Entscheidet Ueberforderung den Abstimmungsausgang? Neue Antworten auf eine alte Frage

Haben Multipack-Abstimmungen einen Einfluss auf das Ergebnis an der Urne? Diese Frage warf gestern der Wissenschaftsblog “DefactoExpert” auf. Und er kommt zu einem neuen Schluss.


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Die recht pauschale Antwort bisher
Die bisher übliche Antwort lautet: Je mehr Vorlagen an einem Abstimmungswochenende zur Entscheidung anstehen, umso höher ist die Beteiligung. Allerdings nimmt an sog. “Super-Sundays” auch die Ueberforderung der Stimmenden zu. Hauptgrund ist, dass Multipack-Abstimmungen verschiedene Teilpublika ansprechen, die nicht automatisch stimmen gehen. Sie werden, durch ihre Lieblingsvorlage mobilisiert, aber sie stimmen meist bei allen Gegenständen ab.

Ein neues Konzept
Im neuen Sammelband “Direkte Demokratie in der Schweiz. Neue Erkenntnisse aus der Abstimmungsforschung” klärt Forscher Thomas Milic vom Liechtenstein-Institut die Frage aufgrund der Entscheidungsqualität neu. Dazu zählt er
. das Ausmass des Vorlagenwissens
. die Fähigkeit, den Entscheid auch inhaltsbezogen begründen zu können
. die Fähigkeit, seine sachpolitischen Präferenzen auch in einen entsprechenden Entscheid umzusetzen («Correct Voting») und
. das Ausmass der Entscheidungsambivalenz

Die empirischen Befunde
Die Analyse des Indexes der Entscheidungsqualität ergibt:
Erstens, tatsächlich findet die inhaltliche Auseinandersetzung vor allem mit der jeweiligen “Lokomotiv-Vorlagen” statt. Entsprechend höher ist hier die Entscheidungsqualität. Bei den «Wagen»-Vorlagen ist sie tiefer, aber sie “nimmt nicht automatisch ab, je höher die Zahl der Vorlagen an einem Abstimmungswochenende ist.”
Zweitens, die Entscheidungsqualität leidet vielmehr unter der Teilnahme von Gelegenheitsstimmenden. “Ahnungslosigkeit betreffend Inhalt der Vorlage, direkte Umsetzung von Empfehlungen und Entscheide, die mit den eigentlichen Präferenen in der Sachfrage nicht übereinstimmen, nehmen bei diesen Teilnehmenden zu.”
Drittens, die Qualitätseinbussen bei der Stimmentscheidung hat “möglicherweise Auswirkungen auf das Ergebnis einer Volksabstimmung. So steigt bei grösseren Multipacks die Gefahr, dass es bei insgesamt knappen Mehrheitsverhältnissen die Schlechtinformierten sind, die den Ausschlag für die eine oder die andere Seite geben.”

Meine Anwendung auf das kommendene Abstimmungs-Päckli
Die Anwendung dieser differenzierten Einsichten auf die anstehenden Volksabstimmung führt mich zu folgenden Schlüssen:
Erstens, die aktuelle Vorlagenzahl ist durchschnittlich hoch und nicht das eigentliche Problem für die Entscheidungsqualität. Am ehesten dürfte das aber beim Verrechnungssteuergesetz der Fall sein. In allen Umfragen ist hier die Zahl der ganz oder teilweise unschlüssigen Bürger:innen am höchsten, was für eine vorlagentypische Ueberforderung spricht.
Zweitens, Probleme mit der Entscheidungsqualität sind dann zu erwarten, wenn die national Beteiligung über dem langjährigen Mittel von rund 46 Prozent liegt. Das zeichnet sich momentan nicht ab. Sollte die finale Teilnahmequote aber über 50 Prozent sein, kann man die Frage aufwerfen. Sie müsste mit den Nachanalysen für genau die Zielgruppe und die Vorlage geprüft werden.
Drittens, wenn das Vorlagen-Ergebnis bei der Verrechnungssteuer sehr knapp sein sollte (also zwischen 53 und 47 Prozent beispielsweise) müsste so auch geprüft werden, ob Schlechtinformierte den Ausschlag für die Mehrheit gegeben habe. Zwingend ist das nicht, aber mit erhöhter Wahrscheinlichkeit kann es vorkommen.

Kurzes Fazit für morgen und übermorgen
Am Sonntag Nachmittag werden wir wissen, wie hoch Beteiligung und wie knapp der Ergebnis bei der Verrechnungssteuervorlage war. Eine empirisch gesicherte Antwort auf die aufgeworfene Frage wird dann noch nicht vorliegen. Denn es sind theoretisch gruppenspezifische “last swings” in beide Richtungen möglich. Aber eine spannende Hypothese, die mit der VOX-Nachbefragung getestet werden kann, hätte wir schon mal.

Claude Longchamp