Der “Tagi” bringt heute ein Streitgespräche zwischen Christoph Blocher und Andreas Gross, zwei überzeugten Direktdemokraten, die aus unterschiedlichen Positionen Volksentscheidungen für richtig halten und deshalb zu ganz anderen Konzepten von direkter Demokratie kommen.
Links: Andreas Gross, rechts: Christoph Blocher
Es überrascht nicht, wenn im Nachgang zur Minarett-Abstimmung politische Spähne fliegen, und es auch nicht an persönlichen Unterstellungen mangelt. Reduziert man die Kontroverse zwischen alt Bundesrat Blocher und National- und Europarat Gross auf ihren sachlichen Kern, entsteht ein aussagekräftige Bild der Kontroverse über die direkte Demokratie, wie sie von aussen- und innenorientierten SchweizerInnen geführt wird. Hier das Dutzend Kernsätze, das bei mir nachhallte:
Andreas Gross, Politikwissenschafter, SP, National- und Europarat
“Ist ist das Wesen der Demokratie, dass sie offen ist. Man darf immer wieder auf demokratische Art auf das zurückkommen, was entschieden wurde. Denn es nicht sicher, dass sich die Mehrheit nie irrt.”
“Das Volk selbst hat in der neuen Bundesverfassung festgelegt, dass es Minderheiten und Grundrechte aller respektieren will.”
“1974, nachdem endlich das Frauenstimmrecht anerkannt wurde, konnten wir der Menschenrechtskonvention beitreten.”
“Ich plädiere dafür, dass wir künftig Initiativen auch auf den Kernbestand der Menschenrechtskonvention hin überprüfen.”
“Ich will die Demokratie nicht einschränken, aber menschenrechtskompatibel machen.”
“Der Menschrechtsgerichtshof schützt die Menschenrechte vor der Tyrannei von Mehrheiten.”
Christoph Blocher, Dr. iur., SVP, alt-Bundesrat und ehemaliger Justizminister der Schweiz
“Das Parlament masst sich an, zu sagen, worüber das Volk abstimmen darf. Und die Richter, dazu erst noch fremde Richter, sollen sagen, was sich umsetzen lässt und was nicht.”
“Wir haben eine klare Verfassungsbestimmung: Die Einheit der Materie und das zwingende Völkerrecht sind die einzigen Schranken für Volksinitiativen.”
“Den Despoten erkennt man bei einem für ihn negativen Volksentscheid. Der Demokrat hingegen sagt: Ich war dagegen, das Volk hat entschieden. Jetzt wird es umgesetzt.”
“In der Geschichte hat sich gezeigt, dass das Volk treuer zu Grundrechten und zur Demokratie stand als Verwaltungen und Parlamente.”
“Die Schweiz ist ein souveräner Staat. Sie muss nur zwingendes Völkerrecht einhalten.”
“Abstimmen ist für viele Bürger auch ein Menschenrecht.”
Wenn man von der Minarett-Abstimmung abstrahiert, erkennt man die Polarität. Für Christoph Blocher ist abstimmen ein Menschenrecht. Für Andreas Gross müssen Menschenrecht vor Abstimmungen geschützt werden.
Was nun gilt? Oder ist beides überzeichnet?
Die beiden sind mt ihren Meinungen gar nicht so weit auseinander, wie es vielleicht klingt.
Natürlich ist es sinnlos, wenn über Dinge abgestimmt werden, die dem Menschenrecht widersprechen. Allerdings sind die Menschenrechte von Menschen definiert worden, und dies ist wohl auch kaum über alle Zweifel auf ewige Zeiten erhaben.
Auch wenn das Minarettverbot rückgängig gemacht werden sollte: es wurde viel erreicht. den Politikern wurde bewusst, wie fremd sie der Bevölkerung sind, wie sie Probleme verschlafen haben wie unfähig sie ist, auf Kritik von aussen zu reagieren.
“es wurde viel erreicht. den Politikern wurde bewusst, wie fremd sie der Bevölkerung sind, wie sie Probleme verschlafen haben wie unfähig sie ist, auf Kritik von aussen zu reagieren.” – rehcolb
Mir sind zum Teil gewisse Teile der Bevölkerung fremd, oder wirken fremd auf mich, wenn sie an der Urne ihren Frust unreflektiert ablassen. Da habe ich grosse Zweifel, dass so direkte Demokratie noch etwas taugt, mir ist diese Unverbindlichkeit dann doch zu demokratiefern. Zudem würde ich Demokratie nicht auf das Einwerfen eines Wahl- oder Stimmzettels beschränken. Auch Debatten, ob am Stammtisch, im Blog, im Unisaal, im Tram, am Mittagstisch, in der Schule etc. und ihre jeweilige Qualität gehören m.E. dazu.
ja Ursula, da hast du recht. Genau das Frust ablassen zeugt davon, dass die Stimmbürger ein Schuh drückt, und dass die Politiker dieses Problem bewusst nicht angegangen sind.
Es ist richtig, dass das Einwerfen eines Stimm-oder Wahlzettels nicht die Demokratie an sich ausmacht. Aber es ist ein Teil davon, und es zeigt auch die Unzulänglichkeit, was bei jedem anderen System wohl in viel stärkerem Mass auch zutrifft.
Wäre irgendwo auf der Welt ein besseres System vorhanden, so melde dich bitte wieder. Denke aber auch daran, dass auch der Mensch zum System gehört.
apropos Frust: Am besten wissen jene Bescheid, die mit Ausländern bezüglich der bekannten Gewalttaten oder Kriminalitäten ihre Erfahrung gemacht haben. Ich glaube nicht, dass einer von uns diese Erfahrungen auch machen will.
Die Schweiz hält sich bisher an die Gerichtsbeschlüsse des europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Die Schweizer müssten also zuerst aus diesen Verträgen aussteigen um das Minarettverbot in der Bundesverfassung auch in der Zukunft dort eingetragen zu erhalten. Ich nehme an dass die meisten Stimmbürger davon Kenntnis besassen, dass man daher die Entscheide dieser richterlichen Instanz einhalten muss.
Aber es gibt Gründe weshalb ich denoch dafür war dass diese Initiative durchgeführt werden konnte. Der heisst: Ohne Kläger kein Richter und ohne Rechtsentscheid des Menschenrechtsgerichtshof keine Rechtssicherheit für das Verbot aus Sicht der vertraglich vereinbarten Menschenrechte. Sollte die Justiz gegen das Verbot richten, so würde sich lediglich eine Bauverzögerung geplanter Minarette ergeben. Hingegen weiss nun alle Welt wie die Mehrheit der Schweizer denkt und wie sie zum Islam stehen.
Sollte der Gerichtshof gegen die Stimmenmehrheit in diesem Lande entscheiden, so wissen dann die Schweizer wie es um ihre ethischen Vorstellungen bestellt ist und die Muslime würden ermutigt um ihre Rechte als Minderheit zu kämpfen.
Es ist aus meiner Sicht notwendig um seine Rechte zu kämpfen, auch wenn man nur eine kleine Gruppe ist. Dazu ist es sicher von Vorteil wenn man die Rechtsvorstellung der Mehrheit nicht nur als diffuses Gerücht kennt.
Die direkte Demokratie kann lokale Minderheiten nicht genügend schützen, daher ist die Schweiz ja auch Mitglied im Europarat und Menschenrechtsgerichtshof. Irrtümer in Menschenrechtsfragen durch eine Nation lassen sich nicht damit verhindern, dass man dort die demokratische Entscheidung darüber blockiert. Auch über eine Nation wie die Schweiz darf gelegentlich ‘von aussen’ gerichtet werden und aus meiner Sicht sollte die Politik dies auch solange riskieren wie der interne Rechtsdienst vor einer Abstimmung im Streit darüber ist ob damit Menschenrechte verletzt werden.
Sollte die Schweiz nach einem Rechtsentscheid denoch am Minarettverbot festhalten, so müsste der Bund hingegen den Austritt aus den Verträgen beschliessen und den Europarat verlassen um einen Vertragsbruch zu verhindern. Diese drohende Konsequenz wurde den Stimmbürgern aus meiner Sicht in der Wegleitung zur Abstimmung nicht erläutert.
Menschenrechtsverletzungen oder Verletzungen gegen das Völkerrecht haben meist Konsequenzen die weit in die Zukunft reichen, auch demokratische Entscheide können zu einem schlechten Gewissen führen. Ich hoffe selbst, dass die geneigte Stimmenmehrheit für ihre Ja-Stimme zum Minarettverbot davon nicht erspart wird.