Massentierhaltung: Genügt der bestehende Tierschutz oder nicht?

In vier Monaten, am 25. September 2022, stimmt die Schweiz über vier Vorlagen ab. Eine davon ist die Volksinitiative gegen Massentierhaltung. Meine erste Auslegeordnung.

Die Massentierhaltungsinitiative
Die neue Volksinitiative verlangt, dass der Bund die Würde des Tiers in der landwirtschaftlichen Tierhaltung schützt. Das umfasse den Anspruch, nicht in Massentierhaltung zu leben, die nur auf effiziente Gewinnung tierischer Erzeugnisse ausgerichtet sei. Der Bund lege insbesondere Kriterien für eine tierfreundliche Unterbringung und Pflege, den Zugang ins Freie, die Schlachtung und die maximale Gruppengrösse je Stall fest. Er erlässt dafür auch Vorschriften über die Einfuhr von Tieren und tierischen Erzeugnissen zu Ernährungszwecken.
Die Trägerschaft besteht aus vier Organisationen, namentlich Sentience, Vier Pfoten, Fondation Franz Weber und Greenpeace Schweiz. Im Initiativkomitee sind zahlreiche TierschützerInnen, zwei grüne NationalrätInnen, WissenschafterInnen und Privatpersonen vertreten.

Die behördliche Willensbildung
Der Bundesrat wird durch BR Sommaruga und das UVEK vertreten. Erwogen wurde ein Gegenvorschlag. Handlungsbedarf besteht bei allen Tieren, wenn es um eine tierfreundliche Unterbringung und Pflege, um regelmässigen Auslauf und um eine schonende Schlachtung gehe.
Das Parlament teilte diese Einschätzung nicht. Deshalb gibt es dazu keine Abstimmung.
Während der parlamentarischen Beratung der Initiative selber unterschieden sich die beiden Lager in der Wahrnehmung der Lage fundamental. Für die Gegnerschaft hat die Schweiz eines der strengsten Tierschutzgesetze der Welt. Die BefürworterInnen beklagten systematische Missstände bei Schweinen, Hühner und Kühen.
In der parlamentarischen Beratung formierte sich im Hintergrund die Interessenvertretung der Landwirtschaft. Gestärkt durch das Nein zu den Agrarinitiative 2021 verfolgte sich eine kompromisslose Nein-Linie.
In der Schlussabstimmung votierten die bürgerlichen ParlamentarierInnen fast geschlossen dagegen. Rotgrün stimmt ebenso homogen für die Initiative. Die GLP schloss sich ihr an, als der Gegenvorschlag nicht zustande kam. Im Nationalrat waren total 77 VolksvertreterInnen dafür, 106 dagegen. 8 enthielten sich, 9 waren abwesend.
Hochgerechnet auf die Volksabstimmung lässt das auf ein Zustimmungspotenzial von 41% der Stimmen schliessen. Das entspricht ziemlich genau dem heutigen Schnitt bei Volksinitiativen und ist etwas mehr als bei einem durchschnittlichen rotgrünen Volksbegehren.

Die wahrscheinlichste Referenzabstimmung
Wichtigste Referenzabstimmung in jüngster Zeit dürfte die Fair-Food-Initiative gewesen sein. Auch sie griff in die Ernährungsproduktion ein und forderte eine Abkehr von der industriellen Produktion.
In der Volksabstimmung 2018 wurde die Fair-Food-Initiative mit 62 Prozent Nein-Stimmen recht klar verworfen.
Der Verlauf der Meinungsbildung legte nahe, dass die Vorlage ursprünglich einen hohen Sympathiewert genoss, im Abstimmungskampf aber an der stark kritisierten Preisfolge der Massnahmen scheiterte.
Medial waren LeTemps am klarsten dafür, die NZZ am deutlichsten dagegen. Bei den Wochenzeitungen favorisierten Matin Dimanche und der Sonntagsblick den Ja-Standpunkt, die Weltwoche und die Sonntagszeitung die Nein-Sichtweise.
Profilieren konnten sich vor allem die Grüne auf der Ja-Seite, der Bundesrat, Wirtschaftsverbände und Unternehmen aus der Nahrungsmittelbranche im Nein-Lager.
Nachanalysen zeigten, dass es sich um einen postmaterialistischen Konflikt handelte. Die Basis der Auseinandersetzung war ökonomischer Natur, allerdings durch Wertfragen überlagert. Diese betrafen die Oekologie und einen aktiven Staat. Klar Ja sagten die Wählenden der Grünen, der SP, die Stimmenden unter 40 Jahren und Menschen in Ausbildung. Bürgerlich Wählende, im Haushalt Tätige oder im Ruhestand Lebende waren klar dagegen.
Noch liegen keine aktuellen Umfragen vor, die allgemein zugänglich wären. Es bleibt offen, ob Startchancen und Abstimmungsausgang für die neue Initiative günstiger sind. Sicher hat die Sensibilität für die Nahrungsmittelproduktion mit dem Klimajahr 2019 zugenommen. Umgekehrt zeigt die Abstimmung über das CO2-Gesetz, dass die Preissensibilität entsprechender Massnahmen breit vorhanden ist.

Der ersten Spuren des Abstimmungskampfes
Der Abstimmungskampf hat mit der definitiven Terminierung der Volksentscheidung eben erst begonnen. Er könnte sehr lange sein, denn die Volksabstimmung ist erst in vier Monaten.
Die geschlossen agierenden bürgerlichen Parteien warteten umgehend mit einer koordinierten Medienmitteilung auf. Sie rückte die Versorgungssicherheit in bewegten (Kriegs)Zeiten ins Zentrum. Die Grünen im Kanton Genf vermeldeten gleichentags, dass sie von Gewählten auf Kantons- und Bundesebene erwarteten, an offiziellen Anlässen kein Fleisch mehr zu essen. Das Thema ist also gesetzt.
Es ist mit einem emotional geführten Abstimmungskampf zu rechnen. Er dürfte ausgesprochen bildhaft geführt werden und in selbst in den Fakten kontrovers ausfallen.
Die Nein-Seite favorisiert in ihrem Argumentarium, dass die Schweiz ein weltweit einzigartig strenges Tierschutzgesetz habe. Sie kenne gesetzlich limitierte Zahl an Tieren pro Betrieb bei Hühnern, Schweinen und Kälbern. Sie verfüge über ein sehr wirksames Anreizprogramm für besonders tierfreundliche Ställe, und sie habe regelmässigen Auslauf der Tiere im Freien eingeführt. Zahlreiche Labelangebote würden den KonsumentInnen helfen.
Die InitiantInnen sehen in der Massentierhaltung tierische Grundbedürfnisse in praktisch allen Belangen missachtet. Grosse Gruppen von Tieren lebten auf engstem Raum zusammengepfercht. Trotz ihrer Leidensfähigkeit würden Tiere in der Massentierhaltung nicht als Lebewesen, sondern als reine Produkte betrachtet. Wie die heutigen Zustände zeigten, reiche das geltende Tierschutzgesetz nicht aus, um drastische Einschnitte in das Wohlbefinden und die Würde der Tiere zu verhindern.

Womit man rechnen kann

Für die Top-Position in der medialen Abstimmungsberichterstattung vor dem 25. September 2022 dürfte er aber nicht reichen. Da wird wohl bei der AHV-Kontroverse vorne liegen.
Erwartet werden kann, dass die SVP, FDP und Mitte die Nein-Parole beschliessen, während die SP, Grüne und Grünliberale ein Ja empfehlen werden. Unklar ist noch die Position der EVP. Im Parlament gaben ihre Mitglieder die Stimmen verschieden ab.
Zudem kann damit rechnen, dass die Initiative gegen Massentierhaltung in frühen Umfragen von einer Mehrheit unterstützt werden wird. Doch dürfte der Ja-Anteil mit der Dauer des Abstimmungskampfes erodieren.
Das würde dem Normalfall der Meinungsbildung bei einer Volksinitiative entsprechen. Wenig spricht dafür, dass es sich um eine Abweichung handelt. Wichtigste Voraussetzung wäre nämlich, dass der Tierschutz zu den Top-Themen der BürgerInnen-Sorgen zählen würde. Nur das könnte eine eigentliche Protestabstimmung gegen die Behördenentscheidung und damit eine ganze andere Dynamik der Meinungsbildung auslösen.

Claude Longchamp