Die Magie des achten Bundesrats

Eigentlich ist der Neuenburger Jean-Luc Portmann Staatsrechtler, Oekonom und Politologe. Liest man sein Buch zum Schweizerischen Regierungssystem, bekommt man aber den Eindruck, er sei Historiker, allenfalls Politikberater, der gute Kenntnisse hat, von wo das Regierungssystem der Schweiz kommt, was es kann, und woran es regelmässig auch krankt. Seine ganze Hoffnung auf Verbesserung investiert er in die Begründung, warum es einen achten Bundesrat/eine achte Bundesrätin brauche.

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Die frühe Verfassung
Drei verschiedene Regimes unterscheidet Portmann gleich zu Beginn des Buches: das parlamentarische, das präsidentielle und schweizerische. Dieses habe drei Charakteren: es sei direktorial, kollegial und departemental. Uebernommen habe die Helvetische Republik das aus der französischen Verfassung des Jahres III (1795), die ein Parlament mit zwei Kammern vorsah, welches die gleichberechtigten Regierungsmitglieder einzeln wählt und kontrolliert. Ganz anders als in einem parlamentarischen System es die Regierung aber nicht abberufen.

Von diesem Regierungssystem in den frühsten Demokratien hat sich Frankreich längst abgewendet; in der Schweiz hält es sich, ausgehend von der Helvetischen Republik mit Direktorium, Kommission und Rat, wie die Regierungen genannt wurden, und den frühen Kleinräten in den (regenerierten) Kantonen. Seit 1848 bildet es die Grundlage für die Konstitution des siebenköpfigen Bundesrats.

Die Bundesverfassungen von 1848, 1874 und von 1999 bestimmen juristisch die heutige Form des Bundesrats. Hinzu kommen die Revisionen von 1931 mit dem Uebergang von der drei- zur vierjährigen Amtszeit einerseits, die von 1971 anderseits, welche die Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechtes brachte. Das Kollegialsystem, eigentliches Kernstück des schweizerischen Regierungssystems, hat alle Verfassungs- und Gesetzesrevisionen überdauert. Hauptgrund hierfür sieht Portmann darin, dass es auf ein Gleichgewicht zwischen Regionen, Sprachen, Religionen, politischen Parteien, ja auch zwischen den Geschlechtern angelegt sei.

Die Reform(versuche)
Einiges, so der Autor, habe man im Verlaufe der Zeit am Regierungssystem zu ändern versucht. In seiner Uebersicht behandelt er die drei gescheiterten Anläufe für eine Volkswahl des Bundesrats. Er geht auf die Frage ein, welches die richtige Zahl dr Mitglieder sei, denn namentlich die Linke habe sie von 7 auf 9 erhöhen wollen. Schliesslich nimmt er sich auch der Quotenfrage für die Geschlechtervertretung an, wie sie in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts gestellt und verworfen worden ist. Jedes dieser Kapitel schliesst er mit Erörterungen von Vor- und Nachteilen ab, die letztlich nahe an den effektiv gefällt politischen Entscheidungen liegen.

Engagierter ist das Buch bei der Darstellung der jüngsten Staatsleitungsreform. Erstmals gefordert wurde sie Ende des 19. Jahrhunderts. Bis man damit Ernst machte, dauerte es aber noch fast ein Jahrhundert. Skandale, von dem beim Kauf des Mirage-Flugzeuges in den 60er Jahren bis zu dem, der Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts zum Rücktritt von Elisabeth Kopp als Bundesrätin führte, legten das Fundament. Die Kommission um den Basler Staatsrechtsprofessor Kurt Eichenberger formulierte die denkbaren Strategien: entweder zum parlamentarischen oder zum präsidentiellen Regierungssystem überzugehen, oder aus drei systemverträglicheren Varianten (Stärkung der Departementssekretariate, Einführung eines Präsidiums zur Führung eines vergrösserten Gremiums und Teilung der Regierung in ein kleines Kabinett, erweitert durch Minister) auszuwählen.

Die meisten kennen die Geschichte seither: Der Vorschlag mit 7 BundesrätInnen und 10 StaatssekretärInnen scheiterte in der Volksabstimmung vom 9. Juni 1996. Das löste zwar zahlreiche Aktivitäten im Parlament aus, doch hemmte es auch den Mut, die nötige Staatsleitungsreform mit der Totalrevision der Bundesverfassung von 1999 zu verbinden und abzuschliessen. Seither basteln verschiedene Akteure an einer sinnvollen und realisierbaren Reform: der Bundesrat, progressive ParlamentarierInnen, WissenschafterInnen, aber auch verschiedene politische Parteien. Fast alles davon ist trotz evidenter Mängel am Beharrungsvermögen des schweizerischen Regierungssystems gescheitert. Einziger Lichtblick: die Einführung von Staatssekretariaten, die den Bundesrat in drängenden Dossiers entlasten.

Die Position des Autors
Im kurzen Schlusskapitel bezieht der Autor Stellung. Er schlägt einen Bundesrat mit 8 Mitgliedern vor, verbunden mit der Schaffung eines Präsidialdepartements mit einem aufgewerteten Bundespräsidium.

Selber nennt Portmann sein Unterfangen „wenig amibitiös“, denn es stelle das Fundament des politischen Systems nicht in Frage, wie das beim Uebergang zum parlamentarischen oder präsidentiellen Regierungssystem der Fall wäre. Abgelehnt werden die Volkswahl und der Uebergang zu einem Koalitionssystem, denn beides sei mit den ausgebauten Volksrechten in der Schweiz nicht in Uebereinstimmung zu bringen. Schliesslich würde eine klar erhöhte Zahl an BundesrätInnen die Kollegialität pervertieren.

Den Hauptgrund für das Präsidialdepartement sieht der Autor in der Ueberlastung der jetzigen BundesrätInnen mit ihrer Departementsarbeit im Präsidialjahr. Der achte Bundesrat/die achte Bundesrätin brächte den Vorteil, Sprachminderheiten, politische Parteien und Kantone besser einbinden zu können. Gewählt würde er oder sie im Vorschlag Portmann alle zwei Jahre, ohne Möglichkeit der direkten Wiederwahl. Die Stellvertretung hätte ein Mitglied der Departements-BundesrätInnen inne. BundespräsidentIn und Stellvertretung müssten stets die verschiedenen Sprachregionen repräsentieren, so der Staatsrechtler. Das Präsidialdepartement würde die Bundesratssitzungen vorbereiten und leiten. Der/die BundespräsidentIn würde stets mitstimmen, bei Stimmengleichheit gälte die entsprechende Stimme doppelt. Anders als bei einem/r MinisterpräsidentIn hätte der/die neue BundespräsidentIn aber kein Weisungsrecht gegenüber den anderen Mitgliedern der Regierung. Im Notfall würde er oder sie provisorische Entscheidungen fällen können, mit der Verpflichtung der nachträglichen Ratifizierung.

Zur Entlastung der Departements-Bundesräte befürwortet Portmann zudem 1 bis 2 StaatssekretärInnen pro Departement, vorgeschlagen vom Departementschef, gewählt durch den Bundesrat als Ganzes und bestätigt durch das Parlament. Deren Aufgabenbereiche bestehe in der Vertretung des Departementschefs im Parlament, in den Kommissionen, in den Medien, gegenüber den Kantonen, aber auch anderen Staaten und supranationalen Organisationen.

Vom reinen Kollegialsystem würde man damit zum geführten übergehen, bilanziert Portmann seinen eigenen Vorschlag. Bei den Staatssekretariaten bildet der Autor im Wesentlichen ab, was sich als Teil der Staatsleitungsreform effektiv durchgesetzt hat, während er beim Bundespräsidium einiges darüber hinaus denkt.

Kritik
Führung, Handlungsfähigketi unter Druck, Entlastung der BundesrätInnen von der Tagesarbeit sind die zentralen Motivationen, die den Autor angetrieben haben. Vorbildlich ist seine sehr stringente Darstellung des Regierungssystems, seiner Wurzeln, seiner Stärken, aber auch seiner Schwächen. Die Reformen, die seit dem 19. Jahrhundert vorgeschlagen wurde, behandelt er bemerkenswert neutral, ohne am Ende seinen Standpunkt zu verleugnen. Man wünschte sich, dass das Buch in der deutschsprachigen Schweiz mehr rezipiert würde, denn es behandelt einen Kernbereich der Schweizer Staatswissenschaften.

Wenn man ein Bedenken platzieren soll, ist Jean-Luc Portmann etwas zu überzeugt, dass ein achter Bundesrat alles verbessern würde, was das Regierungssystem der Schweiz bisher nicht zustande gebracht hat. Das ist eine wohl zu magische Vorstellung von der Zahl der BundesrätInne, egal ob sie zu siebt sind oder zu achte wären.

Claude Longchamp

Auf dem Weg zu einem neuen Prognoseverfahren von Schweizer Parlamentswahlen

Der Start war verheissungsvoll. Rund ein Dutzend Studierende des Masters für “Schweizerische und vergleichende Politik” an der Uni Bern haben sich in meinem Forschungsseminar zur Prognose Schweizer Parlamentswahlen eingefunden. Einige Gedanken zu dem, was an der ersten Sitzung herausgekommen ist.

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Die Fabrikstrasse 2e im eben fertig umgebauten von Roll Areal in Bern dient als postindustrielle Denkstätte, unter anderem für die Sozialwissenschaften an der hiesigen Uni.

Die Intuition zuerst
Zuerst liessen wir der Intuition freien Lauf. Meine Studierenden mussten sich festlegen, welche Partei bei den Nationalratswahlen 2015 an Anteilen zulegt, welche solche verliert. Dann reflektierten wir ein erstes Mal, was die Gründe sein könnten. Schnell waren die Stichworte zusammen: generelle Fähigkeit zu mobilisieren, Mix an aktuellen Themen resp. Chancen und Risiken, ein Mitglied im Bundesrat zu gewinnen oder zu verlieren. Die kurze Präsentation des gleichentags erscheinenden Wahlbarometer lieferte erste Hinweise, was davon mehr als Vermutung sein könnte.

Wahlen als Ritual mit konstantem Ausgang
Dann ging es härter zur Sache: Bis zu Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts waren Wahlprognosen in der Schweiz relativ einfach. Die sprichwörtliche Stabilität des Parteiensystems mit vier grossen und grösseren Regierungsparteien und einer Reihe von kleineren Nicht-Regierungsparteien liess sich gut überblicken. Heraus kam bei der Wahl, was bei der letzten schon herausgekommen war.
Mit dem Ende des Kalten Krieges war das aber zu Ende; nach der EWR-Kontroverse brachen die traditionelle Parteienlandschaft, die 1919 (Proporzwahlrecht), 1959 (Zauberformel für Regierungsbeteiligung) und 1971 (Frauenwahlrecht) ihre Konturen erreicht hatte, vielerorts zusammen. Der Aufstieg der SVP begann, bisweilen kontert von SP und GPS. Seither ist die Volatilität bei Wahlen in der Schweiz schrittweise gestiegen, zuerst bei National-, dann auch bei Ständeratswahlen.
Die Veränderungen der letzten Jahre waren nicht beliebig. Zuerst prägte die Polarisierung des Parteiensystems die Entwicklung (1995 bis 2003), dann verlangsamte sich diese am linken Pol, sodass man von einem eigentlichen Rechtsruck sprechen konnte (2007). Auch der wurde 2011 gebrochen; es entstand der Trend zu neuen Mitte, der gemäss letztem Wahlbarometer anhält. Mit anderen Worten: Die jüngste Generation der schweizerischen Parteien setzt den relevanten Trend, und sie bedrängt damit Parteien, die vor ihnen entstanden sind.

Extrapolation kantonaler Trends
In den 90er Jahren wuchs die Hoffnung, man könne Schweizer Parlamentswahlen aufgrund der kantonalen Trends sicher vorhersehen. Klar ist, dass die Parteistärken national und kantonal unterschiedlich sind. Denn die Polarisierung, die Mitte der 90er Jahre einsetzte, war auf Bundesebene immer stärker als auf subnationaler. So sind FDP und CVP in den Kantonen stärker als im Bund, während für SVP, beschränkt auch für SP das Gegenteil gilt. Immerhin, die Entwicklungen auf nationaler und kantonaler Ebene verlaufen ähnlich, womit der Trend in den Kantonen zwischen zwei eidgenössischen Wahlen eine brauchbare Annäherung an Prognosen liefert.
Das Problem dieses Prognoseverfahren bleibt aber, dass sie die spezifischen Mobilisierungswirkungen nationaler Wahlkämpfe, aber auch die Trends im Wechselwählen zwischen Parteien und Parteilagern zu unterschätzen. So unterschätzte man die CVP 207 auf diesem Weg, und die SVP wurde 2011 überschätzt.
Deshalb müssen weitere Instrumente helfen, diesen Gründen der Veränderung von Parteistärken auf die Spur zu kommen. Umfragen mit Wählerstromanalysen, aber auch Aggregatdaten-Analysen, die Gleiches leisten, wären eine erste Verbesserung. Leider gibt es davon in der Schweiz viel zu wenig, vor allem zu wenig systematische Uebersichten. Für die Forschung ist das aber gut.

Erfahrungen bei den jüngsten Wahlen in den USA und in Deutschland
Die abschliessende Diskussion der Erfahrungen mit Prognosen bei den jüngsten Bundestagswahlen zeigt, dass die Kombination von verschiedenen Instrumenten der Wahlprognose diese verbessert, aber nicht vor Irrtümern schützt. Das Debakel der deutschen FDP sah fast niemand richtig voraus.
Das erfolgreichste Verfahren war die Analyse der Trends von Wahlkreis zu Wahlkreis. Das brachte eine fast perfekte Prognose. Sie erinnert in Vielem an das, was vor Jahresfrist in den USA geschah. Die genauesten Vorhersagen gingen über die Bundesstaaten, berücksichtigen KandidatInnen-Konstellationen, aktuelle Umfragen und langfristige Trends, allenfalls weitere Indikatoren. Nate Silver steht für dieses Vorgehen.

Herausgeforderte Politikwissenschaft
Die klassische Vorgehensweise in der Politikwissenschaft wird damit herausgefordert. Denn diese ist es sich gewohnt, theoretisch begründet vorzugehen, eine angepasste Methodologie zu verwenden, um relevante Daten zu analysieren und zu interpretieren. Doch die besten Prognostiker maximieren den Beitrag der statistischen Verfahren zu Prognosen, und sie verringern jenen der Theorie.

Wir werden das in unseren weiteren Ueberlegungen zur Prognose Schweizer Parlamentswahlen berücksichtigen müssen.

Claude Longchamp

Wer wie genau war, bei der Prognose der deutschen Bundestagswahlen

Ueber das Prognose-Tool PollyVote_de habe ich schon vor den deutschen Bundestagswahlen berichtet. 2013 durchlief es sein Probephase – und bestand sie, wenn auch nicht ganz problemlos. Mein Bericht.

Wäre es nach den verschiedenen Wahlbörsen gegangen, wäre die AfD in den Bundestag gelangt und die FDP drin geblieben. Das war gleich gleich zweimal falsch. Bei der AfD lagen die Prognosemärkte als einzige daneben, bei der FDP gerieten alle Prognoseverfahren bei den diesjährigen deutschen Wahlen in Schwierigkeiten.

Nun kann man Vorhersagen nicht auf die Frage reduzieren, wer der Eintrittsschwelle in den deutschen Bundestag scheitert resp. sie überwindet. Das ist zwar qualitativ von Belang, doch gehen alle Prognoseverfahren quantitativ vor. Fairer ist es deshalb, sie daran zu messen, wie gross mittlere Abweichung bei allen Parteien ist.

PollyVote hat denn auch die quantitative Güte der verschiedenen Tools im Nachhinein verglichen. Ergebnis:

. Prognosemärkte waren am ungenauesten;
. etwas besser waren ExpertInnen;
. noch präziser waren Umfragen und
. am geeignetsten, die Wahl vorauszusehen, waren Modellrechnungen.

PollyVote ging noch darüber hinaus. Im Claim der Plattform heisst es, “Prognosen gut kombiniert”. Will heissen: Am besten ist der Mix aus der vier genannten Verfahren. In der Tat wurde das Versprechen eingelöst, denn noch einen Hauch besser als die Modellrechnungen war PollyVote selber.

Damit bestätigt sich in Deutschland, was in sich in der amerikanischen Wahlforschung vor kurzem eingebürgert hat. Statt auf eine Umfrage zu achten, schaut man auf alle. Statt Umfragen alleine beizuziehen, lässt man sich von allen serösen Instrumenten beraten.

Der mittlere Fehler dieses doppelten Kombis beträgt 0,97 Prozentpunkte pro Partei. Das Hauptproblem betrifft die CDU/CSU, gefolgt von den Grünen. Erst dann kommen die FDP und die AfD an die Reihe. Weitgehend unproblematisch waren die Einschätzungen von von PollyVote bei der SPD, den Piraten und der Linken.

Alles klar? Wie immer bei solchen Aggregatoren, die vom Schnitt ausgehen, sind einige Teilinstrumente ungenauer resp. genauer als das Mittel. Am genauesten von allen war die Website “election_de“. Denn sie lag praktisch überall richtig; mittlerer Schätzfehler: sensationelle 0,1 Prozent pro Partei.

Das Dumme nur: Die Statistiker dahinter verraten fast nichts, wie sie vorgegangen sind. Man erfährt nur, dass sie die zitterhaften Umfragen mit den langfristigen Trends kombinieren, und über die Wahlkreise vorgehen, um die Parteistärken zu prognostizieren. Wie genau das geht, bleibt ihre Mysterium.

Claude Longchamp

Einen Tag vor der deutschen Bundestagswahl

PollyVote, in den USA erfolgreich eingesetzt, um den Ausgang der Präsidentschaftswahlen vorauszusagen, wurde 2013 erstmals auch bei den deutschen Bundestagswahlen verwendet. Ich fiebere mit, denn mich interessiert, ob es ein Exportschlager wird.

Aggregatoren nennt man Tools wie PollyVote in der Fachsprache. Sie funktionieren nach dem Motto: Jedes noch so gute Instrument hat Schwächen, ohne dass man sie im Voraus kennt. Also nutzt man sie parallel, möglichst ohne vorherige Gewichtung. In Detuschland stellt PollyVote auf vier Instrumente ab: Repräsentativ-Umfragen, Prognosemärkten, Modellrechnung und ExpertInnen- Urteilem. Wenn ein Instrument in mehrfacher Ausführung vorkommt, wird mit dem Mittelwert der entsprechenden Ergebnissen gearbeitet.

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Grafik anclicken um sie zu vergrössern.

Gemäss PollyVote kommt die CDU/CSU bei den morgigen Bundestagswahlen auf 39 Prozent; sie würde sich damit um rund 6 Prozentpunkte gegenüber der Vorwahl verbessern. Zulegen dürfte auch die SPD, die auf 26 Prozent kommt. 11 Prozent gehen an die Grünen/Bündnis’90, 8 an Die Linke und 6 an die FDP. Darüber hinaus schafft keine Partei die 5 Prozenthürde. Es scheitern die AfD mit 4 und die Piraten mit 3 Prozentpunkten. Unter den Parlamentsparteien läuft es auf ein Patt heraus: Schwarz-Gelb und Rot-Rot-Grün haben je 45 Prozent. Das lässt alles offen: die Fortsetzung der bisherigen Koalition, eine schwarz-rote Allianz und eine linkes Bündnis. Letzteres gilt als das unwahrscheinlichste Szenario, weil es nur eine rechnerische, keine politische Mehrheit wäre.

Natürlich wartet man gespannt darauf, ob die Vorhersage stimmt resp. wie genau sie ist. Das alles wissen wir abschliessend erst morgen Abend. Heute schon können wir die Instrumente im Vergleich beurteilen. Die hierzu relevanten Befunde sind:

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Die vier Linien entsprechen von oben nach unten: Modellen, Umfragen, Experten, Polly-Vote-Schnitt, Börsen. Grafik anclicken um sie zu vergrössern.

. Drei der vier Instrumente sehen die Alternative für Deutschland nicht im neuen Bundestag vertreten. Die Abweichung findet sich bei den Prognosemärkten. Diese Instrument, der Börse nachempfunden, gibt als einziges der AfD einen WählerInnen-Anteil von 6 Prozent, was für den Einzug reichen würde.
. Identisch sind die 4 Werte für die Grünen/Bündnis’90, fast der Fall ist dies bei der Linken und bei der FDP. Bei dieser Partei variirien die Angaben um maximal 9 Promille, wobei die Umfragen am tiefsten sind, bei jener um 8 Promille, denn die ExpertInnen haben die Links-Partei tiefer als alle anderen.
. Uneinheitlicher sind die Werte für die beiden Grossparteien. Die SPD schwankt zwischen 25.2 Prozent in den Prognosemärkten und 26.9 Prozent bei den ExpertInnen. Die CDU wiederum kommt an der Börse auf 36.8 Prozent, in den Modellrechnungen gar auf 40,7 Prozent. Die Eigenheiten der Instrumente nach Parteien sind dabei über die Zeit fast konstant geblieben, sprich haben whl etwas mit der Auswahl der Indikatoren oder der TeilnehmerInnen zu tun.

Mit anderen Worten: ExpertInnen haben eine Affinität zur SPD; die Börsen eine zur AfD; vor allem letzteres bekommt der CDU/CSU nicht gut.

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Die Linien entsprechend von oben nach unten: ExpertInnen, Polly-Vote-Schnitt, Umfragen, Modellen, Börsen. Grafik anclicken um sie zu vergrössern.

Natürlich fiebere ich ein wenig mit Kollege Andreas Graefe von der Uni München mit; denn sollte sich der US-Export in Deutschland bewähren, sehe ich vor, 2015 ein ähnliches Tableau auch bei den Nationalratswahlen 2015 anzuwenden!

Claude Longchamp

hier noch die vier Umfragen von heute im Vergleich

Datengetriebene Recherche und Umsetzung zwischen Journalismus und Aktivismus

Zum 3. Mal organisierten gestern Orell Füssli Wirtschaftsinformation und das MAZ, die Schweizer Journalistenschule, eine Tagung zum Datenjournalismus in der Schweiz. Anwendungsbeispiele standen im Zentrum des Interesses. Eine Schilderung meiner Lernings und Einsichten

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Illustration aus der unten verlinkten Kartenserie der NZZ

Meine wichtigste Erkenntnis des Vortrag(halb)tages war: Die Grenzziehung zwischen datengetriebenem Journalismus und Aktivismus ist fliessend.

Marek Tuszynski, mit Verve im TacticalTechnologyCollctive engagiert, machte dies am klarsten deutlich. Der Filmemacher unterstützt Nichtregierungsorganisationen in ihrem Kampf gegen das global ausdgerichtete Verbrechen. „Exposing the Invisible“ heisst das Projekt. „Our currency is information“ ist ein beispielhafter Kurzfilm, der in diesem Rahmen entstanden ist. Dabei geht es darum aufzuzeigen, wid internationale Finanzströme verlaufen, Briefkastenfirmen vernetzt sind, um nationale Gesetze zugunsten von Korruption zu umgehen oder Warenhandel jenseits von Deklarationspflichten zu organisieren. Wirkung ist beabsichtigte, Konflikte sind vorprogrammiert.

Einiges unpolitischer ist der Datenjournalismus in Schweizer Medien. Der Tamedia-Verlag hat das Eis gebrochen, aktuell ziehen andere Medienhäuser wie der NZZ-Verlag nach.

NZZdata hat diesen Sommer 20 Tage lang in Serie neue Gesichter der Schweiz produziert. 20 Karten sind so entstanden, von denen die meisten ungewohnte Bilder des Landes zeichneten, sei es, weil sie neue Informationen verwendeten oder bekannte Information neu versinnbildlichten. Teils standen die Karten mit Legenden allein in der NZZ, teils waren sie umgeben von ganzen Reportagen. Sylke Gruhnwald zeigte in ihrem Referat, dass das Interesse der Lesenden und Sehenden überdurchschnittlich vorhanden sei, machte aber auch deutlich, wie der start-up in der (Wirtschafts)Redaktion funktioniert. Denn er kämpft um Anerkennung, Stellenprozente und um Vermittlung von Text und Bild. Resultat sei, dass man noch nach bei der bekannten Infografik verharre. Im Sommer habe man Konjunktur gehabt, meinte sie, nicht zuletzt weil wegen mangelnder Textauslastung die Freiheit zum Visuellen in den Publikationen der NZZ-Gruppe grösser als üblich war. Dabei sei man auch schon an die Belastungsgrenze für MacherInnen und Medium gestossen.

Julian Schmidli gehört in der Schweiz zu den JournalistInnen, die den Datenjournalismus schon länger prägen. Für die Sonntagszeitung und LeTemps hat er verschiedene Reportagen und Hintergrundsberichte inspiriert, recherchiert angetrieben. Eindrücklich waren vor allem die Finanzströme bei der Vergabe öffentlicher Mandate durch die Bundesverwaltung. Die grafische Aufarbeitung der stark synthetisierten Information machte auf einen Blick klar, welche eminente Bedeutung beispielsweise die Verkehrsausgaben dabei haben, aber auch, welche Unternehmungen davon profitieren. (Unsinnigerweise ist der Beitrag auf Internet allerdings nur ohne Visualisierung einsehbar).

Schmidlis Erfahrungen kontrovers diskutierte Erfahrungen zeigten auch, wo Problematiken des Datenjournalismus liegen, selbst wenn man keiner politischen Bewegung verpflichtet ist. Nicht nur Daten treiben die Recherche, auch die journalistischen Massstäbe heizen sie an. Komplexität muss nicht nur aufgearbeitet, sondern auch systematisch reduziert werden. Und der Tendenz zur Objektivierung von Masseninformationen mittels Diagrammen steht der journalistische Zwang zum Runterbrechen auf das Beispiel hinter dem Muster gegenüber. Eine datenjournalistische Arbeit sei dann gut, meinte der Referent, wenn der Mensch mit seiner Geschichte das Ergebnis in seiner Darstellung ins Zentrum gerückt werden könne.

Neuerdings öffnet sich auch die Politikwissenschaft dem Datenjournalismus, indem beispielsweise politische Landschaften kartografiert, aber auch Netzwerke von Akteure in der Politik transparent gemacht werden, die auf komplexen Informationen basieren. Man kann gespannt sein, was der Master in Datenjournalismus, der diese Woche am Institut für Politiukwissenschaft an der Uni Zürich beginnt, hier an Forschungsergebnissen bringen wird. Ich werde mich im nächsten Herbst da ebenfalls einbringen!

Claude Longchamp

Die Tagung hier auf den NSN mitverfolgen.

Mein Einsatzplan für den Abstimmungssonntag

Am kommenden Abstimmungswochenende steht die Volksentscheidung zur Aufhebung der Wehrpflicht, der Liberalisierung der Tankstellenshop und der Revision des Epidemiengesetzes an. Hier schon mal, was wo kommt..

Wie üblich, führt gfs.bern die Hochrechnungen für die SRG-Medien durch. Nachstehend der Fahrplan, samt meinen persönlichen Einsätzen auf den SRF Kanälen. Abweichungen von wenigen Minuten aufgrund des Sendeverlaufes sind möglich.

1230 Trendrechnung Wehrpflicht
1235 Kommentar im Radio

1300 Trendrechnung Epidemiengesetz und Tankstellenshops
1300 Hochrechnung Wehrpflicht
1305 Kommentar im Radio
1320 Kommentar im Fernsehen

1330 Hochrechnung Epidemiengesetz und Tankstellenshops
1335 Kommentar im Fernsehen
1345 Kommentar im Radio

1355 Analyse Social Media im Abstimmungskampf
1405 Analyse Abstimmungskampf

1505 Hochrechnung Stimmbeteiligung

1605 Erstanalyse Tankstellenshops
1635 Erstanalyse Epidemiengesetz und Wehrpflicht

1730 Social-Media am Abstimmungssonntag

1915 Schlussanalyse Abstimmungssonntag

Erläuterungen

Trendrechnung: Ja-Trend (55%+), Nein-Trend (45%-), keine Trendaussage möglich (alles dazwischen), basierend auf frühen Kantonsergebnissen
Hochrechnung: Angaben in % zum Volksmehr, Unsicherheitsbereich +/-3%punkte, bei knappen Ergebnissen wird die Hochrechnung halbstündlich wiederholt, mit verringertem Unsicherheitsbereich
Erstanalyse: Analyse zentraler räumlich bestimmbarer Einflussfaktoren auf die Kantonsergebnisse (wie Sprache, Siedlungsart, Betroffenheit).

Claude Longchamp

Was man zum Ausgang der Volksabstimmungen vom 22. September 2013 weiss – und was nicht.

Bei Wahlen haben 3 Wochen vor dem entscheidenden Tag 9 von 10, die sich beteiligen wollen, eine bestimmbare Absicht, wen sie wählen wollen. Bei Abstimmungen liegt der Wert deutlich tiefer, was Prognosen erschwert.

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Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Heute erscheint die SRG-Befragung zu den Volksabstimmungen vom 22. September 2013. Interviewt wurden hierzu von gfs.bern 1406 repräsentativ ausgewählte Stimmberechtigte. 45 Prozent wollen sich bestimmt beteiligen, sagt die Hochrechnung der Befragungsergebnisse. Berücksichtigt man nur diese, ist die Meinungsbildung bei der Aufhebung der Wehrpflicht fortgeschritten, bei den Ladenöffnungszeiten im Mittel, beim Epidemiengesetz unterdurchschnittlich. Jeweils zwei Zahlen belegen das:

. Nur 6 Prozent wussten gar nicht, wie sie bei der Wehrpflicht-Vorlage stimmen sollten, weitere 27 Prozent hatten eine nur einigermassen gerichtete Absicht, ohne schon entschieden gewesen zu sein.
. Bei der Tankstellenvorlage waren 7 Prozent ganz unschlüssig, zusätzlich 33 Prozent eher.
. Klar höher fielen die Werte zum Epidemiengesetz aus. 12 Prozent äusserten in der Befragung keine Stimmabsichten, weitere 39 Prozent eher.

Gründe hierfür gibt es verschiedene. Als Erstes sei die Intensität des Abstimmungskampfes erwähnt: Namentlich zum Epidemiengesetz bleibt diese zurück. Die beiden anderen Vorlagen finden mehr mediale Aufmerksamkeit, erhitzen die Gemüter aber weniger als auch schon. Typisch hierfür: Über die 1:12 Initiative, deren Volksentscheid erst am 24. November 2013 fällt, wird jetzt schon mehr debattiert. Und auch der Gripen-Kauf ist spannender als die nächste Volksabstimmung. Nimmt man die Entwicklung von der ersten zur zweiten Umfrage als Massstab für Kampagnenwirkungen, haben diese die kollektive Entschiedenheit bei den Tankstellenshops um 9 Prozentpunkte erhöht, bei der Wehrpflicht-Vorlage um 7 Prozentpunkte. Beim Epidemiengesetz ist, auf aggregierter Ebene, keine Veränderung feststellbar.

Als Zweites sei die Vorentschiedenheit der Bürgerschaft erwähnt. Bei einfachen und alltagsnahen Vorlagen wissen Herr und Frau Schweizer auch ohne Kampagnen, was sie stimmen wollen. Bei der Armee-Vorlage waren das 7 Wochen vor dem Abstimmungstag 60 Prozent der Beteiligungswilligen, bei den Tankstellenshops 51 von Hundert, und beim Epidemiengesetz lag der Wert mit 48 Prozent unter der Hälfte. Massgebliche Ursachen sind der reelle oder symbolische Bezug zum Alltag der BürgerInnen, die Möglichkeit, sich auf einen Blick eine Meinung zu bilden, und die Erfahrungen, die man mit dem Thema hat. Das ist bei der Wehrpflicht-Vorlage alles gegeben gewesen. Bei den beiden anderen Vorlagen war das nicht der Fall, denn die interessenmässige Betroffenheit ist zielgruppenspezifischer, und ohne Studium der Vorlageninhalte kann man die aufgeworfene Abstimmungsfrage nicht wirklich beantworten.

Was nun sind die Konsequenzen? Zunächst sei die Sicherheit erwähnt, mit der ein bestimmtes Abstimmungsergebnis feststeht. Das ist bei der Wehrpflicht im üblichen Masse der Fall, bei den Tankstellenshops etwas weniger, und beim Epidemiengesetz ist eigentlich noch vieles möglich. Sodann liegt, unter Einbezug der ermittelten Stimmverhältnisse nahe, dass die GSoA-Initiative durchfällt, während die Entscheidung bei der Änderung des Arbeitsgesetzes auf Messersspitze zustrebt. Der Ausgang ist letztlich offen. Beim Epidemiengesetz ist der Zielbereich am grössten, doch ist die Ja-Seite im beschränkten Vorteil, denn sie hat unter den Entschiedenen einen Vorsprung von 10 Prozentpunkten.

Die daraus abgeleiteten Titel des Forschungsberichtes lauten:

“Tankstellenshop-Vorlage nach wie vor offen”
“Befürworter des Epidemiengesetzes unverändert im Vorteil”
“Nein zur abschaffung des Wehrpflicht gefestig.”

Claude Longchamp

Erwartungen zum Ausgang der Volksabstimmungen vom 22. September 2013

In zwei Wochen sind eidgenössische Volksabstimmungen. Entschieden wird über die Abschaffung der Wehrpflicht, die Neuregelung des Verkaufssortimentes in Tankstellenshops und das Epidemiengesetz. Mit welchen Ausgängen der Volksentscheidungen kann man rechnen?

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Instrumente

Etabliert sind Abstimmungsumfragen; den Standard in der Schweiz setzen im Abstimmungskampf die SRG-Umfragen. Sie basieren auf einer zweifachen Erhebung von Stimmabsichten und Argumentebewertungen bei einem repräsentativen Kreis von 1200 resp. 1400 Stimmberechtigter, die mittels Telefoninterviews befragt werden.
Bezieht man sich auf die 1. (von 2) Wellen, wird die Abschaffung der Wehrpflicht abgelehnt, das Epidemiengesetz eher angenommen, und ist die Entscheidung zu den Tankstellenshops (noch) offen.

SRG-Trendbefragung / gfs.bern
Wehrpflicht: 35:57 (8)
Tankstellenshops: 46:47 (7)
Epidemiengesetz: 49:39 (12)

Zielmlich regelmässig veröffentlicht auch die Zeitung “20 min” das Ergebnis einer grossen LeserInnen-Befragung, realisiert via die online-Plattform des Mediums. Beeindruckend ist jeweils die Befragtenzahl; ein Anspruch auf Repräsentativität wird indessen nicht erhoben, weil es keine systematische Auswahl an Befragten gibt.
Die eben veröffentlichen Werte der neueste Erhebung lassen die Schlüsse zu, dass die Aufhebung der Wehrpflicht scheitert, das Epidemiengesetz eher angenommen als abgelehnt wird, während die Verkaufregelung zu Tankstellenshop eine klare Mehrheit fände.

20 min online Befragung
Wehrpflicht: 41:55 (4)
Tankstellenshops: 67:28 (5)
Epidemiengesetz: 48:33 (19)

Ebenfalls wiederkehrend sind zwischenzeitlich Prognosemärkte, die nach dem Börsenprinzip funktionieren. Virtuell gehandelt werden dabei Aktien, deren Kurswert dem Prognosewert der Abstimmung entspricht. Unterschieden wird zwischen offenen Prognosemärkten, wo im Prinzip jede und jeder mitmachen kann (z.B. Wahlfieber), und geschlossenen, bei denen nur Experten eine Prognose abgeben. Politikprognosen veröffentlicht solche Vorhersage, basierend auf einem geschlossenen Panel.
Demnach scheitert die Aufhebung der Wehrpflicht, wird das Epidemiengesetz angenommen, und die Liberalisierung der Tankstellenshop steht bei halbe/halbe.

Politikprognosen
Wehrpflicht: 35:65
Tankstellenshops: 50:50
Epidemiengesetz: 67:33

Zu den neuesten Versuchen der Abstimmungsvoranalyse zählt ein Prognoseverfahren, entwickelt für den Blog von Oliver Strijbis, der auch den erwähnten Prognosemarkt betreut. Die erstmals verwendete Prognoseregel basiert auf den SRG-Daten seit 2008, nimmt aber nicht zum Nennwert, sondern projiziert sie bereits frühzeitig auf den Abstimmungstag.
Folgt man politikprognosen, wird die Wehrpflicht abgelehnt, während die Verkaufszeiten der Tankestellenshop eher nicht geändert würden, und das Epidemiengesetz eher eine Mehrheit fände.

50plus1
Wehrpflicht: 32:68
Tankstellenshops: 47:53
Epidemiengesetz: 53:47

Vergleiche

Gänzliche Einigkeit herrscht also nur in einem Fall – nämlich bei der Aufhebung der allgemeinen Wehrpflicht; alle vier Instrumente gehen von einem Scheitern der Volksinitiative aus. Das entspricht notabene auch der Erfahrungsregel, wonach Initiativen scheitern, wenn sie (wie die der GSoA) parteipolitisch stark zwischen Links und Rechts polarisieren.
Einigermassen einig ist man sich beim Epidemiengesetz, das gemäss Erhebungen und Vorhersagen durchgehen dürfte, wenn auch eher knapp. Ein Ausreisser findet sich hier aber bei Politikprognosen, denn demnach wird die Vorlage klar angenommen.
Weit auseinander liegen die Annahmen zur Liberalisierung Verkäufe in Tankstellenshops: “20 min” sieht das Ja klar in der Mehrheit, die erste SRG-Umfrage lässt den Ausgang offen, ebenso der Prognosemarkt. 50plus1 rechnet gar man mit einem knappen Nein.

Diskussion

Wenn bei der Tankstellenvorlagen die beiden Umfragen arg differieren, hat das aller Voraussicht nach mit dem differierenden Publikum zu tun: Bei den SRG-Befragung ist es ein repräsentativer Querschnitt der stimmberechtigten Bevölkerung; bei “20 min” die Leserschaft der Online-Plattform, die eine klare Affinität zu jungen Menschen hat.
Schwierig zu erörtern ist die grösser Differenz beim Epidemiengesetz zwischen den Umfragen einerseits, dem Prognosemarkt anderseits. Hauptsgrund ist hier, dass politikprognosen.ch keinen Einblick gewährt in die Zahl und Zusammensetzung des ExpertInnen-Panels. Das macht die Qualifizierung der Aussagen unmöglich.

Uebrigens: Diese Woche erscheint die zweite Welle der SRG-Trendbefragungen. Es wird sich weisen, welche Veränderungen der Ausgangslagen die Abstimmungskämpfe gebracht haben. Die Aufdatierung der Momentaufnahmen erscheint am Mittwochabend.

Claude Longchamp

Halbzeitbilanz bei den kantonalen Wahlen

44 Prozent der SchweizerInnen konnten seit den letzte eidg. Parlamentswahlen 2011 in ihrem Kanton die Volksvertretung neu bestellen. Klarer Sieger dieser Serie ist die GLP, gefolgt von BDP und SP. Sie alle haben mehr gewonnen als verloren. Weitgehend stabil erwies sich die Rechte, genauer gesagt die SVP und die EDU haben eine ausgeglichene Bilanz. Markanteste Verliererin der kantonalen Wahlen war die CVP, gefolgt von der FDP; zu dieser Gruppe gehört auch die GPS. Für Lega und MCR gab es noch keine Testwahl.

Ueberblickt man Gewinne und Verluste, kann man festhalten: Die Polarisierung im Parteiensystem ist beendet. Vorbei sind die Zeiten, als die Konfrontation von SVP und SP/GPS diesen Parteien half. Das prägte zwar das schweizerische Wahlgeschehen zwischen 1995 und 2003 ungebrochen; danach fand sich eher ein Trend zu rechtskonservativen Parteien. Auch das lief 2011 aus. Insofern bestätigen die kantonalen Wahlen den damaligen Hauptbefund.

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Fortgesetzt hat sich auch die Baisse der CVP und FDP, ebenso der Siegeszug von GLP und BDP; denn auch das zählte zu den Lehren 2011. Der Umbau der traditionellen Mittel schreitet damit voran: Die FDP hat sich thematisch weiter nach rechts bewegt, was im Zentrum Platz gibt. Und das Aufbäumen der CVP nach der Abwahl von Ruth Metzler aus dem Bundesrat war definitiv nur von kurzer Dauer. Die BDP hat seit 2011 eine makellose Bilanz; in keiner Wahl, zu der sie antrat, verlor sie Wählende. Mit Ausnahme von Baselstadt gilt dies auch für die GLP. Bei FDP ist die Zwischenbilanz nach Kantonen gemischt. Besonders ins Gewicht fällt die Niederlage der CVP im Kanton Wallis; doch kommen 9 weitere Kantonen hinzu, in denen die Partei Verluste an Wählendenanteile kannte.

Rotgrün hat sich insgesamt gehalten, mit leicht unterschiedlichen Akzepten zwischen den Parteien. Die SP legte in den kantonalen Wahlen minimal zu, die GPS verloren ebenso wenig. In Kantonen wie Uri, Thurgau, Waadt und Baselstadt mag das eine Folge des direkten Stimmentausches gewesen sein. In den anderen Kantonen sind die Ursachen sehr wahrscheinlich komplexer.

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In der Schweiz verfügt man, anders als etwas in Oesterreich, nicht über regelmässig erstellte Analysen der Wählendenströme. Deshalb müssen entsprechende Schätzungen theoretisch vorgenommen und anhand verfügbarer Informationen überprüft werden. Ein solches Modell habe ich hier entwickelt:

. Es geht davon aus, dass die Mobilisierung stabil ist; negative Teilnahmebilanzen dürften die Polparteien haben, alle anderen könnten sich halten oder minimal verbessern.
. Die GLP zieht Wählende über die Lagergrenzen hinweg an, während die BDP weitgehend ein Phänomen der Rechtspositionierung von SVP und FDP.
. CVP und FDP befinden sich in der ungemütlichen Lage, sowohl nach rechts wie in die Mitte Wählende zu verlieren. Die SVP wiederum profitiert davon, hab aber als Polpartei ein Mobilisierungsproblem.
. SP und GPS kennen einen beschränkten Stimmentausch, haben aber mit der GLP Konkurrenz erhalten.

Direkte Schlüsse von den kantonalen auf die nationalen Wahl 2015 zu ziehen, halte ich für verfrüht und punktuell für irreführend. Denn namentlich die SVP kennt auf den beiden Ebenen unterschiedliche Parteistärken wie auch verschiedenartige Trends. Das hängt mit ihrer Fähigkeit zusammen, auf nationaler Ebene die Medienaufmerksamkeit für sich zu gewinnen, sodass sie personell wie thematisch bei eidg. Wahlen dominanter ist als bei kantonalen. Wie weit sie ihre bisherige Stärke 2015 ausspielen kann, ist aber offener als auch schon.

Claude Longchamp

Neue Mandatsverteilung der Kantone im Nationalrat: Vorteile für SVP und CVP, Nachteile für GPS und FDP

Hätte die Sitzverteilung im Nationalrat, die 2015 zur Anwendung kommt, schon 2011 gegolten, hätten die SVP und CVP je eine Vertretung mehr in der grossen Kammer gehabt, und es wären FDP und GPS entsprechend geschwächt worden.

Der Bundesrat hat die Sitzzahl der Kantone im Nationalrat der Bevölkerungszahl der Gliedstaaten angepasst. Da die einzelnen Kantone ungleich stark wachsen, kann das zu Verschiebungen der Gewichte unter Kantonen führen, mit Folgen für die Parteien.

Eine Simulation der Sitzverteilung für 2011 nach den Regeln für 2015 lässt erahnen, was in zwei Jahren geschieht:

. In Zürich hätte die SVP einen Sitz gewonnen, im Aargau und im Wallis wäre je ein Mandat an die CVP gegangen.
. In Bern hätte dafür die GPS einen Sitz verloren, das gleiche wäre der CVP in Solothurn passiert und der FDP in Neuenburg.

Bilanziert man die Auswirkungen de neuen Mandatsverteilung unter den Kantonen wären zwei eher konservative Parteien etwas gestärkt worden, und es wären zwei eher progressive Parteien ein wenig schwächer in der grossen Kammer vertreten gewesen.

Personell hätte es 2011 bei den Grünen die Bernerin Regula Rytz getroffen, die heutige Parteipräsidentin, bei der CVP den Solothurner Stefan Müller-Altermatt, und bei der FDP wäre der Neuenburger Alain Ribeau nicht nach Bern gereist.

Natürlich haftet der Aussage auch etwas Spekulatives an: Denn die Simulation unterstellt, dass alle gleich gewählt hätten. Das muss nicht sein, denn in kleineren Kantonen hängt die Wahl einer Partei auch von der Wahrscheinlichkeit ab, dass sie einen Sitz macht. Und das ist davon abhängig, wie viele Sitze verteilt werden können. So ist denkbar, dass kleine Parteien in Neuenburg und Solothurn geschwächt worden wären, zum Vorteil grösserer.

Immerhin, die vorgenommene Simulation ist die beste Möglichkeit, um zu sehen, was passiert wäre. Und das hilft zu verstehen, was dereinst passieren könnte. Sie ist auf jeden Fall besser als der Verweis auf die Restmandate 2011. Denn deren Bestimmung hängt ebenfalls von der Sitzzahl eines Kantons ab, sodass deren Aenderungen auch zu einer Verschiebung der Restmandatverteilung führen kann.

Deshalb gilt: Die neue Mandatsverteilung des Nationalratssitze auf die Kantone stellt die Schweizer Politik nicht auf den Kopf; sie modifiziert aber die Gewichte von moderneren zu konservativeren Parteien.

Claude Longchamp