Hohe Beteiligung, aber kein Rekord

Rekordhohe Stimmbeteiligung? Das orakelt der Tagesanzeiger heute. Meine Einordnung.


Teilnahmebereitschaft am 7.11.21 gemäss SRG-Umfrage

Höchsten Stimmungsbeteiligungen überhaupt

Seit Einführung des Frauenstimmrechts 1971 ab es viermal eine Beteiligung über 60 Prozent. Das war 1992 beim EWR Beitritt der Fall, 1974 bei der dritten Ueberfremdungsinitiative, 1989 bei der Armeeabschaffung und jungst, 2016, bei der Ausschaffungsinitiative. Nahe dran war man 2021, als die Stimmbürgerschaft in einem grossen Paket unter anderem über das CO2-Gesetz zu befinden hatten. Und auch 2020 als ebenfalls in einem Gesamtpaket über die Kampfjet-Beschaffung entschieden wurde.

Aktuelle Befunde
Wie hoch genau die Beteiligung am kommenden Abstimmungswochenende sein wird, weiss letztlich niemand. Doch gibt es mehr oder weniger brauchbare Schätzungen. Sie beziehen sich die Gemeinden, die vorzeitig auszählen und die Zwischenstände auch herausgeben:
• In der Stadt St. Gallen dürfte die Endbeteiligung über 70 Prozent liegen.
• In der Stadt Bern und im Kanton Basel-Stadt dürfte sie über 60 Prozent sein.
• In der Stadt Rorschach kann man mit einem Wert von 55 bis 60 Prozent rechnen.
• Im Kanton Genf wird sie wohl auf etwas mehr als 50 Prozent kommen.
Tief ist der Zwischenstand in der Stadt Zürich. Hier kam es allerdings schon mehr als einmal vor, dass sie am Schluss sprunghaft anstieg. Wenig Gesichertes liegt zur Stadt Lausanne vor. Auch da ist sie vergleichsweise tief; sie liegt aber über dem üblichen Wert.
Vorsichtig gesprochen heisst das: Die Beteiligung am 28. November wird überdurchschnittlich sein; eine Super-Mobilisierung wie beim EWR wird es nicht geben. Wahrscheinlicher ist ein Teilnahmewert wie beim CO2-Gesetz (und der ersten Covid19-Abstimmung), also um die 60 Prozent.
Gut denkbar ist es allerdings, dass es in der Beteiligung einen Ost/West-Unterschied gibt, mit der etwas höheren Beteiligung in der Ostschweiz.

(A)Symmetrische Mobilisierung?
Wird die Zusatzbeteiligung das Endergebnis beeinflussen? Da gibt es verschiedene Erfahrungstatsachen:
Individuell betrachtet gilt, dass sich Personen mit einer geringen Teilnahmewahrscheinlichkeit besser aus der Opposition heraus mobilisieren lassen. Das würde das Nein zum Covid19-Gesetz befördern, und das Ja zu den beiden Volksinitiativen stärken. Diese Auffassung vertritt Politologe Fabio Wasserfallen von der Uni Bern, der die Abstimmungsumfrage für Tamedia durchführt.
Den Gegenpol bildet sein Kollege Silvano Moeckli, vormals Uni St. Gallen. Er geht davon aus, dass sich die Meinungen gerade beim Covid19-Gesetz früh gebildet waren und beide Lager vergleichbar mobilisiert seien. Auch Michael Hermann, der das Corona-Monitoring macht, stimmt dem zu.
Lukas Golder von gfs.bern sagte es anders, meint es aber das Gleiche. Für ihn müssten die Unterschiede der beiden Lager in der Mobilisierung sehr gross sein, um das Endergebnis relevant beeinflussen zu können.
Nur die Vorbefragung für die SRG, realisiert vom Forschungsinstitut gfs.bern, liefert Befunde zur Beteiligung. Demnach steigen die Teilnahmeabsichten an. Sie erreichte man mittleren Befragungstag der letzten Erhebung 51 %. Das war am 7. November, also 21 Tage vor dem Abstimmungssonntag. Extrapoliert man den Trend, kommt man auf eine Endteilnahme von mindestens 55 Prozent.
Ein Befund lässt aufhorchen: Er betrifft das Vertrauen in den Bundesrat. Demnach war mindestens 3 Wochen vor dem Endtermin die Beteiligungsbereitschaft der Vertrauenden wie der Misstrauen gleich hoch. Abgeleitet werden kann dies aus der gegenwärtig hohen Polarisierung. Sie hat zur Folge, dass sich beide Seiten vermehrt beteiligen wollen.
Gesellschaftlich gesprochen wirkt sich die Polarisierung beispielsweise auf das Alter aus. Da zeigt sich gemäss beiden Umfragen, dass die Zustimmung zum Covid-Gesetz bei den Rentnerinnen einiges höher ist als bei den jungen Teilnehmenden. Und auch die Beteiligungsabsicht ist bei den älteren Menschen deutlich höher.

Bilanz
Was bleibt? Wie die Beteiligung ausfällt, ist wenig Gesichertes bekannt. Immerhin:
Erstens, die Beteiligung am Wochenende dürfte überdurchschnittlich sein, aber keinen Rekordwert erreichen.
Zweitens, die Grosswetterlage wird durch die Pandemie bestimmt, und sie polarisiert. Vertrauen resp. Misstrauen in Institutionen sind die zentralen Stichworte.
Drittens, wohl unzutreffend ist die Vorstellung, dass die Wählerschaft einseitig mobilisiert wird. Die Kampagne der Nein-Seite dürfte effektiver sein. Aber aktuelle Grosswetterlage spricht dafür, dass ihre Sorglosigkeit im Umgang mit der Pandemie nicht unwidersprochen bleibt.