Erprobt und entwicklungsfähig, lautet die Bilanz nach 10 Jahren mit der neuen Bundesverfassung

Am 18. April 2009 jährt sich die Entscheidung zur neuen Bundesverfassung der Schweiz zum zehnten Mal. Der Basler Historiker Georg Kreis hat das zum Anlass für eine Standortbestimmung genommen und 8 JuristInnen sowie 2 Sozialwissenschafter zu Bilanzen aufgefordert. Hier die Uebersicht.

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Auslöser für das kleine Büchlein, das es seit einigen Tagen gibt, ist der Stolz, dass es nach jahrelangen Vorarbeiten zu einer eindeutigen Zustimmung in der Volksentscheidung gekommen ist. Der reicht allerdings nicht so weit, um von kritischen Gedanken zum Potenzial der Verfassungsrevision für weitere Reformarbeiten abzulenken.

Die Stimmen der JuristInnen

Magistral eröffnet als Bundesrat Arnold Koller die Uebersicht über die vollbrachten Leistungnen. Die formelle Nachführung des Verfassungsrechts habe mehr als erwartet gebracht, sagt der Vater der Reform. Die neue, übersichtliche Systematik habe die Einfügung weiterer Reformpakete wie die Justizreform, den Finanzausgleich und die Bildungsartikel wesentlich erleichtert. In den Schulen würde die lesbarer gewordene Verfassung vermehrt eingesetzt, und im Ausland habe sie Respekt und Anerkennung gefunden. Heinrich Koller, weiland sein Chefbeamter, doppelt nach: Wenn man bedenke, dass viele der damals am Werk Beteiligten es später in Verwaltung, Gerichten, an Universitäten und im Journalismus zu Ruhm und Ehre gebracht haben, werde deutlich, über welch beeindruckendes Potenzial die Bundesverwaltung während dieses Reformprozesses verfügte (und immer wieder verfüge).

Lob bekommt die Revision der Bundesverfassung Bernhard Ehrenzeller, St. Galler Professor für öffentliches Recht, weil sie die Kantone zu einer starken Vereinheitlichung ihres Verfassungsrechts veranlasst habe. Als Ergebnis der jahrenlangen Reformbemühungen in Bund und Kantonen zeige sich heute das Verfassungsbild eines koordinierten schweizerischen Bundesstaates, der genügend Platz für Experimente in den Kantonen, zwischen ihnen und im Verhältnis zum Bund lasse.

Aehnliches konstatiert auch Thomas Cottier auf dem Gebiet der Integrationspolitik. Deshalb sei die Bundesverfassung kein Hemmschuh, vielmehr die Basis für die Beteiligung der Schweiz am europäischen Grossprojekt. Wenn das nicht auf Anhieb gelinge, sei das eher in der poltischen Kultur der Schweiz begründet als im Verfassungsrecht. Vielleicht, lässt der Berner Europarechtler gelten, habe die neue Bundesverfassung aber zu wenig traditionsorientierten Staatsbildern, politisch motivierte Mythen und Ideologien aufgeräumt.

Damit ist man im Sammelband fast nahtlos an die Schwelle der kritischen Betrachtungen geführt worden. Zuerst fällt einem da die von alt Ständerat Rene Rhinow (und Martin Graf) auf. Die anlässlich der Reform ’99 angekündigte Staatsleitungsreform sei bis heute nicht verwirklicht worden; sie scheitere unverändert am nachhaltigen Widerstand des Bundesrates. Die nachgelagerten Bereichsreformen für direkte Demorktie, Justiz und Finanzen seien nur teilweise erfolgreich gewesen, und der Funke der Verfassungspflege aus der Nachführung sei gar nicht institutionalisiert worden. Schlimmer noch, man habe mit der neuen Bundesverfassung nicht vermeiden können, dass die gegenwärtige politische Landschaft bedenkliche Tendenzen eines verminderten rechtsstaatlichen Bewusstseins zeige.

Kritisch stuft auch der Bundesbeamte Luzius Mader das Verhältnis zwischen Bund und Kantonen ein. Das 2008 geschaffene Haus der Kantone – ein Symbol der gestärkten Bedeutung des Föderalismus – könne nicht darüber hinweg täuschen, dass die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen unbefriedigend geblieben sei. Höchst umstrittene rechtspolitische Debatten über Massnahmen des Bundes gegen Hooliganismus, gegen gefährliche Hunde oder über Rauchverbote seien beredete Beispiele für den gegenwärtigen Zustand, den man nicht totschweigen könne. Gleiches gelte auch für die Vernachlässigung von Kantonsaufgaben, etwa der inneren Sicherheit, die fast bedenkenlos bisweilen an den Bund, bisweilen an private Schutzorganisationen delegiert werde.

Schliesslich verweist auch die Freiburger Europarechtlerin Astrid Epiney auf ungelöste Probleme im Verhältnis zum Integrationsprozess der Schweiz. Aufzeigen lässt sich das an der Behandlung völkerrechtswidriger Initiativen. Ihr bleibt angesichts verbliebener Lücken vor allem die Hoffnung auf befriedigende Lösungen in der Zukunft, während der vormalige Präsident des Bundesgerichts Giusep Nay konkrete Vorschläge prüft, wie das Rechtsstaatsprinzip unter Achtung der direktdemorkatischen Rechte verwirklicht werden solle.

Die Stimmen der Sozialwissenschafter
Vor diesem spannenden tour d’horizont von Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsreform in der Schweiz übernimmt Georg Kreis die Aufabe, den konkreten Entscheidungsprozess bis 1999 nachzuvollziehen. Kurt Imhof, Soziologe in Zürich, reiht das in die bisherigen Verfassungsrevision auf Bundesebene ein, um die Pfadabhängigkeit der jüngsten Reform im Lichte der Veränderungen von 1848 und 1874, nicht aber von 1935 zu spiegeln.

Die eigentliche Pointe setzt aber der Politologe Leonhard Neidhard im anregenden Band: Dem Palaver über Institutionenreform, wie sie aktuell beim Bundesrat geführt werde, mag er kein weiteres Wort hinzufügen. Viel wichtiger ist ihm, warum es sich ein Land wie die Schweiz leisten könne, Verfassungsrevisionen fast gänzlich ohne das Volk durchzuziehen. Sein Schluss besteht im Hinweis auf eine stabile Metaverfassung, die es in der Schweiz gebe und die auf der kommunalen und kantonalen Ebene auf intensiver Eingrenzung basiere. Sie lasse kleine Veränderungen regelmässig zu und bestimme so das effektive politische Leben. Deshalb würden Reformvorhaben immer mehr versprechen als einhalten.

Die mentale der Verfassung der Schweiz sei in jüngster Zeit auch nicht durch den Nachvollzug des eigenen Verfassungsrechts beeinflusst worden. Vielmehr sei die gut regulierte Willensnation Schweiz zeitgeschichtlich gesehen nur mit der EWR-Entscheidung von 1992 wirklich aufgerüttelt worden. Doch auch da beginne inzwischen jener Bilateralismus zu wirken, der das schweizerische Verhältnis von Kulturräumen und Kantonen zueinander präge. Man sei klein, meist unbedeutend und störe nur selten. Das erlaube es, flexibel mit allen zusammenzuarbeiten. Und so gehöre man faktisch dazu, ohne es zu merken – ganz wie es die Appenzeller in der Eidgenossenschaft schon lang machen würden.

Ein wirklich kunterbuntes Geburtstagsgeschenk, das die Prominenz der Bundesverfassung da gemacht hat!

Claude Longchamp

Georg Kreis (Hg.): Erprobt und entwicklungsfähig. Zehn Jahre neue Bundesverfassung, NZZ-Verlag, Zürich 2009