik an der Universität Bern, seine Meta-Analyse von Umfragen, Wahlbörsen und Zusammenstellungen kantonaler Wahlergebnisse zu eben dieser Partei. Doch sie überrascht: Sie erreichte bei ihrer ersten nationalen Wahl 5,4 Prozent der Stimmen; neun Sitze im Nationalrat resultierten daraus, und ein Mandat im Ständerat gab es für die jüngste aller Parlamentsparteien.

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Nun ist die Berner Sektion der Bürgerlich-Demokratischen Partei an diesem Wochenende fünf Jahre alt geworden: ein Grund zum Feiern, in Aarberg, auch wenn die Tage davor für BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf eine veritable Herausforderung waren. Zum ersten Mal reüssierte die Bundesrätin aus den Reihen der BDP in einem Kerndossier nicht, und das ausgerechnet vor der versammelten Mediennation.

Das Ganze ist und bleibt heikel: Denn trotz des Wahlerfolgs von 2011 ist die BDP eine kleine Partei, müssen ihre Mitglieder in Bundes- und Kantonsregierungen weitgehend ohne grosse Fraktion politisieren. Machtpolitik als Strategie scheidet da an sich aus. Dafür ist Sachpolitik angesagt, für Projekte, die aus der politischen Mitte heraus entstehen, aber nicht aus dem CVP-Hause stammen. Erfolge haben sie nur, wenn sie von links oder rechts mitgetragen werden.

Die Entwicklungen
Gerade sachpolitisch ist die BDP meines Erachtens weiter als bei ihrer Gründung. Sie hat sich in ihrer grossen Mehrheit als zuverlässiger Partner der bundesrätlichen Energiewende positionieren können. In der Bankenpolitik des Bundesrates hat sich beim automatischen Informationsaustausch unter den bürgerlich politisierenden Parteien den Lead inne. Das müssen ihr sogar die argwöhnisch beobachtenden JournalisteInnen attestieren. Ich halte deshalb die gängige Analyse, die BDP sei die anständige SVP, aber ohne profiliertes Programm, für überholt. Denn die BDP entwickelt sich programmatisch, gerade in Abgrenzung zu SVP und FDP. Das ist nicht ohne Folge, denn die Wahlanalyse von 2011 zeigte, dass sie am meisten Stimmen bei Ehemaligen genau dieser Parteien gemacht hat. Zugewinne seitens der SP und der CVP gab es zwar auch, aber weniger. Mehr davon wäre inskünftig gut, und angesichts der schwächelnden FDP auch nicht ausgeschlossen.

Die zweite Quelle an WählerInnen-Stimmen mobilisierte die BDP mit ihrem geschickten Slogan als neue Kraft. Der neue politische Stil, der sich 2011 wieder vermehrt durchsetzte, legte nahe, dass die verdrängten Probleme der jüngsten Vergangenheit benannt sind und man heute Persönlichkeiten will, welche zu Lösungen fähig sind: Bereit zu Kompromissen – statt zu polarisieren, sachorientiert mit Dossierkenntnis – statt zu blockieren. Genau das pflegt die BDP in den meisten Kantonen und sie darf davon nicht abrücken, wenn sie ihre Erfolgsgeschichte fortschreiben will. Denn nur das führt dazu, dass Wählende, die enttäuscht von politischen Prozesse in der Schweiz sind, wieder Hoffnungen in der politischen Beteiligung sehen und BDP wählen gehen.

Mindestens so gut wie die GLP steht die BDP in den Kantonen da. Denn sie ist nicht mehr nur eine Erscheinung in den Gründerkantonen Graubünden, Bern und Glarus. Im Mittelland hat sie sich bei kantonalen Wahlen meist über dem 5 Prozent-Niveau etablieren können. Ihr Auftritt gefällt, denn er besteht aus einem Mix aus erfahrenen PolitikerInnen, meist aus den Reihen der SVP, aber auch aus neuen Personen, die eine Unabhängigkeit und Innovation garantieren. Weniger etabliert ist die Partei allerdings in der Romandie, wo sie sich in dem meisten Kantonen nach wie vor mit den Gründungsschwierigkeiten herumschlägt und eine marginale Erscheinung im Parteiensystem ist.

Die Herausforderungen
Das Erfolgsprofil der Zukunft kann sich die BDP an den Abstimmungsentscheidungen ablesen: BDP-Wählende sind zunächst regierungstreu, vergleichbar oder noch mehr als das bei der CVP der Fall ist. Denn sie haben ein intaktes Verhältnis zu den Institutionen des politischen Systems und brauchen keine Populisten, um den richtigen Weg zu erkennen. Sie sind nahe dem politischen Zentrum – und der Bevölkerungsmehrheit! Seit 2011 hat sich die BDP einmal klar getäuscht: Bei der Abzocker-Initiative verhielt sich die Spitze zu regierungstreu, während auch die BDP-Basis ganz anders tickte, und promt überschätze man sich und unterschätzte man die WählerInnen. Vielleicht war auch ihr Nein zur Zweitwohnungsinitiative ein Fehler, und bei Fragen der Hauseigentümer tat sich die Partei 2012 bisweilen schwer, einen klaren Standpunkt oben und unten einzunehmen. Dennoch, die Bilanz der BDP bei eidgenössischen Volksabstimmungen ist gut – besser jedenfalls als die der unmittelbaren politischen Konkurrenz rechts von ihr.

Mit Blick auf 2015 bleiben zwei grosse Herausforderungen: erstens die bange Frage, ob Eveline Widmer-Schlumpf erneut antritt oder nicht, und zweitens, nicht minder entscheidend, ob die BDP als eigenständige Partei Zukunft hat. Skeptiker unter den Analytikern halten das bereits für das drohene Ende der jungen Partei.

Meines Erachtens hängt vieles hängt vom Wahlergebnis bei den nächsten National- und Ständeratswahlen ab, und zwar vom eigenen und von dem der anderen. Das eigene wird herangezogen werden, um die bisherige Arbeit der jungen Partei zu beurteilen; das der anderen wird massgeblich sein, wenn es um Allianzen gehen wird, die den neuen Bundesrat formieren müssen. Ein Rückgang in der Wählenden-Stärke wäre für die BDP fatal; ein Gewinn durchaus ein Versprechen, mittelfristig ähnlich stark wie die CVP zu werden – und damit ihr auf Augenhöhe gegenüber zu stehen. Wenn Mitte/Links auch in der kommenden Vereinigten Bundesversammlung über eine Mehrheit verfügt, ist es gut möglich, dass die jetzige BDP-Bundesrätin auch die künftige ist. Ohne das dürfte die BDP ins zweite Glied der Parlamentsparteien zurückgedrängt werden, auf den Status, den die GLP oder die EVP heute hat. Mit einer Mehrheit, die der BDP wohlgesinnt ist, kann sich das Szenario von 2011 durchaus wiederholen: Die SVP reklamiert aufgrund ihrer Stärke im Parlament einen zweiten Sitz im Bundesrat, sei es zulasten der BDP, der SP oder der FDP. Letzteres hat die geringste Priorität aus Sicht der SVP, ist aber möglicherweise der einzige Ausweg.

Die zweite Herausforderung betrifft die Zukunft der BDP. Von Beginn an hat man ihr geraten, mit der CVP zu fusionieren. Und von Anfang an setzten sich in der BDP die Kräfte durch, welche das verhindern wollten. Zwischenzeitlich haben sich die beiden Parteien elektoral fast komplementär entwickelt, denn die BDP ist ein Phänomen reformiert oder gemischt-konfessioneller Kantone mit ländlichem oder kleinstädtischem Charakter, während die CVP gleiches in mehrheitlich katholischen Gebieten ist. FusionsgegnerInnen verweisen gerne darauf, dass das nicht zusammenpasst. BefürworterInnen eines Zusammengehens interpretieren das genau umgekehrt: eine Kooperation werde so erleichtert, denn 1 plus 1 gäbe unter genau solchen Bedingungen 2. Als Gegengewicht des Zentrums gegenüber den Polen würde das der Mitte gut anstehen, selbst wenn sich an der Krux, nach links oder rechts allianzfähig bleiben zu müssen, nichts ändern würde. Das bleibt eine Knacknuss.

Doch will auch ich die BDP hier nicht erneut unterschätzen. Denn ich bin es zwischenzeitlich gewohnt, dass sie mich und andere überrascht, genau dann, wenn sie in den grössten Schwierigekeiten steckt und niemand mehr von ihr etwas erwartet.

Claude Longchamp

Ein Ja, ein Nein: sachpolitische Differenz und Institutionenvertrauen

Gewonnen haben bei den heutigen Volksabstimmungen Regierung und Parlament. Verloren haben die Parteien ganz rechts und ganz links. Fakten, Interpretationen und eine These zu den heutigen Volksentscheidungen.

Die Fakten

Die Ergebnisse des heutigen Abstimmungssonntags sind rasch zusammengefasst: Die Stimmenden hiessen die (mit Notrecht bereits einführte) Revision des Asylgesetzes zu 78 Prozent gut, und sie lehnten zu 76 Prozent die Volkswahl des Bundesrats ab. Gegen die Verfassungsänderung sprachen sich auch alle Kantone aus. Die SVP erlitt, mit knapp 24 Prozent Zustimmung ihre deutlichste Niederlage seit langem, und auch das grünrote Lager verlor mit einem Nein-Anteil von 22 Prozent gegen das Asylgesetz klar.

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Würdigung der abgelehnten Volkswahl des Bundesrats
Sachlich gesehen haben es institutionelle Reformen in der Schweiz schwer. Schnell steht im Raum, dass Parteien, die solche verlangen, mit dem Systemwechsel einen Politikwechsel verfolgen. Denn sollen sie haben, aber auf dem Weg, der dafür vorgezeichnet ist. Das hat die SVP erfahren, als si,e mit ihren Getreuen, das Referendum auf Staatsverträge ausdehnen, dem Bundesrat in Abstimmungskämpfen den Mund verbieten und dem Parlament die Behandlungsfristen für Volksintiativen verkürzen wollte. Im aktuelle Fall kommt hinzu, dass die generelle Diagnose, die Schweizer Demokratie funktioniere schlecht, mehrheitlich nicht geteilt wird; entsprechend lehnte man auch das Rezept zur Behebung der vermeintlichen Krankheit wuchtig ab. Die Partei tut gut daran, mit ihrer Demokratiekritik inskünftig vorsichtiger umzugehen.

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Würdigung der angenommenen Asylgesetzrevision
Die Revision des Asylgesetzes produzierte, in etwa, das Ergebnis, das man kennt, seit man das ursprünglich liberal ausgestaltete Asylrecht der Schweiz einschränkt: Die bürgerliche Mehrheit ist stets für restriktionen, die grünrote Minderheit ebenso so regelmässig dagegen. Das war 1987 so, aber auch 1994, 1999 und 2006. Die Opponenten beklagten die Einschränkung der legitimen Asylgesuche, beispielsweise mit dem Botschaftsasyl. Dabei übersahen sie, dass die Stimmenden nicht wegen eines Paragraphen im Gesetz entschieden, als vielmehr das Asylwesen als Ganzes beurteilen: Verbreitete umstritten sind Verfahrungslänge, Gesamtkosten und die Praxis der Asylgewährung. Analog fiel das Resultat aus: Nicht einmal das ganze grünrote Potenzial folgte den ReferendumsführerInne, die sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, den BefürworterInnen einer restriktiven Vorlagen einen Steilpass geliefert zu haben.

Die These: Institutionenvertauen, das sachpolitische Differenzen nicht ausschliesst
Bei allen Parallelen in den Volksentscheidungen zum Volkswahl und zum Asylgesetz – es gibt einen wesentlichen Unterschied: Die heute geäusserte Kritik an der Asylpolitik ist spezifisch, auf diesen Politikbereich gemünzt und kaum mit der in einem anderen vergleichbar. Die Unterstützung der Institutionen, wie sie bei der angelehnten Direktwahl des Bundesrats zum Ausdruck gebracht wurde, ist dagegen allgemeiner Natur. Sie zeigt, dass die Spielregeln der Politik in der (stimmenden) Bevölkerung besser akzeptiert sind, als PolitikerInnen wahrhaben wollen.
Ein Widerspruch? Meine Antwortet lautet: Nein! Denn man kann sachpolitisch mit Bundesrat, National- und Ständerat uneinig sein, ohne das man deshalb das Politsystem der Schweiz ablehnen muss. Im journalistischen Diskurs wird häufig zwischen diesen Dingen nicht unterschieden – zu unrecht. Denn eine Demokratie ohne Widerspruch ist keine. Doch führt der Widerspruch aus lauter Misstrauen zu keinen konstruktiven Lösungen.
Heute Abend halte ich fest: Das Politsystem Schweiz ist in der aktiven Bevölkerung besser verankert, als es gelegentlich den Anschein macht. Das heisst jedoch nicht, dass man im allgemeinen Vertrauen auch seinen spezifischen Dissens zum Ausdruck bringen kann.
Genauso wie heute geschehen!

Claude Longchamp

Trendkantone und Spezialfälle bei Volksabstimmungen

Viele glauben, der Kanton Aargau sei der Durchschnittskanton der Schweiz. Das stimmt heute eindeutig nicht mehr, wie ein Auswertung aller Abstimmungen seit 1992 zeigt. Heutiger Trendkanton ist Bern, allenfalls begleitet von Baselland und Solothurn.

Multidimensionale Skalierung heisst die Methode, welche die Verwandschaft von Fällen aufgrund ausgewählter Variablen versinnbildlicht. In den untenstehenden Visualisierungen sind die Kantone die Fälle, deren Ja-Anteil bei Volksabstimmung zu Volksinitiativen resp. Behördenvorlagen die Varibale(n).

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volksiniti
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Gelesen wird die Karten ausgehend vom Symbol “CH”: Je näher ein Kanton dazu positioniert ist, desto eher ist er in seinen Abstimmungsentscheidungen ein Durchschnittskanton; je weitere entfernt er ist, desto eher spielen kantonale Eigenheiten eine Rolle. Dargestellt sind hier die zweidimensionalen Modelle – vor allem wegen der Lesbarkeit.

Vom nationalen Mittel klar abweichend ist Appenzell-Innerrhoden einerseits. Das gilt sowohl für Volksinitiativen wie auch für Referenden. Der Ostschweizer Halbkanton markiert den rechten Pol bei Volksabstimmungen. Der linke Pol variiert. Bei Volksinitiativen ist es am ehesten der Kanton Jura, bei Behördenvorlagen der Kanton Genf. Alle anderen Kantone sind dazwischen angesiedelt. In der deutschsprachigen Schweiz bildet Baselstadt den linken Pol, in der französischsprachigen Schweiz ist der Kanton Wallis der rechte.

Die Position eben dieses Kantons legt nahe, dass es eine weitere Dimension in den Abstimmungsentscheidungen gibt. Man kann sie bei Behördenvorlagen die Regierungstreue nennen, bei Volksinitiativen, die Initiativfreundlichkeit nennen. Das Wallis markiert hier einen Pol. Kein Kanton ist so oppositionell, sowohl gegen Regierungsvorlagen wie auch gegen Volksinitiativen. Anders das Tessin. Zwar stimmt man auch hier nicht besonders regierungstreu, dafür aber initiativfreundlich.

Offensichtlich wird mit dieser Uebersicht, dass die Sprachregionen für die Zeit nach dem EWR eine wichtige Determinante der Abstimmungsentscheidungen sind. Das steht nicht im Widerspruch zur kürzlich veröffentlichen Uebersicht, die Michael Hermann publizierte. Denn bei ihm beschränkt sich die Analyse auf die deutschsprachige Schweiz, was die Bedeutung der Sprachregionen ausblendet.

Mit Bezug auf das kommende Abstimmungswochenende sind solche Karten ein guter, wenn auch nur grober Radar. Gut ist er, weil er eine Uebersicht gibt, mit welchen Kantonen nationale Trends ermittelt werden können. Grob bleibt er aber, weil es je nach Thema und Konfliktmuster relevante Abweichungen geben kann. Entsprechend müssen die Uebersichten fallweise spezifiziert werden. Im aktuellen Fall bedeutet dies, dass ich bei der Asylgesetzrevision am Sonntag mit den Kantonen Bern, Zürich und Graubünden als Trendsetter arbeite, während es die Kantone Solothurn, Graubünden und Baselland sein werden, wenn es um die Volkswahl des Bundesrates geht.

Claude Longchamp