Claude Longchamp zu den Baselbieter Wahlen: «Im Baselbiet werden die Weichen neu gestellt»

Original in der BZB, 12.2.23

Politikwissenschaftler Claude Longchamp analysiert, wie EVP-Kandidat Thomi Jourdan bei den Baselbieter Regierungswahlen den Coup geschafft und welche Fehler die SVP gemacht hat.

Herr Longchamp, wie gross ist Ihre Überraschung über den Ausgang der Baselbieter Wahlen?

Claude Longchamp: Es ist eine Überraschung mit Ansage. Nüchtern betrachtet herrscht extreme Stabilität im Kanton Baselland. Alle vier Bisherigen wurden wiedergewählt, sogar in der gleichen Reihenfolge wie 2019. Wenn man bedenkt, was in den vier Jahren alles passiert ist – Klimawahl, Frauenwahl, Pandemie, Ukraine-Krieg, Energiekrise – ist das ein Zeichen höchster Stabilität.

Bemerkenswert ist ja Platz 5, wo EVP-Kandidat Thomi Jourdan die anfängliche Favoritin Sandra Sollberger klar hinter sich liess.

Schon Thomas Weber landete als SVP-Regierungsrat vor vier Jahren auf dem fünften Platz. Damals aber mit einer hausinternen Konkurrenz. Dieses Mal gab es eine Bewerbung aus der politischen Mitte. Das war eine neue Ausgangslage: Zuvor gab es immer eine klare Polarisierung mit bürgerlich gegen Rot-Grün. Jetzt kam die Möglichkeit des Ausgleichs dazu.

Wo sehen Sie die Gründe für den Coup von Thomi Jourdan?

Er war eine unkonventionelle EVP-Kandidatur: Ein Managertyp, der einen offensiven und für seine Partei extrem personalisierten Wahlkampf geführt hat, der sich auch nicht auf die klassischen EVP-Themen beschränkte. Schon alleine sein Einsatz von Plakaten und Werbemittel ist nicht typisch für die EVP. Er schaffte es, dass plötzlich Spannung im Baselbieter Wahlkampf aufkam.

Sandra Sollberger als anfängliche Favoritin kam dagegen nie richtig auf Touren.

Sie war von Anfang an umstritten. Vielen ist sie politisch zu rechts. Zudem wurden Zweifel an ihrer Kompetenz geäussert. Dazu kommt ein Wahlkampf, der als ziemlich misslungen bezeichnet werden muss. Spätestens nach dem Podium bei der Handelskammer war die Kritik auch von Partnern und auch aus den eigenen Reihen nicht mehr zu überhören. Als Effekt resultierte ein völlig defensiver Wahlkampf, der darauf ausgerichtet war, möglichst wenig Fehler zu machen – für die SVP eine völlig untypische Rolle. Das gab einen Rollenwechsel: Jourdan war in der Offensive und Sollberger in der Defensive. Aus diesem Überraschungsmoment kam Frau Sollberger nicht mehr raus. Deshalb war es eine überraschende Wahl mit Ansage.

Die SVP hat von Beginn weg auf Sandra Sollberger als einzige Variante gesetzt und auch bei den bürgerlichen Partnern war kaum mehr als ein Aufmucken zu hören. War das ein taktischer Fehler?

Die Grundregel bei Konkordanz-Wahlen ist: In die Exekutive werden mehrheitsfähige Personen gewählt, die nicht allzu stark anecken und vertretbar sind für andere Parteien. Die SVP ist aber in den vergangenen Jahren immer wieder mit Kandidaten angetreten, die dieses Profil nicht erfüllt haben. Man wollte den Erfolg erzwingen. So gesehen war Sollberger eine nachvollziehbare Kandidatin. Eher überraschend war für mich, dass dieses Vorgehen in den bürgerlichen Parteien mit verhaltenster Kritik geschluckt wurde mit dem Ziel, so die Regierungsmehrheit zu sichern.

Was bedeutet es für Thomi Jourdan, Regierungsrat zu sein als Vertreter einer Kleinstpartei?

Das ist ein Vertrauensvorschuss in ihn als Person, politisch aber eine Herausforderung. Schweizweit gesehen ist es nicht ein ganz neues Phänomen. Für mich ist die Wahl ein Ausdruck, dass sich das politische Zentrum im Umbruch befindet und neu formiert. Es wird nicht mehr eindeutig von der Mitte, also der früheren CVP besetzt. Bisher hat man vor allem den Grünliberalen zugetraut, hier die Parteienlandschaft neu zu prägen. Die EVP hatte man eher weniger auf der Rechnung. Wenn man aber die kantonalen Wahlen dieser Legislatur anschaut, hat diese nach den Grünliberalen und den Grünen die drittbeste Bilanz.

Welche Schlüsse kann man aus dem heutigen Tag für die nationalen Wahlen im Herbst ziehen?

Mir fällt auch bei den Parlamentswahlen die grosse Stabilität auf. Luft ist bei der GLP drin, wohl zu Lasten der Grünen. Und es baut sich sachte etwas Neues rund um die Mitte-Partei auf. Was auch die Wahlen im Kanton Zürich gezeigt haben: Allen disruptiven Ereignissen zum Trotz bleiben die Verhältnisse stabil. Die Stimmbevölkerung reagiert auf die Verunsicherungen nicht mit Wut, was eine Voraussetzung für Änderungen wäre, sondern mit Angst, was den Status Quo stärkt.