Brexit-Entscheidung: mehr Lebensqualität im Globalisierungskonflikt

    Durch die Globalisierung wird namentlich die englische Gesellschaft durch zwei Geschwindigkeiten in der kosmopolitischen resp. provinziellen Gegenden geprägt. Politisch ist namentliche dieser Teil des Königsreich polarisiert worden, basieren auf einer gesellschaftlichen Spaltung. Vor dem Hintergrund einer skeptischer gewordenen Oeffentlichkeit bestimmten denn auch Fragen der Lebensqualität das Votum zum Austritt aus der EU.

    51,9 zu 48,1 für “leave”. Das stand in den frühen Morgenstunden des 24. Juni 2016 fest. In Windeseile machte die Runde, Grossbritannien habe entschieden habe, die Europäische Union zu verlassen. Seither sind einige Analysen erschienen, welche Ursachen und Folgen klärten. Was ich dazu greifen konnte, habe ich gelesen und mir selber einen Reim gemacht.

    Analyserahmen
    Die Entscheidung der Briten steht für einen typischen Globalisierungskonflikt. Am treffendsten analysiert haben das meines Erachtens die beiden Politikwissenschafter Will Jennings und Gery Stoker von der University of Southampton. Sie sprechen ganz bewusst nur von England, das ein Leben in zwei Geschwindigkeiten kenne – das der “cosmopolitan areas” resp. der “provincial areas”. Erste finden sich in wachsenden Städten, zeigten eine globale Ausrichtung, seien europäisch und zuwanderungs-freundlich. Ihre Grundhaltung sei sozialliberal. Das Gegenstück finde sich in Küstenstädten mit leichter Industrie, die Mentalität sei binnenorientiert, die Menschen tickten sozialkonservativ und wehrten sich gegen die EU und die Immigration.

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    Verschiedene Erstanalysen mittels Aggregatsdaten bestärken die Theorie der beiden Politanalysten. Sie zeigen zuerst verschiedene kulturelle Reaktionen auf die Austrittsfrage, einerseits in Schottland und Nordirland, anderseits in England und Wales. Die vermutete Polarisierung findet sich überall, aber nicht überall gleich stark. Am ausgeprägtesten sei sie eben in England. Und genau das sei für den Ausgang der Abstimmung entscheidend gewesen.

    Befunde
    Oekonomisch gesprochen war das Ja zum Austritt in Zählkreisen mit geringem Einkommen am höchsten. Gesellschaftlich fand es sich dort vermehrt, wo mehr Menschen mit tiefem Bildungsstatus leben resp. vermehrt Menschen ohne Arbeit sind. Aus sozio-kultureller Perspektive relevant ist, dass der Austritt verstärk Zuspruch fand, wenn es mehr Menschen hatte, die am Ort geboren wurden oder ohne Pass und damit Ausreisemöglichkeiten lebten.
    Das heisst noch nicht, dass es die tiefsten Einkommensschichten, die am schlechtesten ausgebildet resp. autochtonen Menschen waren, am meisten gegen die EU stimmten. Es heisst nur, dass dort, wo sie gemehrt vorkommen, es auch mehr Nein-Stimmen gab.

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    Umfragen geben hier eine präzisere Antwort. Sie legen durchwegs eine Priorität auf der politischen Spaltung nahe. Für Verbleib stimmten die mehrheitlich die Wähler der Schottlandpartei, der Grünen, der Liberalen und der Sozialdemokraten. Ganz anders eingestellt waren die die Wählenden der UKIP, zu 96% für den Austritt, ergänzt durch jene der regierenden Konservativen, zu 58 Prozent für das Verlassen der EU.
    Dahinter ging es in der Tat um nationale Selbstverständnisse. Wer sich selber als Brite sieht, war zu über 60 Prozent für den Verbleib. Dagegen votierten Menschen, die sich ausdrücklich als Engländer bezeichnen, zu fast 80 Prozent für den Austritt.
    Schliesslich waren die Lebensperspektiven massgeblich. Befürworter des remains gaben in Umfragen an, Grossbritannien gehe es heute besser als vor 30 Jahren. Genau dem widersprachen die Anhänger des Austritts ausdrücklich. Aehnlich wirkten sich Zukunftsperspektiven aus. Insbesondere wer für leave stimmte, glaubt vermehrt, das Leben der Kinder in Grossbritannien werde schlechter ausfallen werde als das ihrer Eltern.

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    Einiges davon war schon vor der Abstimmung bekannt, anderes wurde durch die Kampagnen zugespitzt. Medien wie der Daily Express, der Daily Mail und allen voran der Sun machten sich für den Austritt stark. Ihre Leser waren schon ein Jahr vor der Abstimmung zu 40 bis 50 Prozent auf der Austrittseite, Tendenz steigend. Die Leserschaft des Guardian, des Independent und der Financial Times bildeten das Gegenstück. Die Stimmbeteiligung kann auch als Folge der medialen Polarisierung gesehen werden. Insbesondere mobilisiert waren am Schluss auch Menschen ohne oder geringem politischen Interesse. Und sie votierten zu 58 Prozent für den Austritt.
    Inhaltsanalysen der Kampagnen legen bekannte Argumentationsketten nahe. Den Protagonisten des Austritts ging es in erster Linie um die Zuwanderung; beschäftigt hatte sie auch die Souveränität, die Kontrolle der eigenen Gesetze und der Grenzen. Ihre Widersacher sprachen vor allem von der Wirtschaft, rechtlichen Verpflichtungen, Europa und der Zukunft. Das widerspiegelt sich auch in Motivanalysen. Die Einwanderung war mit Abstand das wichtigste Motiv für den Austritt, die wirtschaftliche Sicherheit sprach am klarsten für den Verbleib. Argumentativ entschieden sich am meisten Stimmende aufgrund der erwarteten Lebensqualität im Vereinigten Königreich. Das sprach knapp für den Austritt. Jobs, wirtschaftliche Sicherheit und Oekonomie als Ganzes wogen demgegenüber verstärkt für remain.

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    Bilanziert man das alles, waren es die unteren Bildungs- und Einkommensschichten, die sich auf die Seite der Austrittsbefürworter stellten, derweil die oberen für den Verbleib waren. Altersmässig waren die jüngeren mehrheitlich auf dem Pro-europäischen Kurs, die älteren auf der Kontra-Linie.
    Wenig bekannt ist über die politische und gesellschaftliche Zusammensetzung der Stimmenden. Letztlich machte nur die Zusammensetzung nach Alter die Medienrunde – und das aufgrund bloss einer unveröffentlichten Umfrage vor der Abstimmung, die nachträglich selektiv ohne grosse methodische Transparenz zugänglich gemacht wurde.

    Politische Kultur im Wandel

    Politkulturelle Analysen stufen Grossbritannien seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts als Königreich mit einer ausgeprägten politischen Bürgerkultur ein, die durch die Geschichte geprägt sei. Stichworte sind der Euroskeptizismus und der Regionalismus. Neu macht sich auch ein postmodernes Misstrauen breit, verbunden mit Skandalisierungen der Politik und populistische Protestparteien. Namentlich ab 2014 sei die insgesamt stabile Pro-Mehrheit für den EU-Verbleib volatil geworden, mit Schwankungen aufgrund von Ereignissen. Debatten um Leaderfiguren als Zeugen des Zeitgeistes seien gerade in der Europa-Frage jenseits von Sachargumenten typisch geworden.
    Systematische Auswertungen von EU-Beitrittsabstimmungen legen zudem auch ausserhalb der Vereinigten Königreiches nahe, dass drei Sachen typisch seien: die Dauer der Regierung, der Gebrauch von Reizbegriffen in Kampagnen und eine höhe Beteiligung lassen die anti-europäischen Kräfte anwachsen. Camerons Kabinette bildeten zusammen die zweitlängste Regierungszeit nach dem zweiten Weltkrieg, die im Abstimmungskampf vor allem von der Boulevardpresse hochstilisierte Zuwanderungsfrage sind demnach typische Rahmenbedingung für erfolgreiche anti-europäische Volksabstimmungen. Diese wurde durch die Beteiligungshöhe noch befördert.
    Trotzdem, bis am Schluss blieb die Frage offen, zu was sich die Briten beim Brexit entscheiden würden. Nach dem Attentat auf Jo Cox glaubten viele, das Leave-Lager sei in die Defensive geraten. Unschlüssige würden sich jetzt für den Status Quo aussprechen.
    Am klarsten diese Meinung beförderten die beliebten Wettbüros, die eine Sicherheit von beinahe 80 Prozent suggerierten, es komme zu einem Nein zum Austritt – der typischen Hoffnung der meinungsbildenden Eliten in Grossbritannien.

    Claude Longchamp