Worüber wir am 25. September 2016 abstimmen (1): die Volksinitiative “Grüne Wirtschaft” in der politikwissenchaftlichen Analyse

67 Prozent dafür, 6 Prozent dagegen. Das verkündeten am Wochenende die Initianten der “Grünen Wirtschaft” aufgrund einer Online-Umfrage. Aus meiner Sicht ist es dennoch nicht mehr als eine potenziell mehrheitsfähige Initiative – ein Volksbegehren, bei dem die Zustimmungsmehrheit nicht gesichert ist.

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Die generelle These des Dispositionsansatzes lautet: Abstimmungsergebnisse stehen nicht ein für allem Male fest. Vielmehr entwickelt sie sich in einem politischen Klima, aufgrund der Positionen der meinungsbildenden Kräfte, dem Abstimmungskampf und den Alltagserfahrungen der Bürgerinnen. Im Normalfall kommt es im Abstimmungskampf zu einer Anpassung der Mehrheit der Stimmenden an die der Behörden.
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Die Vorlage
Die Volksinitiative “Für eine nachhaltige und ressourcenfreie Wirtschaft (Grüne Wirtschaft)” verlangt, dass Bund, Kantone und Gemeinden eine nachhaltige und ressourceneffiziente Wirtschaft anstreben, indem sie für geschlossene Stoffkreisläufe sorgen. Hierfür legt der Bund mittel- und langfristige Ziele fest. Er verfasst zu Beginn jeder Legislatur einen Bericht über den Stand der Zielerreichung. Falls die Ziele nicht erreicht werden, ergreifen Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Zuständigkeiten zusätzliche Massnahmen oder verstärken die bestehenden. Der Bund kann namentlich Forschung, Innovation und Vermarktung von Gütern und Dienstleistungen sowie Synergien zwischen wirtschaftlichen Aktivitäten fördern, Vorschriften für Produktionsprozesse, Produkte und Abfälle sowie für das öffentliche Beschaffungswesen erlassen. Er kann Steuer- oder Budgetmassnahmen ergreifen, insbesondere kann er positive steuerliche Anreize schaffen und eine zweckgebundene oder haushaltsneutrale Lenkungssteuer auf den Verbrauch natürlicher Ressourcen erheben. In den Übergangsbestimmungen steht, dass der “ökologische Fussabdruck” bis ins Jahr 20150 so reduziert werden muss, dass er auf die Weltbevölkerung hochgerechnet eine Erde nicht überschreitet.
Präsidiert wird das Initiativkomitee von Nationalrätin Adèle Thorens und Nationalrat Bastien Girod.

Das politische Klima

Das Bundesamt für Umwelt publiziert anfangs 2015 eine umfangreiche Abklärung auf Befragungsbasis zur grünen Wirtschaft. Diese kommt zum Schluss, dass das Bewusstsein für die Umwelt- und Klimapolitik hoch ist und das Wissen recht ausgeprägt sei. Massnahmen würden am ehesten vom Staat, von der Wirtschaft und den Individuen gefordert.
Gemäss Sorgenbarometer 2015 steht Umweltschutz in der Prioritäten-Liste der handlungsbedürftigen Probleme an 10. Stelle. 15 Prozent sehen hier eine Priorität. Analoges gilt für die Dringlichkeit von Massnahmen.
die Initianten publizierten im Juni 2016 eine Online-Umfrage. Demnach waren 67 Prozent für das Anliegen, bloss 6 Prozent dagegen. 27 Prozent hatten keine Meinung. Gefestigte Stimmabsichten hatten aber nur 31 Prozent der Teilnehmenden. Keine Angaben wurden zur gegenwärtigen Beteiligungsabsicht gemacht.
Wir schliessen daraus, dass die Prädispositionen zur Initiative mehrheitlich vorteilhaft sind, die konkrete Meinungsbildung zur Vorlage aber wenig fortgeschritten ist, und Veränderungsmöglichkeiten in den Stimmabsichten in erheblichem Masse von den Kampagnen im Abstimmungskampf beeinflusst werden können.
Typologisch sprechen wir von einer potenziellen Mehrheitsinitiative mit offenem Ausgang.

Die parlamentarische Beratung
Bundesrat und Parlament lehnen die Volksinitiative ab. Der Bundesrat stellte ihr ursprünglich einen Gegenvorschlag gegenüber, denn er befürwortete das Ziel, nicht aber die Massnahmen. National- und Ständerat verzichteten aber darauf, das Umweltschutzgesetz entsprechend anzupassen.
Im Nationalrat scheiterte die Vorlage mit 128 zu 62 Stimmen. Abgelehnt wurde sie von der SVP, der FDP, der CVP und der BDP. Mehrheitlich dafür votierten die Volksvertreter von SP, GPS, GLP und EVP.
Im Ständerat wurde das Geschäft mit 31:13 Stimmen abgelehnt. Bisher haben die Parteien wie folgt Stellung bezogen:
-Befürwortende Parteien GPS, EVP (SP, GLP)
-Ablehnende Parteien (SVP, FDP, BDP, CVP)
Bemerkung: Angaben in Klammern beziehen sich auf die Mehrheitsentscheidungen im Parlament und sind keine direkten Parteiparolen.
Quelle: www.politnetz.ch, Parteienwebseiten, Stand: Ende Juni 2016
Vorherrschend ist damit die Polarisierung zwischen rot-grünen Parteien auf der Ja- und den bürgerlichen Parteien auf der Nein-Seite. Zentral ist damit der Links/Rechts-Konflikt.

Typologie der Meinungsbildung

Potenziell mehrheitsfähige Anliegen müssen ebenso nicht zwangsläufig angenommen werden, denn ein Meinungswandel im Abstimmungskampf entspricht der Regel. Sie kennen einen Startvorteil, der sich in einem höheren Ja- denn Nein-Anteil unter den Vorentschiedenen ausdrückt.
Von einem ausserordentlichen Problemdruck kann aber nicht die Rede sein, weshalb wir davon ausgehen, dass sich die anfänglichen Zustimmungswerte nicht halten können.
Noch weitgehend ausstehend ist die Phase der Problematisierung der Volksinitiative für eine Grüne Wirtschaft durch die Gegner einer Volksinitiative. Zu erwarten ist, dass mit dieser die Ablehnung vorwiegend zu Lasten der Unschlüssigen ansteigt. Denkbar ist auch, dass es zu einem Meinungswandel vom Ja ins Nein kommt. Schliesslich kann der Nein-Anteil auch durch eine Beteiligungszunahme steigen.
Hauptgrund hierfür ist wie bei den meisten Initiativen, dass eine Schwachstellen-Kommunikation möglich ist. Zentraler Angriffspunkt der Gegnerschaft dürfte dabei die Bürokratie sein, die durch die Initiative ausgelöst würde.
Aus befürwortender Sicht können grundlegende Prinzipien wie die Nachhaltigkeit im Umgang mit natürlichen Ressourcen kommuniziert werden, die durchaus mehrheitsfähige Anliegen repräsentieren.

Bisheriger Abstimmungskampf
Von einem eigentlichen Abstimmungskampf kann bisher nicht gesprochen werden. Vielmehr befindet sich die öffentliche Auseinandersetzung in einer Art Vorabstimmungskampf. Dabei werden zentrale Botschaften getestet resp. ist man bestrebt, ein Umfeld zu schaffen, das der eigenen Position zu Hilfe kommt.
Zu den typischen Angriffen auf die Initiative gehört ihre Rahmung als Zwang, speziell grüner Zwang. Die Förderung von Nachhaltigkeit wird gerade aus liberaler Sicht nicht als Staatsaufgabe gesehen. In diese Erzählung passt, dass die Volksinitiative auch als “Grüne Umerziehung” apostrophiert wird. Zentrale Botschaften kreisen um die Bevormundung des Bürgers, die Kosten der Realisierung, der planwirtschaftliche Ansatz und das alltägliche Diktat.
Mit Blick auf die Abstimmung hat sich das Initiativkomitee erweitert. Unterstützung findet es bei Swisscleantech, dem Global Footprint Network und Pusch, einem Netz für Natur. Im Unterstützungskomitee figurieren auch die SP, die GLP sowie diverse Jungorganisationen der Parteien. Sichtbar aktiv geworden ist man hier bisher kaum.

Erste Bilanz
Wie bei allen Volksinitiativen, hängt der Ausgang der Volksabstimmung massgeblich von der Meinungsbildung vom Abstimmungskampf ab. Zu Beginn ergibt sich ein Fenster zugunsten der Initianten. Danach geht die Themenführung an die Gegnerschaft über. Diese kann mit einer Schwachstellen-Kommunikation punkten.
Im Schnitt sinkt die Zustimmungsrat um 12 Prozentpunkte. Bei geringem Problemdruck und geringer Problematisierung eines Anliegens im Voraus können Nein-Kampagnen durchaus mehr erreichen.
Den Ausgang dieser Volksentscheidung taxieren wir grundsätzlich als offen. Mit einem negativen Meinungstrend ist in den Stimmabsichten aber zu rechnen. Das Mass hängt von den Umständen im Abstimmungskampf ab.

Claude Longchamp