Zwei der drei Abstimmungsvorlagen vom 29. November 2009 eignen sich, um bestimmte Eigenheiten der Meinungsbildung, wie sie die Abstimmungsforschung kennt, fast mustergültig aufzuzeigen. Zu unterscheiden gilt es zwischen Problematisierungsinitiativen wie jener zum Bauverbot von Minaretten und Lösungsinitiativen wie die zum Exportverbot von Kriegsmaterial.
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Unterschiedliche Meinungsbildung: Bei Kriegsmaterialausfuhr nimmt das Ja ab, während es bei beim Minarett-Verbot zunimmt.
Die Lösungsinitiative
Die meisten Initiative nehmen Themen auf, die in der Oeffentlichkeit schon häufig diskutiert wurden, und versuchen sie, einer politischen Lösung zuzuführen. Typisch hierfür die Volksinitiative für ein Ausfuhrverbot von Kriegsmaterial. Darüber wird ungefähr alle 20 Jahre einmal abgestimmt.
Lösungsinitiativen kennen vor dem Abstimmungskampf meist eine hohe Zustimmung. Es kann gut sein, dass die Ja-Seite am Anfang eine Mehrheit hinter sich weiss. Doch baut sich unter dem Eindruck der Kampagnen vor allem das Nein zulasten Unschlüssiger auf, und es kann sogar sein, dass sich ein Teil der spontanen BefürworterInnen umbesinnt und ins Nein-Lager wechselt. Damit sinken die Chancen einer Annahme mit der Auseinandersetzung.
Das kann man auch bei der Initiative für ein Exportverbot von Kriegsmaterial bereits jetzt beobachten. Von Mitte Oktober bis Mitte November 2009 nahm die Ablehnung von 44 auf 50 Prozent zu, und es verringerte sich die Zustimmung von 41 auf 39 Prozent. Das Nein liegt damit vorne, und es wächst im Zeitvergleich. Ohne ganz überraschende Ereignisse bis zum Abstimmungstag wird dieser Trend anhalten, und die Vorlage wird abgelehnt werden.
Die Problematisierungsinitiative
Volksinitiativen wie jene zum Bauverbot von Minaretten werden lanciert, um ein verkanntes Anliegen auf die öffentliche Agenda zu setzen und damit so weit problematisieren, dass es politisch behandelt werden muss.
Das prägt auch den Prozess der Entscheidfindung. Die anfängliche Zustimmung ist nur in fordernden, radikal eingestellten Minderheiten vorhanden. Gelingt es diesen nicht, die Initiative medial zu profilieren, fällt das Anliegen mit einer wuchtigen Ablehnung durch. Schaffen sie es aber, vorhandene Unzufriedenheiten verschiedenster Art mit der Initiative aufs Tapett zu bringen, nimmt die anfänglich geringe Zustimmung zu. Gleiches gilt im häufigeren Fall auch für die Ablehnung, während sich diese im selteneren Fall verringert.
Genau das zeichnet sich bei der Minarett-Initiative ab: Die Zustimmung steigt unter dem Eindruck des Abstimmungskampfes von 34 auf vorerst 37 Prozent an. Aussagen über den Abstimmungsausgang sind nicht eindeutig möglich: Im wahrscheinlicheren Fall scheitert die Initiative, denn die vorhandene Nein-Mehrheit gibt den Ausschlag. Im unwahrscheinlicheren Fall steigert sich das Ja noch über den gesamten Anteil der Unschlüssigen hinaus und kann so zur Mehrheit werden.
Zwar sind solche Prozess eher selten, sie sind aber nicht auszuschliessen. Das war beispielsweise bei der Asylinitiative der SVP im Jahre 2002 der Fall, aber auch bei der Abschaffung der Armee 1989. In beiden Fällen wuchs die Zustimmung bis zur Abstimmungstag, – auch wenn sie schliesslich nicht die Mehrheit ausmachte.
Claude Longchamp
Der Forschungsbericht zur zweiten Welle SRG-Trend zu den Volksabstimmungen vom 29. November 2009, der heute erschienen ist.
Natürlich ist die Initiative schlecht für die Arbeitslosigkeit, und wenn die Schweiz keine Waffen liefert, dann tut es ein anderer. Soweit ist die Initiative eigentlich Blödsinn.
Allerdings ist es halt schon paradox, wenn wir Kriege anprangern, selber aber diese direkt oder indirekt unterstützen. Paradox ist aber auch, wenn wir in Ländern Entwicklungshilfe betreiben, die sich selber aber eine moderne Armee leisten können.
Formal hast du recht, Volksrechte wie die Initiative sind dafür da, die Verfassung flexibel ändern zu können, und zwar auch mit Vorschlägen, die im Parlament keine Mehrheit finden.
Was aber aus staatspolitisch begründeten Instrumenten in der Praxis wird, ist nicht immer so eindeutig. So entpuppte sich das fakultative Referendum weniger als Volksrecht, sondern als “Verbandsrecht”. Denn vor allem die Verbände, die glaubwürdig mit dem Referendum drohen können, verschaffen sich im Gesetzgebungsprozess Einfluss. Das war 1874 bei der Einführung nicht vorgesehen, sprach man doch von einer Nachkontrolle von Parlamentsentscheidungen durch das Volk. Doch ergab es sich, weil kein Parlament gerne verliert und deshalb bestrebt ist, die Positionen referendumsfähiger Gruppen präventiv zu berücksichtigen – mit der Absicht, eine Referendumsabstimmung zu vermeiden.
In diesem Beitrag ging es mir um eine weitere Funktionsanalyse von Volksrechten. Klassisch ist das Profil der Lösungsinitiative. Sie schlägt etwas vor, dass im Parlament nicht durchkommt, will aber zur Haltung des Parlamentes eine Alternative bieten, über deren Gültigkeit die StimmbürgerInnen entscheiden.
Doch zeigt die Analyse der Initiative auch, dass sie indirekte Wirkungen zeigen, selbst wenn sie abgelehnt werden: Denn sie beeinflussen Gesetzgebungsprozesse, sie zeigen auf, wie die politische Grosswetterlage ist, – und sie setzen verdrängte Themen auf die politische Agenda.
Man nehme nur die SVP-Asylinitiative. Sie scheiterte 2002, bereitete aber den Weg von Christoph Blocher in der Bundesrat im Jahre 2003 vor, was seinerseits die Asylgesetzgebung in der Schweiz nachhaltig beeinflusste, und 2005 in der Volksabstimmung breit unterstützt durchging. Oder die GSoA-Abstimmung von 1989: Die Initiative scheiterte sogar klar, doch zeigt sie auf, dass die Schweizer nicht mehr wie ein Mann hinter der Armee standen, und die hauptsächlichen Dienstleister, die 20-30jährigen Männer gar mehrheitlich gegen die Armee waren. Das löste einen anhaltenden Reformprozess in der Armee selbeer aus, führte zu zwei grossen Umstrukturierungen des Militärs, die in Volksabstimmungen gutgeheissen wurden.
Das nenne ich die Problematisierungsinitiative: Fast egal welchen Inhalts sie ist, sie setzt ein Thema auf die politische Agenda. Diese bestimmen in der Folge nicht mehr die Initianten, sondern wieder die Parlamentsmehrheit. Der Anstoss hierzu, die “Initiative” eben, kam aber von aussen.
Mindestens das Profil einer Problematisierungsinitiative hat das Volksbegehren gegen Minarett in meiner Einschätzung.