Die grüne Welle rollt weiter, doch vom Linksrutsch bleibt nichts mehr übrig

Die einfache Polarisierung der Politik ist aufgelaufen. In den Kantonen ist das unübersehbar. Die Grüne Welle rollt weiter, der Linksrutsch ist gestoppt.

Addiert man die Sitzgewinne der GLP und der Grünen in den kantonalen Parlamentswahlen seit der Klimawahl 2019, kommt man auf ein Plus von 97 Mandaten. Das ist eine eindrückliche Bestätigung der grünen Welle. Addiert man die Sitze der SP und der Grünen, kommt man für den gleichen Zeitraum auf ein Minus von 1 Sitz. Das widerlegt den Linksrutsch der jüngsten nationalen Wahl ebenso klar.$
Gleiches suggerieren auch die beiden jüngsten nationalen Umfragen zu den Parteistärken: Im Wahlbarometer der SRG verlor links 1 Prozentpunkt, grün gewann 2. Bei der Tamedia-Erhebung legten die vereinten Grünen 1 Prozent zu, links büsste 2 Prozent ein.


Trendgrafik zu den Gewinnen und Verlusten der linken Parteien seit den Nationalratswahlen 2019
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Der Trend von 2020 bis 2022
Analysiert man die kantonalen Parlamentswahlen während der laufenden nationalen Legislaturperiode einzeln, erhält man eine Zeitreihe mit 16 Messpunkte und ein rollendes Mittel als Trendkurve (siehe Grafik).
Demnach gab es 2020 und 2021 Gewinne der aufaddierten linken Parteien. Sie lagen ziemlich konstant zwischen 1,5 und 2 Prozentpunkten. Selbstredend betraf er nicht beide Parteien: Die Grünen gewann fast immer hinzu, die SP verlor in aller Regel. Doch wurde die gesamte linke Wählerschaft nicht kleiner.
Genau das hat sich 2022 geändert. In Nidwalden hatten beide Parteien erstmals gleichzeitig eine negative Wahlbilanz. Es sammelte die erstmals antretende GLP Wählende von allen Parteien, auch von SP und Grünen.
Seither sind mit den Kantonen Waadt und Bern zwei grosse Gliedstaaten mit einer etablierten Linken hinzugekommen. Auch ist die GLP da nicht neu.
Doch auch hier: Die beiden linken Parteien verlieren zusammen an Wählenden-Stärke!
2022 zeigt zumindest ein neu Phänomen. Denn die bisherige Deutung, dass die linken Wählenden wandern, aber unverändert linke Parteien bevorzugen, geht nicht mehr auf! Es braucht neue Interpretationsmuster: Entweder lässt die Mobilisierungskraft der linken Parteien nach, oder aber es wechseln bisherige Linkswählenden in Richtung Zentrum, vor allem zur GLP.

Mögliche Gründe für die Veränderungen
Saubere Wahlanalysen auf kantonaler Ebene gibt es bis auf den Aargau keine. Und die gute Panaschierstatistik der Stadt Zürich taugt nicht für eine nationale Gesamtschau. Man kann die Frage deshalb nicht empirisch gesichert beantworten, ist vielmehr auf allgemeine Ueberlegungen angewiesen.
Meines Erachtens sprechen diese gegen die Demobilisierungsthese. Aktuell ist die Beteiligung gerade bei Abstimmungen hoch, und es resultieren sogar Mitte/Links-Mehrheiten in Sachfragen. Nur überträgt sich das kaum auf Wahlen, namentlich nicht in den Kantonen.
Was da herrscht, ist der Trend ins Zentrum, und zwar links wie rechts.
Bei Grünwählenden ist die Begründung einfacher: Man verfolgt weiterhin das Ziel einer gestärkten Klimapolitik, macht das aber auf verschiedenen Wegen. Das Wahlbarometer vom Herbst 2021 nennt hierfür ein wichtiges Motiv: Geändert hat sich bei einem Teil der Wählenden nicht das politische Umfeld, aber die persönlichen Vorlieben haben sich seit der Nationalratswahlen 2019 entwickelt.
Bei der SP ist diese Analysen weniger einfach, aber möglich. Denn der Wechsel von Wählenden hin zur GLP ist war im SP-Denken verpönt, kommt aber insbesondere bei jüngeren Menschen vor. Da gibt es weniger gefestigte Parteibindungen, aber Präferenzen aufgrund der aktuellen Lage.
Sachbezogen reicht das denkbare Spektrum von der Umwelt- bis zum Europa-Thema. Dort wo grosse Baustellen herrschen, wirkt die SP in ihrer Mitverantwortung für die meist bürgerliche Politik der Behörden gefangen. Ihr gelingt es nicht, ihren Anteil an der Regierungsarbeit sichtbar zu machen. Die Pandemiezeit könnte hie die Wende gebracht haben.
Oder es geht den Wechselwählenden um eine übergeordnete Weltanschauung zwischen staatlichen und marktwirtschaftlichen Lösungen. Linksliberale sehen das weniger polar als SozialistInnen. Schliesslich kann es auch um die Art der Politik zwischen Pragmatismus und Radikalität gehen. Die SP politisiert wie bei der Frontex-Entscheidung entfesselter, ohne es populär machen zu können. Die GLP bemüht sich dagegen um konkrete Lösungsschritte, ohne weiter Geschirr zu verschlagen.
Das ist vielleicht auch typisch für den Moment. Denn die Wahlforschung weiss, dass sich Trends bei nationalen Wahlen 12 bis 18 Monate als Echoeffekte fortsetzen. Dann kommt es in aller Regel zur Formierung eines neuen Trends, der sich aus der Aktualität ergibt.

Die Zeit drängt. vor allem für die SP
Vorschnell sollte man sich nicht für eine der denkbaren Antwort entscheiden. Sie aber gar nicht finden wollen, ist ebenso falsch. Noch bleibt der SP, aber auch der Linke etwas Zeit bis zu den Wahlen 2023. Aber die Frist dazu wird laufend kürzer. Und die Herausforderungen werden nicht geringer. Und die Bundesratswahlen sind der strategische Angelpunkt.
Denn eines zeigen die Veränderungen in den aktuellen kantonalen Wahlen: Vom (indirekten) Linksrutsch der helvetischen Politik durch das Klimathema 2019 ist 2022 nichts mehr übrig. Der heutige Haupttrend bei Wahlen geht zu einer zentrierten, grüne Politik.

Claude Longchamp

PS: Wer sich freut, es gäbe jetzt eine grosse Wende nach rechts, könnte sich enttäuschen. Denn auch das bürgerliche Lager verliert bei den kantonalen Parlamentswahlen. Ihr aufsummiertes Minus liegt aktuell bei 75 Sitzen, verteilt auf SVP, FDP und Mitte. Sichere Gewinne gibt es momentan nur zwischen den Polen.